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Mittwoch, 6. Mai

Die neunundzwanzig Mitarbeiter des Shield-Krisenstabs, der seinen Sitz im Südwesten der Londoner City unter der Adresse 85 Albert Embankment hatte, wussten nicht, dass es draußen nieselte und ein heftiger Wind wehte, der die Themse Gischt an ihre Ufer sprühen ließ. Man hatte die Shield-Operationszentrale in den Lageraum in der dritten unterirdischen Etage von Legoland, dem Hauptquartier des SIS, verlegt. Die Shield-Mitglieder arbeiteten allein oder in kleinen Gruppen, das Surren der elektronischen Geräte und der Klimaanlage vermischte sich mit dem Stimmengewirr zu einem gleichmäßigen Hintergrundgeräusch.

Der Leiter des Krisenstabs Clive Grover warf einen Blick auf die roten Ziffern der elektronischen Anzeigetafel, er schaute nicht auf die Uhrzeit, sondern auf die Gnadenfrist, die ihnen blieb. Grover fühlte sich erschöpft, unter den Achseln des pinkfarbenen Hemdes sah man dunkle Flecken, die prächtige Löwenmähne war zusammengefallen und nur noch ein verschwitzter, fettiger Haarschopf.

Grover stand auf, ging in die Mitte des Raumes und bat um Ruhe. »Die nächste Rakete wird in vier Tagen und zweiundzwanzig Stunden abgefeuert«, sagte er und eröffnete damit die Besprechung.

»Ich nenne den Ermittlungskomplex, und die jeweils verantwortliche Person gibt eine knappe Zusammenfassung. Beginnen wir mit der Rakete von Gigiri.«

»Die Kooperation mit allen Ländern, die Ortungs- und Aufklärungssatelliten besitzen, funktioniert gut«, berichtete die Frau im Range eines Majors vom Aufklärungsregiment SRR. »Als Abschussort der Rakete konnte die libysche Wüste ermittelt werden, dort, wo die nordöstliche Ecke des Tschad und die nordwestliche des Sudan und der südöstliche Winkel Libyens aufeinanderstoßen, die Distanz bis zur Südwestspitze Ägyptens beträgt ein paar hundert Kilometer. In der Gegend gibt es keine dauerhafte Besiedlung, die nächsten Dörfer liegen Hunderte von Kilometern entfernt. Es ist nicht möglich, aus dem Abschussort Schlüsse zu ziehen, wer die Rakete abgefeuert hat.«

»Und die Teile der Rakete von Gigiri?«, fragte Grover.

»Alle Materialien sind jetzt analysiert«, fuhr die Frau fort. »Anhand der Metalllegierungen und der Bruchstücke von Komponenten ist man nicht weitergekommen, sie wurden alle in konventionellen Betrieben in verschiedenen Teilen der Welt produziert. Den Hersteller eines extrem leichten und beständigen Metallkompositwerkstoffs versucht man allerdings immer noch zu identifizieren.«

Grover dirigierte die Besprechung. »Als Nächstes zum Witwenmacher Ruslan Sokolow und zu den Ereignissen im Sudan.«

Der Leiter der Abteilung für Unterstützungsprozesse des SIS schien erfreut. »Wir sind alle Waffengeschäfte durchgegangen, die der Witwenmacher in den letzten fünf Jahren abgewickelt hat, und wir haben viele dem Globeguide-Steuerungssystem vergleichbare Warenlieferungen aus Tschechien, Bulgarien, Österreich und Deutschland gefunden. Also in den Sudan gelieferte Waren, von denen man weiß, dass der Witwenmacher sie nicht weiterverkauft hat. Es sieht so aus, als wären diese Waren genau wie Globeguide in Khartoum geblieben. Auch dabei könnte es sich um Raketenteile handeln. Wir kennen jetzt neben dem Hersteller von Globeguide auch etliche andere mögliche Verbindungen zu dem, der die Rakete zusammengebaut hat.«

»Eine ausgezeichnete Nachricht«, sagte Grover begeistert. »Und Globeguide und die Situation in Finnland?«

