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Sonnabend, 9. Mai

Jukka Ukkola hielt sich nicht nur für gutaussehend, sondern auch für unerbittlich, scharfsinnig, effizient und vor allem für kaltblütig. Aber was zu viel war, war zu viel, auch für ihn. Die KRP ermittelte, wie die Globeguide-Steuerungssysteme verschwunden waren, wie die Abschussrampe von Wartsala in den Libanon gelangt war, wie Otto Mettälä zu Tode gekommen und Pertti Forslund mitsamt seinem Haus verbrannt war, und sie untersuchte den möglichen Mordanschlag auf Leo Kara und den Tod von Katarina Kraus. Sibirtek hing mit all dem zusammen, und seine Aufgabe bestand darin, Sibirtek und seine Hintermänner mit allen Mitteln zu schützen. Und nun verlangte auch noch der SIS, dass geklärt wurde, welche Rolle Sibirtek spielte.

Ukkola saß in der morgendlichen Besprechung im Beratungsraum des Stabes der KRP und fürchtete, dass Rami Sund und Markus Virta diesmal etwas herausgefunden hatten. Sie leiteten alle Ermittlungen, die mit Sibirtek zusammenhingen. Und lange konnte er seine Untergebenen nicht mehr von den Sibirtek-Spuren ablenken.

Kriminalinspektor Virta kam in seiner Zusammenfassung langsam, aber systematisch voran. »Otto Mettälä beging Selbstmord, wenn auch die Art des Vorgehens ziemlich … eigenartig erschien. Alles spricht für Selbstmord, die technischen Untersuchungen und vor allem Mettäläs bösartiger Krebs. Dieses japanische Messer …«

»Ein Yoroi-doshi«, warf Ukkola ein.

»… ist keineswegs selten. Die werden überall in der Welt verkauft, und man bekommt sie auch in Finnland. Mettälä hat sich allerdings nicht mit Stichwaffen beschäftigt und war auch kein Sammler.«

Ukkola nickte. »Vielleicht ist es ein Werbegeschenk oder ein Souvenir von einer Japanreise.«

Der kleine Virta richtete den Oberkörper auf, streckte sich und gähnte laut. »Die Ermittlungen im Bestechungsfall, was den Verkauf von Fahrzeugen der Fennica AG an den kroatischen Staat betrifft, sind bald so weit, dass geprüft werden kann, ob Anklage erhoben wird. Gegen den Geschäftsführenden Direktor Veli-Pekka Valo und den Abteilungsleiter Ilpo Takala haben wir fast lückenlose Beweise. Wir wissen auch, wie die verschwundenen Globeguide-Steuerungssysteme aus Finnland in den Sudan geliefert wurden. Jetzt muss mit Interpol zusammen noch geklärt werden, ob einer von den Fennica-Direktoren beteiligt war, als das Verschwinden der Systeme arrangiert wurde, welche Rolle Sibirtek spielt und mit wem aus der Führungsetage von Fennica Sibirtek verhandelt hat, als das Globeguide-Projekt entwickelt wurde.«

»Mit Otto Mettälä natürlich, du Hornochse«, dachte Ukkola, sagte aber: »Mit diesen Globeguide-Systemen können wir uns auch später noch eingehend beschäftigen, die findet in Afrika eh keiner mehr, nicht mal der Teufel. Wir müssen uns zuerst um die Verbrechen der letzten Tage kümmern.«

Jetzt war Kriminaloberkommissar Rami Sund, der übermüdet aussah, an der Reihe. »Pertti Forslunds Tod war ein Unfall. Bei der Ermittlung der Brandursache und bei der Untersuchung vor Ort fand sich nichts Unklares. Brandauslöser waren Kerzen, die in Forslunds Schlafzimmer umgefallen sind. Nach Ansicht des Gerichtsmediziners starb Forslund an einer Kohlenmonoxidvergiftung, und in seinem Blut wurde ziemlich viel Alkohol gefunden«, sagte Sund und suchte in seinem Unterlagenstapel auf dem Tisch ein neues Blatt.

