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Donnerstag, 30. April

Nicht einmal mehr der Bahnhof sah noch so aus wie damals. Leo Kara stand im Hotel »Vaakuna« am Fenster und dachte darüber nach, ob er den Seitenflügel des Bahnhofsgebäudes neben der Post oder das Dach über den Bahnsteigen früher schon gesehen hatte. In der siebten Etage des »Vaakuna« bot sich eine gute Aussicht auf das Zentrum von Helsinki; es hatte sich ziemlich verändert, seit er vor zwanzig Jahren nach England gezogen war. Verändert hatten sich auch die Menschen, die heutige Jugend wirkte aufgeschlossener und weltoffener als ihre Eltern. Er wusste nicht, zu welcher der beiden Generationen er selbst gehörte. Brite war er jedenfalls nicht geworden, obwohl er jahrelang in London gelebt hatte. Die Muttersprache und die jährlichen Besuche in Finnland sorgten für eine feste Bindung zum Heimatland.

Seine ersten vier Jahre in England verliefen einigermaßen gut, aber in der Zeit schlug er noch keine Wurzeln in der neuen Heimat. Und der Oktober 1989 änderte schließlich alles. Danach hatte er sich nur sehr selten in England oder Finnland und überhaupt in seinem Leben wohl gefühlt. Im Anschluss an die Jahre der Quälerei in Winchester hatte er wie ein Vagabund mal in diesem und mal in jenem Land gelebt und oft die Wohnung gewechselt. Sein Vormund, Onkel Lionel, hatte, ohne ihn zu fragen, 1991 die Londoner Wohnung seiner Eltern verkauft, und das war auch gut so. Er hatte nie Interesse daran gehabt, den Erinnerungen in diesen Räumen zu begegnen. Manchmal interessierte ihn überhaupt nichts.

Kara warf einen Blick auf die Uhr, es war kurz nach sieben, er beschloss, sich anzuziehen. Das würde ein hektischer Tag, er wollte sowohl Fennica als auch der Zentrale der Kriminalpolizei und der SUPO einen Besuch abstatten.

Für sein Frühstück mit Kaffee und Roggenbrot im Panoramarestaurant des »Vaakuna« in der neunten Etage brauchte Kara nur eine Viertelstunde, dann bestieg er in dem Gedränge von Menschen, Bussen und Autos auf dem Platz neben dem Bahnhof, dem Elielinaukio, ein Taxi.

»Aha, zu Fennica soll’s gehen, derzeit erfährt man ja an jeder Ecke, in jedem Radiosender, in jeder Zeitung und auf allen möglichen Enthüllungskanälen was Neues über das Unternehmen. Anscheinend haben die Jungs ihr eigenes Geld und das der Firma ganz schön durcheinandergebracht. Aber so ist das nun mal, Spielertypen geht das Geld nie aus, und wenn doch, dann nehmen sie eben das von anderen. Nach dem, was man im Fernsehen so sieht, ist der Direktor von Fennica auch nicht grade eine große Leuchte, höchstens eine 15-Watt-Birne«, erzählte der grauhaarige Fahrer mit Lederjacke und Sonnenbrille, um ein Gespräch in Gang zu bringen.

»Ich arbeite im Ausland, da kann man die Geschehnisse zu Hause nur schlecht verfolgen«, erwiderte Kara, obwohl er täglich die »Helsingin Sanomat« las und sich im Internet oft die finnischen Nachrichten und Sendungen zu aktuellen Themen anschaute.

»Allmählich machen sich diese ausländischen Sitten auch bei uns breit, früher hat man hier niemanden bestochen. Andererseits, wer weiß, vielleicht hat sich anno dazumal bloß keiner getraut, drüber zu reden, weil ja unsere ›Hausrussen‹ in der Botschaft des Großen Bruders schon große Ohren bekamen, wenn irgendwo jemand auch nur gehustet hat.«

Der Taxifahrer wartete vergeblich auf eine Antwort des Fahrgastes.

»Ein astreines Wetter ist das wieder im April, wenn’s nach mir ginge, sollte es lieber im Sommer heiß sein. Letztes und vorletztes Jahr war’s im Mai warm und dann im Sommer kalt.«

Der Kunde gab immer noch keinen Kommentar ab, also kam der Fahrer zu dem Schluss, dass der Mann anscheinend nicht in Plauderstimmung war. Er schaltete das Radio ein.