»Ich bin noch nicht fertig«, rief der Abteilungsleiter. »Die sudanesischen Behörden scheinen im Fall der Morde an dem Mitarbeiter des UNODC und am Witwenmacher nichts herauszufinden. Und der Herr Hofman, der den UN vor dem Anschlag von Kenia einen Hinweis auf das Raketenprojekt gegeben hatte, ist nirgendwo zu finden, nicht einmal mit Hilfe von Fotos. Es gibt also einen neuen unbekannten Akteur auf dem Spielfeld. Am wichtigsten ist, dass Hofman, wie wir über das UNODC erfuhren, möglicherweise auch etwas mit Sibirtek zu tun hat, das die Herstellung der Raketenteile finanziert hat. Hofman muss gefunden werden.«

Grover hob den Zeigefinger wie einen Taktstock. »Eine Zusatzfrage. Wird der Abschussort der Rakete in der libyschen Wüste immer noch gesucht? Dort könnte sich nämlich auch die Abschussrampe finden. Wenn auch die finnischer Bauart ist, nimmt zumindest meiner Ansicht nach das Bild von einer Kooperation zwischen Hofman, Sibirtek, finnischen Unternehmen und dem Witwenmacher Gestalt an.«

Die Frau vom SRR sah verärgert aus. »Satelliten und Hubschrauber suchen diese Gegend Meter für Meter ab, bis der Abschussort gefunden ist. Sofern der unter dem Sand überhaupt noch aufzufinden ist.«

»Die Situation in Finnland ist ziemlich eigenartig«, erklärte der Vertreter des MI5. »Die ehemaligen Generaldirektoren sowohl der Firma, die Globeguide produziert hat, als auch des Herstellers der Abschussrampe sind innerhalb einer knappen Woche gestorben, der eine beging wahrscheinlich Selbstmord, und der andere kam bei einem Brand um. Die beiden Männer haben die Arbeit zur Entwicklung von Globeguide und der Abschussrampe vor Jahren zusammen mit Sibirtek in Angriff genommen. Es scheint in der Tat so zu sein, dass wir in die Untersuchung des Hinweises auf Sibirtek und in die Suche nach Hofman investieren sollten.«

»Eine gute Idee, du kannst Verbindung nach Finnland aufnehmen, sobald die Besprechung vorbei ist«, sagte Grover. »Dann zum Scramjet-Triebwerk.«

Der uniformierte Oberst des DIS räusperte sich. »Alle dreizehn Scramjet-Projekte der Welt wurden überprüft. Wir wissen jetzt mit Sicherheit nicht nur, dass die Rakete von Kenia aus keinem dieser Projekte stammt, sondern auch, dass das Scramjet-Triebwerk dieser Rakete keinem derjenigen gleicht, die im Rahmen dieser Forschungsprojekte entwickelt werden. Irgendwo muss also ein geheimes, unabhängiges Scramjet-Forschungsprojekt existieren.«

»Das zu finden steht ab jetzt oben auf der Prioritätenliste. Wir koordinieren die dafür abzustellenden Ressourcen gleich nach dieser Besprechung«, schlug Grover vor. »Und nun noch eine Zusammenfassung der Aufklärungstätigkeit.«

Der nationale Koordinator der Terrorismusermittlungen von der Metropolitan Police machte einen leicht zerknirschten Eindruck. »Tausende Telefongespräche und Hunderttausende E-Mails wurden überprüft. Wir haben Belohnungen für Hinweise ausgesetzt, selbst uralte Kontakte werden aktiviert und der eine oder andere Gefallen eingefordert. Signalaufklärung, elektronische Aufklärung, Personen- und Bildaufklärung … alles läuft auf Hochtouren wie noch nie seit den Bombenanschlägen in London 2005.«

»Und nichts …«, sagte Grover, aber der Koordinator unterbrach ihn.

»Natürlich haben wir zahlreiche Hinweise erhalten, manche sind auch durchaus vielversprechend, aber keiner ist so aussichtsreich wie der auf Nazir.«

Grover nickte und gab der operativen Leiterin des Kommunikationshauptquartiers GCHQ ein Handzeichen. Sie war für die Ermittlungen zum Pseudonym Nazir verantwortlich.

Und sie begann mit einem Paukenschlag. »Wir haben einen Verdächtigen«, verkündete die Frau im dunklen Anzug. »Es erscheint ziemlich sicher, dass Nazir hinter dem Raketenplan steckt oder zumindest an seiner Ausarbeitung beteiligt ist. Leider erweist sich die Klärung der Identität Nazirs als außergewöhnlich schwierig. Ich habe ein Profil über ihn erstellt«, sagte sie, und eine der Sekretärinnen verteilte das Arbeitspapier an die Mitglieder der Shield-Gruppe.