»Dann eine Information von Interpol, die heute Morgen reinkam. Die Identifizierungsnummer der Abschussrampe von Wartsala-Tech, die im Libanon gefunden wurde, ist identisch mit der Nummer des Geräts, das Wartsala 2008 an Russland verkauft hat. Es kann also gut sein, dass irgendein Waffenhändler mit gefälschten Endverbleibserklärungen operiert und das von Wartsala legal verkaufte Gerät nicht dahin geliefert hat, wohin er es liefern sollte. So lief es doch auch mit den Globeguide-Systemen, wenn ich das recht verstanden habe. Und die Entwicklung der Abschussrampe von Wartsala hat ja Sibirtek finanziert – wer sonst.«

Markus Virta lief mit der Kaffeetasse in der Hand um den Tisch herum. »Zwei finnische Unternehmen, zwei verschwundene Bestandteile von Marschflugkörpern und zwei ehemalige Direktoren im Leichenschauhaus. Sowohl Mettälä als auch Forslund leiteten ihre Firmen in der Zeit, als die Entwicklung des Globeguide-Systems und der Abschussrampe in Gang gebracht wurde. Und an beiden Projekten war eine Firma namens Sibirtek beteiligt, über die anscheinend niemand Informationen hat.«

»Das erinnert ein wenig an den Bofors-Skandal in Schweden«, sagte Rami Sund. Markus Virta runzelte die Stirn. »Ein Fernsehreporter, der vom Schmuggel der Bofors-Geschütze Wind bekommen hatte, wurde 1985 in Stockholm tot aus einem Kanal gefischt. Und der schwedische Waffeninspektor, der die Straftaten von Bofors untersucht hatte, wurde etwa zwei Jahre später vor einen U-Bahnzug gestoßen. Man hat Bofors zwar wegen Bestechung und Schmuggel verurteilt, aber die beiden Todesfälle konnte man nicht mit dem Unternehmen in Verbindung bringen.«

Ukkola stand auf, schaute auf seine Uhr und schien es eilig zu haben. »Wir wissen schon die Namen von einigen Russen, die im Auftrag von Sibirtek in Erscheinung getreten sind. Das heißt, wir werden bald Informationen über Sibirtek erhalten, aber das kann dauern. Ihr kennt ja die russische Bürokratie.«

»Führst du die Ermittlungen zu Sibirtek allein?«, fragte Rami Sund.

Ukkola gefiel Sunds Tonfall nicht. »Ich und das Ermittlungszentrum für Geldwäsche«, antwortete er und beschloss, das Thema zu wechseln, bevor Sund allzu gefährliche Fragen einfielen.

»Gibt es etwas Neues zu den Ereignissen in Voikkaa?«, erkundigte sich Ukkola in der Befürchtung, dass die Ermittlungsgruppe unter Leitung von Virta bereits etwas herausgefunden hatte. Katarina Kraus war schließlich ein direktes Verbindungsglied zu Hofman.

»Leo Kara, Kati Soisalo und Sakke Tirkkonen haben den Killer nicht gesehen, und der hat keinerlei Spuren hinterlassen. Außer einer Kugel. Katarina Kraus wurde mit einer Winchester Black Talon erschossen, diese Neun-Millimeter-Hohlspitzgeschosse sieht man selten. Vielleicht führt das zum Killer, die Black Talons wurden nämlich schon in den Neunzigern vom Markt genommen. Wir, die SUPO und die Aufklärungszentrale der Streitkräfte haben keine Informationen über Katarina Kraus, aber der SIS hat versprochen, uns in Kürze etwas zu schicken. Angeblich hat auch Kraus etwas mit Sibirtek zu tun«, erklärte Virta.

Sund erhob sich und sagte triumphierend: »Na, spätestens das beweist, dass bei den Ermittlungen jetzt alle Kräfte auf Sibirtek konzentriert werden müssen.«

»Warum erfahre ich das erst jetzt! Was hat der SIS sonst noch berichtet?«, fuhr Ukkola Virta wütend an und haute mit der Faust auf den Tisch.