Kara betrachtete die Gegend, dieser Teil von Ruoholahti stand für das neue Helsinki. Als das alles gebaut wurde, lebte er schon in England. Finnland war in rasantem Tempo reicher und urbaner geworden. Der Fahrer bog in die Itämerenkatu ein, und Kara versuchte auszumachen, wo hier einst das Gebäude des »Lepakko«-Klubs gestanden hatte. In den achtziger Jahren hatten die Schüler der Unterstufe wilde Geschichten über die Partys im »Lepakko« gehört und ihre Eltern offensichtlich auch. Bei ihm zu Hause jedenfalls hatte man den Klub als Lasterhöhle und Drogennest gebrandmarkt, obwohl er einer der ganz wenigen Orte in Helsinki war, wo Nachwuchsmusiker üben und ihre ersten Konzerte geben konnten und junge Leute nach ihren eigenen Vorstellungen zusammen sein durften.

Das moderne Bürogebäude der Fennica AG stand in Ruoholahti am Tammasaarenranta direkt neben der Kabelfabrik. Kara meldete sich am Empfang und setzte sich im Foyer auf ein Ledersofa. Es wäre ihm lieber gewesen, erst zur Kriminalpolizei und zur SUPO zu gehen, aber dem Geschäftsführenden Direktor von Fennica hatte nur ein Termin um acht Uhr morgens gepasst.

»Leo Kara?«, fragte eine lebhafte Frau. Sie stellte sich als Sekretärin des Direktors vor und führte ihn in einen Raum im obersten Geschoss. Der Ausblick auf die Bucht Lauttasaarensalmi war toll, und das Arbeitszimmer des Direktors erinnerte an Bilder aus einer Zeitschrift für Innenarchitektur.

Veli-Pekka Valo sah erholungsbedürftig aus. Offensichtlich nahm er Aufputschmittel, um die Müdigkeit zu unterdrücken, die Pupillen des kleinen, glatzköpfigen Manns waren stecknadelkopfgroß. Kara gab dem Direktor die Hand, setzte sich auf ein rotes Sofa und öffnete seine uralte Aktentasche.

»Wie du sicher verstehen wirst, erleben wir hier bei Fennica stürmische Zeiten. Auch ohne dieses ständige Gerede von Bestechung gäbe es mehr als genug Arbeit. Fennica ist schließlich nach finnischen Maßstäben ein ziemlich großes Unternehmen, unser Umsatz liegt bei über zwei Milliarden Euro. Ich habe für dich nur deswegen ein paar Minuten in meinem Terminkalender freigeschaufelt, weil du nicht über die Ermittlungen wegen Bestechung, sondern über Globeguide reden willst. Das ist unsere Zukunft, dieses Projekt darf auf gar keinen Fall mit diesen Verdächtigungen in einen Topf geworfen werden. In Hinsicht auf Globeguide ist Fennica selbst das Opfer eines Verbrechens, die einzigen voll funktionsfähigen Prototypen von Globeguide sind nämlich verschwunden. Wir haben das schon vor über einer Woche bemerkt, aber gehofft, sie wieder aufzutreiben … irgendein menschliches Versagen … die können ja wohl nicht einfach so verschwinden … und wir wollen nicht schon wieder von den Medien in die Mangel genommen werden … Auch die Leute von der Zentrale der Kriminalpolizei waren gestern hier und haben nach Globeguide gefragt, eines der Systeme wurde angeblich irgendwo zerstört aufgefunden … mehr haben sie nicht gesagt. Ob ich Ruslan Sokolow kenne, den Witwenmacher, wollten sie wissen, du lieber Himmel, das ist doch einer der übelsten Halunken der Welt, ein Waffenhändler. In welcher Eigenschaft bist du eigentlich hier, das Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung der UN hat ja in Finnland wohl kaum Polizeivollmachten …« Valo redete ohne Punkt und Komma und fuhrwerkte mit den Händen herum wie ein Jongleur.

»Das ist ein vollkommen inoffizieller Besuch«, antwortete Kara betont langsam in der Hoffnung, dass auch Valo die Geschwindigkeit drosselte. »Hatten Sie gesagt, dass von Globeguide nur ein Prototyp existiert?«

»Prototypen, fünf Stück. Sie wurden vor zwei Wochen nach Noordwijk in Holland geschickt, ins Weltraumforschungs- und Technologiezentrum der ESA, der Europäischen Weltraumorganisation. Ihre Funktion und Stabilität sollten unter Weltraumbedingungen getestet werden, wir können uns solche Anlagen wie im ESTEC nicht leisten.«

»Was ist an Globeguide so … zukunftsweisend?«, fragte Kara.