»Lies deine Post, ich habe dir eine Kopie der E-Mail vom SIS geschickt«, entgegnete Virta trocken.

Ukkola marschierte fluchend hinaus. Er begriff jetzt das erste Mal in seinem Leben, wie einem Kriminellen zumute war, wenn sich bei den polizeilichen Ermittlungen die Schlinge um seinen Hals allmählich zuzog. In so einer beschissenen Lage war er bisher erst einmal gewesen. Damals hatte er dafür gesorgt, dass Ermittlungen gegen Mitarbeiter der Helsinkier Drogenpolizei aufgenommen wurden. Seine Absicht war es gewesen, einen Kriminaloberkommissar loszuwerden, der auf dieselbe Beförderung wie er scharf war. Aber die Sache lief aus dem Ruder, und die Ermittlungen wurden auch auf seine eigenen Leute in der KRP ausgedehnt. Die Staatsanwältin, die seine Pläne durcheinandergebracht hatte, konnte schließlich aus diesem Fall hinausgedrängt werden, und man regelte alles hinter den Kulissen, aber die Angelegenheit hatte schon so viel Staub aufgewirbelt, dass zwei jüngere Kollegen geopfert werden mussten.

Alle, die Ukkola entgegenkamen, schauten ihn verwundert an, er lief mit großen Schritten den Flur entlang und starrte dabei mit gerunzelter Stirn auf den Boden. Grußlos ging er an seiner Sekretärin vorüber. In seinem Zimmer öffnete er das E-Mail-Fach, suchte Virtas letzte Nachricht und las, dass Leo Kara dem SIS über das UNODC einen vollständigen Bericht zu den Ereignissen von Voikkaa geliefert hatte. Dieser verdammte Exilfinne! Ukkola schüttelte den Kopf beim Lesen: Jetzt wurde sogar der Firmenname Etuvartio, unter dem man die Räume in Voikkaa gemietet hatte, mit Sibirtek in Zusammenhang gebracht.

Ukkola nahm ein Schwert aus der Kanbun-shinto-Zeit von der Wand und fuhr damit wütend durch die Luft. Dann legte er die flache Seite der Klinge auf seine Hand und balancierte das siebzig Zentimeter lange Schwert auf dem Zeigefinger. Er steckte bis zum Hals in der Scheiße. Jetzt interessierten sich schon die Briten für Sibirtek, es war bloß eine Frage der Zeit, bis der SIS Sibirtek und das ganze Knäuel der finnischen Geheimnisse ans Tageslicht bringen würde. Nur ein Wunder konnte ihn noch retten. Irgendjemand würde die Verantwortung für die Verbrechen von Sibirtek übernehmen müssen, und dann brauchten die großen Chefs einen Sündenbock. Und außer ihm bot sich niemand an.

»Du wirkst aber abgespannt«, sagte Timo Neulamaa an der Tür. Der Leiter der KRP sah in seiner Uniform aus wie frisch gebügelt, das Gesicht eingeschlossen.

»Du solltest doch nach der Besprechung sofort zu mir kommen, ich habe Virta und Sund eben auf dem Flur gesehen. Hast du es vergessen? Zehrt die viele Arbeit an deinen Kräften?«, fragte Neulamaa.

Ukkola starrte den Polizeirat mit dem Schwert in der Hand an. »Die Ermittlungen zu Mettälä, Forslund und Kara sind praktisch abgeschlossen, und die Ergebnisse der Untersuchungen zu Fennica und Wartsala-Tech liegen in Kürze beim Staatsanwalt. Die Ereignisse von Voikkaa und Sibirtek werden untersucht. Ich habe die Sache im Griff.«

»Hast du genug Leute? Kannst du …«

»In ein paar Tagen sind wir zum Kern dieses Gesamtkomplexes vorgedrungen«, versprach Ukkola.