Valo ereiferte sich immer mehr. »Globeguide wendet völlig neuartige Algorithmen an, das System ist zu absolut präzisen XYZ-Messungen überall auf der Erde in der Lage, es liefert eine hypergenaue Referenzzeit sowie dreidimensionale Geschwindigkeitsdaten, und keinerlei Störsender können ihm etwas anhaben. Hast du übrigens eine Ingenieurausbildung?«

Allmählich war Kara von Valos Redeschwall frustriert, und einem großen Teil der Ausführungen konnte er nicht folgen. »Na, ein Ingenieur bin ich wirklich nicht. Und ich interessiere mich auch kein bisschen für die technischen Merkmale von Globeguide. Ich will wissen, was mit diesen Prototypen passiert ist.«

»Ich auch«, pflichtete ihm Valo erbost bei. »Verdammt noch mal, Fennica ist ein Konzern der Rüstungsindustrie, und da untersucht die Polizei sowohl in Finnland als auch in Kroatien den Verkauf gepanzerter Mannschaftstransporter, und jetzt wurden auch noch die Prototypen unseres Spitzenprodukts der Zukunft, an dessen Entwicklung die Abteilung für Satellitennavigation jahrelang gearbeitet hat, gestohlen. Was glaubst du, bin ich ein glücklicher Direktor?«

Jetzt mussten Ergebnisse her, bevor Valo ihn rauswarf, beschloss Kara. »Habt ihr Globeguide allein oder in Zusammenarbeit mit jemand anders entwickelt? Kannte irgendeine andere Firma oder … Seite die Details von Globeguide? Wie hat es mit Globeguide angefangen, war …«

»Ich arbeite seit genau einem Jahr hier. Und diese zwölf Monate sind übrigens, wenn du es genau wissen willst, die beschissensten in meinem Leben. Das Globeguide-Projekt wurde schon vor Jahren etabliert, und über diese Zeit bin ich nicht im Bilde. Der ehemalige Geschäftsführende Direktor Otto Mettälä kann Fragen beantworten, die diesen Zeitraum betreffen, und die alten Verträge hat die damalige Chefjuristin Kati Soisalo ausgearbeitet.«

Kara hätte Valo am liebsten angenehme Jahre im Gefängnis von Sörnäinen gewünscht, aber als er seine Sachen in die Tasche packte, fiel ihm noch eine Frage ein. »Sind Sie bei dienstlichen Dingen in der letzten Zeit zufällig auf den Namen Ewan Taylor gestoßen?«

»Nein«, antwortete Valo, ohne nachzudenken, öffnete die Tür und wies Kara den Weg zu den Aufzügen.

 

»Hoffentlich verläuft das nächste Treffen ein wenig entspannter«, dachte Leo Kara im Taxi auf der Tuusulantie. Als sie Siltamäki passierten, wurde ihm klar, dass Tapanila nur ein paar Kilometer entfernt war. Seit dem Umzug nach London war er kein einziges Mal da gewesen, wo er seine Kindheit verbracht hatte. Wer mochte wohl jetzt in dem Holzhaus in der Timonkuja wohnen? Ob auf dem dämmrigen Dachboden immer noch die »Colt«-Schachtel und der Playboy vom April 1982 mit den Bildern Mariel Hemingways versteckt waren?

Das Hauptquartier der KRP, der Zentrale der Kriminalpolizei, in der Jokiniemenkuja in Vantaas Stadtteil Tikkurila war nach finnischen Maßstäben riesengroß. Vor dem Gebäude erhoben sich Betonpoller, und sein Eingang schien einem Panzer widerstehen zu können. Es dauerte eine Weile, bis er die Sicherheitskontrolle hinter sich gebracht hatte. Zu seiner Überraschung erwartete ihn sein Gesprächspartner in dem riesigen Foyer. Der Kriminaloberinspektor Jukka Ukkola, ein spindeldürrer Mann von etwa vierzig Jahren mit pechschwarzem Haar, drückte ihm zur Begrüßung die Hand wie ein Nussknacker und eilte im Laufschritt zu den Aufzügen.

»Heute ist bei uns ein besonders hektischer Tag. Du hast dein Kommen so ziemlich im letzten Augenblick angekündigt. Die von mir geleitete Einheit, die Hauptabteilung, ist die größte der KRP. Alle Ermittlungen zu Straftaten besonderer Schwere und Bedeutung in Finnland werden von uns geführt.«

Ukkola betrat den Fahrstuhl und wartete darauf, dass die Tür zuglitt. »Die KRP arbeitet in gewissem Umfang mit dem UNODC zusammen, insbesondere unsere Zentralstelle für Ermittlungen zur Geldwäsche.« In der ersten Etage verließ Ukkola den Aufzug mit einem großen Schritt, noch bevor Kara überhaupt etwas sagen konnte. Der Kriminaloberinspektor öffnete die Tür zu seinem Büro, hängte das graue Jackett auf einen Kleiderbügel und bat den Gast, Platz zu nehmen. Kara fiel ein Samuraischwert an der Wand auf.

»Das ist ein Katana-Schwert aus der Edo-Zeit Mitte des 17. Jahrhunderts. Oder genau genommen aus der Kanbun-Shinto-Zeit. Allerdings bloß ein Replikat, das Original kann man sich mit dem Gehalt eines Beamten nicht leisten. Ich … interessiere mich für die japanische Kultur, während meines Studiums bin ich im Rahmen eines Austauschs ein Jahr in Kyoto gewesen. Die Japaner sind ein stolzes, diszipliniertes und leistungsfähiges Volk.«

Das Hobby passte gut zu dem wichtigtuerischen Ukkola, fand Kara. Legte man sein Arbeitszimmer und sein Verhalten zugrunde, dann machte auch Ukkola den Eindruck, leistungsfähig und organisiert zu sein.

Ukkola räusperte sich und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Unsere Leute waren gestern bei Fennica, kurz nachdem wir vom SIS die Bitte um Amtshilfe erhalten hatten. Die Briten haben den Verdacht, dass ein oder mehrere Globeguide-Steuerungssysteme in ein … Land gebracht worden sind, das einem Waffenembargo unterliegt.«

»Ich weiß. Eigentlich bin ich die Person, die herausbekommen hat …«

»Du bist anscheinend kein Polizist, Kara, du hast keinerlei Polizeiausbildung, oder wie ist das?«

»Das stimmt …«

»Dann einigen wir uns mal darauf, dass du mir das Reden überlässt. Ich habe deine Vergangenheit überprüft. Es ist unfassbar, dass ein Mann, der wegen der Misshandlung eines Polizisten und anderer Straftaten verurteilt wurde, im Büro der UN für Drogen- und Verbrechensbekämpfung arbeiten kann. Ich verstehe überhaupt nicht, warum das UNODC jemanden schickt, um einen Fall zu untersuchen, in dem der SIS und die Zentrale der finnischen Kriminalpolizei bereits Ermittlungen führen.«

»Es gibt sicher viele Dinge, die du nicht verstehst«, erwiderte Kara und spürte, wie ihm das Blut zu Kopf stieg. Ukkola war das typische Beispiel für einen Menschen, der ihn die Beherrschung verlieren ließ: selbstsicher, überheblich, leistungs- und ergebnisorientiert – genau wie er selbst.

»Das dürfte ein sehr kurzes Gespräch werden«, sagte Ukkola und stand auf.

»Setz dich hin, es dauert nicht lange«, befahl Kara. »Finnland ist UNO-Mitglied, und ich bin hier mit einem Mandat des Generaldirektors des UN-Büros für Drogen- und Verbrechensbekämpfung. Wenn du nicht kooperierst, nehme ich Kontakt zum Außenministerium auf und berichte von deiner Haltung.«

Es war nicht zu übersehen, dass Jukka Ukkola gleich vor Wut explodieren würde. Doch irgendetwas sorgte dafür, dass er sich beherrschte.