Der Polizeirat drehte sich um und wollte gehen, aber Ukkola hastete zu ihm hin und schloss die Tür vor seiner Nase. »Hast du schon eine Entscheidung in Bezug auf die Stelle des stellvertretenden Leiters getroffen? Es wäre gut, von der Ernennung im Voraus zu wissen, möglicherweise bringt jemand die Angelegenheit zur Sprache.«

Neulamaa schaute seinen Untergebenen ernst an. »Wer sollte das denn zur Sprache bringen, die Entscheidung liegt bei mir, und es weiß ja auch niemand davon, solange die Ernennung von Virve Kotila zur Polizeipräsidentin der Provinz nicht veröffentlicht ist. Das geschieht frühestens nächste Woche.«

Ukkola kostete es große Mühe, den Mund zu halten, als Neulamaa das Zimmer verließ. Er musste zugeben, dass der Polizeirat beim Pokern beachtliche Qualitäten bewies. Wenn er verriet, dass sich Neulamaas Sohn mit Kinderpornographie beschäftigte, geriete der Polizeirat in echte Bedrängnis. Trotzdem zögerte Neulamaa noch bei der Ernennung. Das bedeutete nichts Gutes. Die Nachricht, dass Virve Kotila Polizeipräsidentin einer Provinz wurde, sickerte in der nächsten Zeit garantiert aus dem Innenministerium durch, und danach würde im ganzen Polizeiapparat fieberhaft gerätselt werden, wen man wohl zum neuen Stellvertreter ernannte. Auf den Fluren des Hauptquartiers der KRP würde man die Namen vieler Polizisten flüstern, die mehr Erfahrungen und Verdienste hatten als er. Das könnte Neulamaa unter Druck setzen, so dass er schließlich jemand anders zum stellvertretenden Leiter berief.

Plötzlich wurde Ukkola klar, dass er den Griff des Schwertes, den Tsuka, immer noch in der Hand hielt. Er legte sein Kanbun shinto wieder auf die Wandhalterung und setzte sich hin. In den letzten Tagen hatte man ihn mehr gedemütigt als je zuvor, und angesichts der Ermittlungen zu Sibirtek und des zögerlichen Verhaltens von Neulamaa konnte es noch schlimmer kommen. Kati und Leo Kara hatten ihn in die Enge getrieben und erpresst wie einen Schuljungen. Um die Angelegenheiten von Katis Eltern wieder ins Lot zu bringen, hatte er zwei entwürdigende Telefongespräche führen müssen. Er war gezwungen gewesen, wie ein Novize zu erklären, was er getan hatte. Aber irgendwann käme die Zeit, den beiden alles heimzuzahlen. Bis dahin würde er seine Wut fürsorglich pflegen, möglichst oft an das hinterhältige Manöver von Kati und Kara denken und seinen Hass veredeln, bis er zur wohlüberlegten Rache wurde.

***

Als die Räder des »Smart for two« vor Salme Pohjalas Eigenheim in Westend zum Stillstand kamen, waren genau vierzehn Minuten vergangen, seit Kati Soisalo die Tür ihrer Kanzlei geschlossen hatte. Während der Fahrt hatte sie ihr Gespräch mit Salme und Matti Pohjala noch einmal rekapituliert. Sie konnte sich jedoch nicht erinnern, dass einer von beiden etwas Merkwürdiges gesagt hätte. An die aufgeladene Atmosphäre erinnerte sie sich hingegen sehr gut: der angespannte Gesichtsausdruck bei beiden und der Adlerblick des Sohnes, wenn seine Mutter den Mund aufmachte.