»Ich komme direkt von Fennica«, fuhr Kara fort. »Direktor Valo hat behauptet, dass Globeguide in der Prototypphase ist und noch kein einziges Exemplar verkauft wurde. Der Mann hat getobt, alle fünf Globeguide-Prototypen sollen auf dem Transport in irgendein Testzentrum verschwunden sein. Kann die KRP bestätigen, dass Valos Behauptungen zutreffen? Dass die Globeguides tatsächlich verschwunden … gestohlen wurden.«

Ukkola betrachtete einen Moment lang die Wände seines Büros, um sich zu beruhigen. »Wir haben gestern das erste Mal von Globeguide gehört, werden aber so schnell wie möglich klären, was mit den Prototypen passiert ist. Nach Aussage des SIS handelt es sich dabei um eine äußerst wichtige und dringende Sache. Die Fennica-Unterlagen zu den Globeguides waren jedoch im Unterschied zu anderen in Ordnung. Die weiteren Fragen des SIS konnten wir dank der laufenden Ermittlungen in dem Bestechungsfall sofort beantworten. War das alles?«

»Kannst du etwas über die Ermittlungen zur Bestechung bei Fennica sagen, hängt das irgendwie mit diesem Globeguide-System zusammen?«

»Der Verdacht der Bestechung betrifft gepanzerte Mannschaftstransportfahrzeuge, die Fennica vor einem knappen Jahr an Kroatien verkauft hat. In denen befindet sich natürlich kein Steuerungssystem wie Globeguide. Ich empfehle außerdem, alle Behauptungen Veli-Pekka Valos nur unter Vorbehalt zu verwenden. Er und der Leiter der Fennica-Abteilung ›Land and Armament‹ stehen unter Verdacht, schwere Straftaten begangen zu haben: Unternehmensspionage, schwere aktive und passive Bestechung im Rahmen der Wirtschaftstätigkeit. Es handelt sich um viel Geld, Fennica hat in Kroatien Bestechungsgelder in Höhe von mindestens neunzehn Millionen Euro gezahlt.« Ukkola ging, während er noch redete, zur Tür und griff nach der Klinke.

»Noch eine Sache. Haben sich auffällige Verbindungen von Fennica zu anderen finnischen Firmen ergeben?«, fragte Kara und bemerkte, dass Ukkola zögerte.

»Ich glaube nicht, allerdings kenne ich den Fall nicht annähernd so gut wie der Leiter der Ermittlungen. Wenn du über Details reden willst, solltest du Kriminalinspektor Markus Virta anrufen. Hast du übrigens die Absicht, die Leitung von Fennica noch einmal zu treffen?«

Kara ließ das Schloss seiner Tasche einrasten und marschierte zur Tür. »Als ich zusätzliche Informationen über die Entstehungsgeschichte von Globeguide haben wollte, hat mir Valo empfohlen, mit der ehemaligen Firmenleitung zu reden.«

»Mit wem?«

»Du bist doch der Polizist, finde es heraus.«

***

Der Leiter der Hauptabteilung der KRP Jukka Ukkola musste es sich selten bieten lassen, dass jemand ihm gegenüber eine große Lippe riskierte. In den wenigen Fällen, in denen das doch geschah, musste das Großmaul ausnahmslos dafür bezahlen. Leo Kara würde er mit ganz besonderer Freude eine Lektion erteilen. Wie gewohnt hatte er Karas Vergangenheit vor ihrer Begegnung überprüft; als Chef sollte man immer wissen, mit wem man es zu tun hatte. Das war der Schlüssel, um die Situation im Griff zu haben, und das wiederum war das beste Mittel, Menschen zu manipulieren und sich zusätzliche Macht zu verschaffen. Merkwürdigerweise gelang es von Zeit zu Zeit Idioten und Nestbeschmutzern wie Kara, sich auch in Strafverfolgungsbehörden einzunisten. Von Typen wie Kara hielt man sich besser fern, der Mann vertrat genau jenen unberechenbaren Menschenschlag, der überall da, wo er auftauchte, für Ärger sorgte.

Normalerweise hätte er Kara, ohne zu zögern, hinausgeworfen und sich nicht darum geschert, dass er UN-Mitarbeiter war. Doch zurzeit konnte er es sich nicht leisten, negativ aufzufallen, weder im Außenministerium noch irgendwo anders. Er war darauf erpicht, befördert zu werden. Aber das würde ihn nicht daran hindern, sich um Kara zu kümmern.

Ukkola verwahrte in seinem Tresor vielerlei Listen, eine geheimer als die andere: Verzeichnisse von Polizisten, die undercover ermittelten, von Objekten, die abgehört wurden, von V-Männern der Polizei … Aber einige seiner Listen waren so kurz, so persönlich und wichtig, dass er sie einzig und allein in seinem Gedächtnis aufbewahrte. Die Befürchtung, er könnte sie vergessen, brauchte er nicht zu haben. Leo Kara gelangte geradewegs auf seine Liste der Menschen, denen man eine Lehre erteilen musste. Er griff zum Handy.

»Hol Valo ans Telefon, und zwar sofort«, befahl Ukkola, als die Sekretärin des Direktors von Fennica ihm mitteilte, ihr Vorgesetzter sei in einer Besprechung.

»Ist dir klar, dass du die polizeilichen Ermittlungen erschwert hast, als du mit diesem Mann von der UN geredet hast?«, blaffte Ukkola los, als Veli-Pekka Valo sich meldete.

»Ich darf ja wohl reden, mit wem ich will. Schließlich bin ich ja nicht festgenommen.«

»Das lässt sich schnell regeln, wenn es erforderlich ist. Als es um die Entwicklungsgeschichte von Globeguide ging, an wen hast du ihn da verwiesen?«

»An Mettälä und deine Exfrau«, erwiderte Valo wütend.

Ukkola bedankte sich für die Information und legte auf. Anscheinend bekam er eine neue Möglichkeit, sich mit dem Namen zu befassen, der an der Spitze seiner Liste mit dem Titel »Zu vernichten« stand. Er ließ niemals eine Gelegenheit aus, sich an seiner Exfrau Kati Soisalo zu rächen.

Der Zorn nach Karas Besuch und die Genugtuung, Valo zusammengestaucht zu haben, versetzten Ukkola genau in die richtige Stimmung. Das war der geeignete Moment, um eines der wichtigsten Gespräche seiner Karriere zu führen. Er rief den KRP-Chef Timo Neulamaa an und erhielt die Erlaubnis, sofort vorbeizukommen.

Wenig später saß Ukkola im von Grünpflanzen geschmückten Eckzimmer des Polizeirats, hielt einen Stoß Papiere in der Hand und bemühte sich, unsicher zu wirken.

»Ich wollte mit dir reden, da ich nicht recht weiß, wie man in der … Angelegenheit verfahren sollte. Bei dieser Kinderporno-Geschichte in Kauniainen ist etwas … Überraschendes zutage getreten«, sagte Ukkola mit stockender Stimme und legte ein Blatt Papier auf Neulamaas Schreibtisch.

Der in dreißig Jahren Polizeidienst gestählte, spröde wirkende Mann in der protzigen Uniform des KRP-Chefs wurde blass. Es sah so aus, als traute er seinen Augen nicht. Timo Neulamaa brauchte eine Weile, bis er etwas sagen konnte. »Das ist die E-Mail-Adresse meines Sohns.«

»Die fand sich bedauerlicherweise auf der Versandliste bei dieser Sache in Kauniainen«, flüsterte Ukkola.

»Es war doch so, dass damit kein physisches … Ausnutzen verbunden war. Es handelt sich nur um Fotos …«, stammelte Neulamaa und ächzte erleichtert, als Ukkola nickte.

»Wie viele Leute wissen davon?«, fragte der Polizeirat.

»Eigentlich nur ich. Ich bin mit dem Leiter der Ermittlungen das Beweismaterial durchgegangen. Als ich auf die Adresse deines Sohnes gestoßen bin, habe ich sofort gesagt, dass es sich bei diesem Verdächtigen um einen in den Kinderpornoring eingeschleusten Polizisten handelt. Ich dachte, dass dir sonst unangemessener Schaden entstünde. Sicher fällt dir irgendein Mittel ein, deinen Sohn auf etwas rücksichtsvollere Weise zu bestrafen, als es bei einem Prozess der Fall wäre. Ich habe beschlossen, dir … einem Kollegen diesen Gefallen zu tun«, sagte Ukkola.

»Das ist in der Tat eine ziemliche Überraschung … ein Schock. Ich muss erst mal überlegen, was ich in dieser Hinsicht tun soll. Wir kommen später darauf zurück«, schlug Neulamaa vor.

Ukkola verließ das Zimmer zufrieden. Das Gespräch war genauso gelaufen, wie es sollte. Neulamaa blieb nichts anderes übrig, als ihm den Posten des stellvertretenden Chefs anzubieten, der bald frei werden würde. Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.