Plötzlich unterbrach ein fröhliches Kreischen sie beim Nachdenken. Sie sah, wie ein kleines Mädchen mit geblümtem Hut an der Seite ihrer Mutter hüpfte und ihre Puppe an sich drückte. Vilma wäre jetzt ungefähr in diesem Alter, sie spürte eine Sehnsucht, die weh tat. War sie wieder mit Volldampf in die Ermittlungen zu Sibirtek eingestiegen, um vor der schmerzhaften Erinnerung an ihre Tochter zu fliehen? Hatte sie so schnell vergessen, was mit Katarina Kraus geschehen war? Als sie am Vorabend bei der KRP von den Ereignissen in Voikkaa berichtet hatte, war ihr Eindruck gewesen, dass die Polizei nicht die leiseste Ahnung hatte, wer Kraus umgebracht haben könnte. Warum blendete sie aus, dass der Killer frei herumlief? Die Antwort kannte sie: Die Aufklärung des Falls Sibirtek würde bedeuten, dass Jukka Ukkola rausflog und im Gefängnis landete.

Kati Soisalo drückte auf die Klingel, die im Torrahmen des bunkerartigen Eigenheims versenkt war, und überlegte, ob es besser gewesen wäre, sich vorher anzumelden. Die Pflanzen im Garten blühten, wie hatte es Salme Pohjala nur geschafft, schon Anfang Mai so eine Farbenpracht in ihren Garten zu zaubern? Bewegte sich da etwas am Küchenfenster, oder spiegelte sich nur das Sonnenlicht in der Scheibe? Kati Soisalo klingelte noch einmal, und im selben Augenblick ging die Haustür auf, und Salme Pohjala trat auf die Schwelle.

»Sind Sie gekommen, um wieder Fragen zu Henris Arbeit zu stellen?«, rief die Frau. »Mein Sohn ist nicht da, und ich habe Ihnen letztens schon alles gesagt, was ich weiß.«

»Ich komme nicht wegen der Arbeit Ihres Mannes«, rief Kati Soisalo zurück, nur um schnell etwas zu sagen, bevor die Hausherrin die Tür wieder schloss. »Ich wollte über Sie selbst reden.«

Salme Pohjala zögerte einen Augenblick, bevor sie auf den Knopf drückte und die Tür öffnete. Kati Soisalo trat ins Haus und reichte ihr die Jacke genau wie beim letzten Mal. Sie registrierte wieder voller Bewunderung, wie fraulich die groß gewachsene, stilvoll ergraute und elegant gekleidete Frau wirkte. Der Gedanke, dass auch eine Frau über sechzig attraktiv aussehen konnte, war tröstlich.

Die Hausherrin sagte, sie gehe Kaffee kochen, und Kati Soisalo hatte nichts dagegen. So gewann sie Zeit, um sich etwas einfallen zu lassen, womit sie Salme Pohjala zum Sprechen bringen konnte. Sie ging ins Wohnzimmer, setzte sich in denselben Sessel wie bei ihrem letzten Besuch und betrachtete die Gemälde an der Wand. Eines der Bilder war ein Ruokokoski, und eines stammte von Vionoja.

Salme Pohjala kam mit dem Tablett ins Wohnzimmer, deckte den Couchtisch und klagte über Rückenschmerzen. Sie erzählte, dass sie den ganzen Vormittag im Gemüsegarten gehockt hatte.

Bei der Aussicht, über Gartenarbeit plaudern zu müssen, wurde Kati Soisalo immer nervöser, damit kannte sie sich genauso gut aus wie mit Chirurgie am offenen Herzen. Ihr fiel kein einziger Zaubertrick ein, mit dem sie Salme Pohjala dazu bewegen könnte, offen über die Angelegenheiten ihres Mannes zu sprechen. Da half alles nichts, jetzt musste sie die Wahrheit sagen.

»Es ist sicher am besten, wenn ich ganz ehrlich sage, worum es mir geht. Wie ich bereits bei unserem letzten Treffen erwähnt habe, untersuche ich die Aktivitäten eines … Unternehmens namens Sibirtek in Finnland. Hoffentlich nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich das sage, aber ich hatte nach unserem letzten Treffen den Eindruck, dass Sie etwas verschweigen. Gehe ich recht in der Annahme, dass auch Henri Pohjala, vielleicht sogar sein Tod irgendwie mit Sibirtek zu tun hatte?«

Es überraschte sie völlig, wie die Hausherrin reagierte – Salme Pohjala wurde rot bis über beide Ohren, setzte sacht die Kaffeetasse ab und starrte ihren Gast eine Weile mit großen Augen an.

Dann lachte sie und sagte: »Ich war schon immer der Meinung, dass Frauen intelligenter und schlauer sind als Männer. Wir besitzen die Fähigkeit, an die Sinne und Gefühle zu appellieren. Sie würden bestimmt eine hervorragende Polizistin abgeben. Wenn ich mir überlege, wie leicht Sie mich davon überzeugt haben, dass Sie nicht gekommen sind, um Fragen zu Henris Arbeit zu stellen …«

»War Sibirtek ein Teil der Arbeit Ihres Mannes?«

»Ihr Juristen klammert euch immer an Worte. Bei euch muss man aufpassen, was man von sich gibt«, erwiderte Salme Pohjala und lächelte, doch ihr Gesichtsausdruck wirkte eher besorgt, ja fast ängstlich.

»Bei meinem letzten Besuch habe ich mich gewundert, warum Sie so einen ruhigen, ja fast gleichgültigen Eindruck machten, als es um den Tod Ihres Mannes ging. Wenn ich das richtig verstanden habe, dann war sein Ende grauenhaft, allein schon die Vorstellung, im Schlamm begraben zu werden, ist furchtbar.«

Kati Soisalo schaute Salme Pohjala an, die offenbar etwas sagen wollte, aber trotzdem schweigend dasaß und ein Kissen auf ihren Schoß drückte. Hatte jemand die Frau eingeschüchtert, hatte Sibirtek ihr verboten, über die Angelegenheiten ihres Mannes zu sprechen?

»Sie sind doch nicht etwa selbst irgendwie in Gefahr? Hat man Sie bedroht?«, fragte Kati Soisalo.

»Henri passt schon auf mich auf«, antwortete Salme Pohjala und bemerkte im selben Moment, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Sie versuchte ein Lächeln. »Henri hat mir in seinem Testament alles vermacht, Matti hat nicht einmal sein Pflichtteil verlangt. Das hatte Henri so mit dem Jungen vereinbart. Henri passt immer noch auf mich auf.«

»Ein guter Rettungsversuch, aber bei weitem nicht gut genug«, dachte Kati Soisalo. Seit Henri Pohjalas Tod waren schon anderthalb Jahre vergangen, aber Salme sprach immer noch im Präsens von ihrem Mann und versuchte auch noch, ihren Patzer wieder auszubügeln. Es war wie eine Erleuchtung Buddhas, als sich die Puzzlestücke in Katis Kopf zusammenfügten: Henri Pohjalas Probleme mit Sibirtek vor der Reise nach Afrika, sein eigenartiger Tod und die schnelle Einäscherung in Kapstadt, das merkwürdige Verhalten von Salme und Matti Pohjala und Salmes Lapsus »Henri passt schon auf mich auf.«

»Ihr Mann lebt noch«, sagte Kati Soisalo. Das ließ Salme Pohjala die Fassung verlieren.

»Wie können Sie es wagen, eine Unverschämtheit! Damit ist dieses Gespräch beendet«, schrie sie mit hochrotem Kopf, marschierte in den Flur, nahm Kati Soisalos Jacke und öffnete resolut die Haustür.

 

Die beiden in der Kanzlei standen unter Hochspannung, Adrenalin schoss ihnen ins Blut. Paranoid hämmerte auf die Tastatur seines Laptops ein wie ein wildgewordener Pianist und rief Kati Zwischenmeldungen zu, wenn er etwas Interessantes fand. Mittlerweile hatte er sich erneut Zugang zum Computer von Matti Pohjala und auch zu dem seiner Mutter verschafft.