***

Vom Sitz der KRP bis ins Zentrum von Tikkurila waren es nur ein paar hundert Meter, und die Sonne schien. Leo Kara hatte den ganzen Vormittag in Büros gesessen und ging deshalb nun lieber zu Fuß. Unterwegs sprach er einen Mann im Jogginganzug an und fragte, wo man hier gut essen könne. Nachdem er am Automaten in der Kielotie Geld abgehoben und dabei festgestellt hatte, dass auf seinem finnischen Konto nicht mehr viel Bargeld war, betrat er das Restaurant »Pormestari«.

Als Mittagsmenü gab es Gemüsegratin, Mandellachs oder Karelischen Fleischtopf, den Kara, soweit er sich erinnerte, bisher nur einmal gegessen hatte. Der Preis jedenfalls war in Ordnung – 8,70 Euro am Selbstbedienungsbüfett. Kara sah genau aufs Geld, da war er erblich belastet. Seine Mutter stammte aus einem Ort nahe der schottischen Grenze und sein Vater aus einer Nachbargemeinde des finnischen Laihia, das für den sprichwörtlichen Geiz seiner Bewohner bekannt war. Natürlich kaufte er auch teure Dinge, nur wollte er keinesfalls für irgendetwas zu viel bezahlen.

Nachdem Kara sich zweimal am Büfett bedient hatte, holte er sich eine Tasse Kaffee und rief Kati Soisalo an. Er berichtete ihr kurz das Neueste von den Ermittlungen und vereinbarte ein Treffen am Sonnabend, weil laut Soisalo am Freitag, dem Ersten Mai, niemand arbeitete. Kara bemerkte, dass er sich auf ihre Begegnung freute, schließlich hatte sie alles angestoßen. In gewisser Weise war sie auch schuld an Ewans Tod. Dann rief er noch Otto Mettälä an, der ihm mitteilte, er sei am Sonntag zu sprechen.

Kara holte seinen Laptop aus der Tasche, stellte ihn auf den Tisch und loggte sich über WLAN in sein Eurokonto bei der Barclays Bank ein. Das Pfund war ein Teil der britischen Geschichte, und wenn jemand beharrlich an seinen Traditionen festhielt, dann waren es die Briten. Doch auf seinen Reisen in der Eurozone hatte Kara die Vorteile der gemeinsamen Währung schätzen gelernt. Überrascht sah er, dass der Saldo 32823,37 Euro betrug, auf dem Konto dürften aber eigentlich nur etwa zweitausend liegen, seine Reisekasse. Hatte es bei der Bank oder der Gehaltszahlung durch das UNODC irgendeine Verwechslung gegeben? »Manchmal läuft es eben auch so herum«, dachte Kara, überwies zweitausend Euro auf sein finnisches Konto und schenkte dem Mysterium weiter keine Beachtung. Die Angelegenheit würde er klären, wenn er Zeit dafür fand.

 

Die letzte Etappe des Tages führte ihn zur finnischen Sicherheitspolizei, zur SUPO. Vor ihrem Hauptquartier in der Ratakatu stieg Kara aus dem Taxi und war überrascht, wie anspruchslos das vierstöckige Gebäude wirkte. Es sah wie ein ganz normales Wohnhaus aus. Eine Möwe schrie, und in der Fredrikinkatu quietschte eine Straßenbahn. Er klingelte, passierte die schmale Holztür und stand im Windfang. Die Panzerglastür ging auf, und Kara betrat den kleinen Vorraum. Er meldete sich beim Diensthabenden an, der ihm eine Besucherkarte gab und die zweite Panzerglastür zu einem schönen Treppenhaus aus der Zeit um 1890 öffnete.

»Saara Lukkari. Leiterin der Abteilung für Gegenspionage im Operativen Bereich«, sagte die junge Hauptkommissarin, die im Foyer wartete. Ihr enges T-Shirt betonte die Formen ihres trainierten Körpers. Kara war überrascht, hier eine gutaussehende Frau anzutreffen. Sie gingen am Metalldetektor und Durchleuchtungsgerät vorbei und fuhren mit dem Aufzug in die zweite Etage, wo Saara Lukkari ihn zu ihrem Büro führte und die Tür aufschloss.

»Du wolltest mit mir über Fennica und Globeguide sprechen, obwohl die Hauptverantwortung für die Ermittlungen zu Fennica bei der KRP liegt.« Saara Lukkari kam sofort zur Sache.