Henri Pohjala hatte seinen Tod vorgetäuscht und versteckte sich irgendwo, das wussten die beiden nun. Kati Soisalo war den Bericht Jussi Ketonens, des Ex-SUPO-Chefs, über den vom KGB in den siebziger Jahren angeworbenen »Boss« durchgegangen und hatte festgestellt, dass alles stimmte. Das i-Tüpfelchen war, dass man Pohjala schon im Teenageralter »Boss« genannt hatte. Diese Information fand sich in einem Heft über seinen Reserveoffizierslehrgang. Henri Pohjala war der Schlüssel zu den Geheimnissen von Sibirtek, der Mann, den ausfindig zu machen ihnen Jussi Ketonen empfohlen hatte.

»Salme Pohjala ist nach dem Tod ihres Mannes viermal nach Südafrika geflogen, jeweils einmal nach Kapstadt und Durban und zweimal nach Johannesburg. Legt man die Kreditkartenrechnungen zugrunde, hat sie jedoch auf allen Reisen die meiste Zeit in Kapstadt verbracht.«

»Wo hat sie gewohnt?«, fragte Kati Soisalo ungeduldig. »Vielleicht findet man Henri Pohjala dort.«

»In billigen Mietwohnungen in Melkbosstrand und Brackenfell, weit weg vom Zentrum Kapstadts, einmal im Hotel ›Ritz‹, das trotz seines Namens ziemlich preiswert ist, und zuletzt hat sie drei Wochen im superbilligen Hostel ›Ashanti Lodge‹ übernachtet. Man sollte annehmen, dass Salme Pohjala etwas mehr für die Unterkunft ausgibt, nach ihrem Konto zu urteilen ist sie zumindest nicht arm.«

»Vielleicht sind die gemieteten Buden nur ein Bluff, vielleicht hat Salme doch bei ihrem Mann gewohnt«, schlug Kati Soisalo vor.

Im selben Moment rauschte der Laserdrucker los. Paranoid zog das Blatt halb mit Gewalt heraus. Er las den Text rasch durch, machte mit dem Kugelschreiber Vermerke, und allmählich breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Salme hat ihre Kreditkarte in vielen Geschäften im Zentrum von Kapstadt und im Meeresrestaurant ›Harbour House‹ mehr als einmal verwendet, doch das verrät nichts über den Wohnort von Henri Pohjala. Aber das hier!« Stolz hielt Paranoid ihr das Blatt vors Gesicht und zeigte mit dem Stift auf den Namen Woolworths.

»Salme Pohjala hat während der letzten zwei Jahre insgesamt sechzehn Wochen in Kapstadt verbracht und ist in dieser Zeit achtunddreißig Mal im Woolworths-Supermarkt eines Stadtteils namens Table View gewesen.«

Kati Soisalo nahm Paranoid bei den Ohren und drückte ihm einen feuchten Kuss auf die Stirn. »Vielleicht wagt es Henri Pohjala, uns die Wahrheit über Sibirtek zu sagen. Ein toter Mann hat schließlich nichts zu befürchten.«

Das Plastikgehäuse knackte, als Kati Soisalo etwas in ihr Handy eintippte. Jetzt musste sie Leo Kara anrufen. Als er sich meldete, ratterte sie die neuen Informationen über Henri Pohjala herunter wie ein Maschinengewehr und holte zwischendurch kaum Luft.

»Jemand muss in Kapstadt mit Pohjala reden, diese Chance kann man nicht ungenutzt lassen. Nach Ansicht des Ex-SUPO-Chefs weiß Pohjala alles über Sibirtek«, erwiderte Kara, der sofort Feuer und Flamme war.

»Der Polizei sollten wir jedenfalls nichts davon sagen. Ukkola überwacht bestimmt alles, was mit Sibirtek zusammenhängt, und will ganz sicher nicht, dass Pohjala auspackt«, überlegte Kati Soisalo laut. »Ich könnte wetten, dass Ukkola Pohjala warnen würde, wenn …«

»Flieg du«, sagte Kara ganz unvermittelt. »Du reist nach Kapstadt, das UNODC oder ich übernehmen die Kosten. Und mach gleichzeitig ein paar Tage Urlaub.«