»Aber die SUPO ist für die Untersuchung der Industriespionage in Finnland zuständig, oder? Ich möchte wissen, wie es möglich ist, dass die Prototypen von Globeguide gestohlen wurden. Wer hat sie sich angeeignet? Jemand muss von ihnen gewusst haben, ihre … technischen Details gekannt haben. Wie könnte sonst jemand Verwendung für sie haben?« Kara wählte seine Worte mit Bedacht, denn er wollte nicht verraten, dass man in der Rakete, die auf den UN-Komplex in Kenia abgefeuert worden war, das Globeguide-System gefunden hatte. Er wusste nicht, wie viele Fakten der SIS in seiner Bitte um Amtshilfe preisgegeben hatte. Wahrscheinlich das übliche Maß – also möglichst wenig.

Saara Lukkari runzelte die Augenbrauen. »Solltest du nicht, bevor du hierherkommst, zur KRP gehen? Hat man dir dort nichts über die … Umstände des Verschwindens von Globeguide gesagt?«

»Dieses Treffen lief nicht sehr gut. Der Chef der Hauptabteilung Jukka Ukkola wirkte ziemlich angespannt.«

»Das überrascht mich jetzt aber wirklich«, erwiderte Saara Lukkari lachend und setzte zu einem Kommentar an. Doch dann legte sie die Hände auf ihre festen Oberarmmuskeln und dachte einen Augenblick nach. »Hier in Finnland laufen noch in einer zweiten Angelegenheit Ermittlungen zu illegalen Rüstungsgeschäften. Die KRP vermutet, dass ein Waffenprodukt, das die Hightech-Abteilung eines großen Industriekonzerns entwickelt hat, in einen Staat geliefert wurde, der … einem Waffenembargo unterliegt.«

»Wann?«, fragte Kara.

»Vor etwa einem Monat. Die KRP ist auch für die Ermittlungen in diesem Fall zuständig. In Finnland verschwinden zur gleichen Zeit zwei Hightech-Waffenerzeugnisse. Da braucht man kein Kernphysikerdiplom, um zu kapieren, dass diese Fälle irgendwie zusammenhängen. Vor allem, weil eine russische Firma anscheinend an der Entwicklung dieser beiden Produkte beteiligt war. Vielleicht nur als Investor, das weiß man noch nicht, die Ermittlungen stehen in der Hinsicht erst am Anfang. Ich darf dir das sagen, weil wir uns beim SIS erkundigt haben, ob du zuverlässig bist.«

»Habt ihr den Verdacht der Industriespionage?«, fragte Kara.

Saara Lukkari kaute einen Augenblick auf der Unterlippe, bevor sie antwortete. »Möglich ist es. Wie du selbst geschlussfolgert hast, muss der Dieb die Merkmale von Globeguide genau gekannt haben. Warum hätte er sonst gerade dieses Gerät stehlen wollen?«

»Russland?«

»Vorzugsweise. Tradition verpflichtet«, erwiderte Saara Lukkari und lächelte. »Der finnische Rüstungssektor war in der letzten Zeit wiederholt das Ziel elektronischer Spionage und von Attacken aus dem Internet, hauptsächlich vonseiten der Russen und Chinesen. Der SVR und der GRU Russlands haben, um es vorsichtig zu formulieren, große Erfahrung mit Aktivitäten in Finnland. Der SVR versucht immer noch, auch verlässliche Kontakte … Leute innerhalb finnischer Firmen anzuwerben.«

Kara überlegte sich noch seine nächste Frage, als Lukkari fortfuhr.

»Natürlich gibt es auch eine legale Zusammenarbeit finnischer Waffenhersteller mit den Russen.«

Kara hatte das Gefühl, dass Saara Lukkari etwas andeuten wollte.

»Zusammenarbeit?«

»Viele finnische Firmen unterhalten noch aus sowjetischen Zeiten … äußerst enge Beziehungen zu Partnern hinter der Ostgrenze.«

»Meinst du Fennica und dieses andere Unternehmen, gegen das polizeiliche Ermittlungen laufen?«

»Wenn du mehr über die Zusammenarbeit finnischer Unternehmen mit den Russen erfahren willst, dann solltest du mit diesem Mann reden«, sagte Saara Lukkari und reichte Kara eine Visitenkarte.

»Warum erzählst du mir das alles?«

»Vielleicht wird sich das eines Tages herausstellen«, erwiderte Saara Lukkari, grinste und stand auf.