Betha Gilmartin, die still zugehört hatte, wartete, bis sie den Nazir-Bericht in der Hand hielt, trat dann zu Clive Grover hin und teilte ihm mit, sie müsse nun gehen. Diesmal reichte es ihr, die Zusammenfassung zu Beginn der Besprechung zu hören.

Betha Gilmartin ging auf dem kahlen Flur zu den Aufzügen. Sie war in Sorge: Hinter den finnischen Unternehmen, die in den Raketenkonflikt verwickelt waren, steckte wie ein Gespenst die russische Firma Sibirtek. Und als Geheimdienstveteranin wusste sie nur zu gut, dass sich die sowjetischen und später die russischen Nachrichtendienste seit inzwischen sechzig Jahren tief in den Machtstrukturen Finnlands eingenistet hatten. Leo war ganz und gar nicht der richtige Mann, um die Hintergründe solch einer Geschichte zu untersuchen. Sie musste mit dem Jungen reden, sie würde ihm versichern, dass der Mord an Ewan Taylor natürlich im Laufe der Raketenermittlungen mit aufgeklärt werden würde. Allerdings glaubte sie das selbst nicht, vielmehr sah es so aus, als hätten die sudanesischen Behörden nach Leos Abflug aus Khartoum in dieser Sache keinen Finger mehr krumm gemacht.

***

Das Ekelgefühl wurde immer stärker, als Kati Soisalo in ihrer Kanzlei die Fotodateien von Jukka Ukkolas Computer durchforstete. Und sie hatte geglaubt, dass es in ihrer Verachtung und Abscheu gegenüber dem Mann keine Steigerung mehr geben könne. Anscheinend schaffte Ukkola es immer noch, sie zu überraschen. Hatte er schon während ihrer Ehe Pornovideos von Teenagern gesammelt und sich mit Gymnasiastinnen getroffen? Höchstwahrscheinlich. Der Parfümgeruch seiner Hemden und sein Gesäusel, wenn er mit jemandem telefonierte, legten nahe, dass er schon damals seine Bedürfnisse nicht zu Hause, sondern anderswo befriedigt hatte. Kein Wunder, dass er sich nie beklagt hatte, obwohl ihre Bereitwilligkeit im Bett immer mehr abnahm, je länger ihre Beziehung währte. Nachdem Ukkolas krankhafte Charakterzüge offensichtlich wurden, war es ihr gelungen, den Großteil seiner Initiativen zu untergraben, indem sie ihre Regel, Rückenschmerzen und alles mögliche andere vorschob.

Ihr Blick war schon ganz starr, und ihre Schultern taten weh, sie saß bereits seit Stunden am Computer. Aber sie musste eine Waffe gegen Ukkola finden. Die Dateien auf dem Computer, den er zu Hause nutzte, mussten jetzt durchsucht werden, da er seinen Laptop eingeschaltet hatte. Paranoids Programm Sparta300 hatte die Festplatten von Ukkolas Computer bei der KRP und dem zu Hause immer noch nicht ganz kopiert.

Sie kam mit der Prüfung der Dateien quälend langsam voran, weil sie gezwungen war, in jedem Dokument jede Zeile zu lesen. Außerdem müsste sie sich bald mit der Situation der Firma ihrer Eltern beschäftigen. Auch das war keine einfache Aufgabe: In den Kredit- und Vertragsunterlagen, die sie bisher gelesen hatte, fand sich nichts, womit man sich gegen die Bank oder die Warenhauskette aus St. Petersburg hätte wehren können. Und zu alledem machte ihr Leo Karas Verschwinden Sorgen. Sie wollten zusammen Mittag essen, aber von ihm war weit und breit nichts zu sehen oder zu hören. Und der Herr geruhte auch nicht, sich an seinem Telefon zu melden. Vor Stress beschleunigte sich ihr Puls, der Text auf dem Bildschirm verschwamm, jetzt musste sie eine Pause einlegen.

Kaltes Wasser ins Gesicht, eine große Tasse Espresso und wieder an die Arbeit, beschloss Kati Soisalo. Gedacht, getan, und einige Minuten später saß sie wieder an ihrem Computer und Ukkolas Dateien. Die Hoffnung war nicht sehr groß, auch hier würden sich kaum große Geheimnisse finden, in den Jahren ihres Zusammenlebens hatte sie es nur ein paarmal erlebt, dass Ukkola seinen Laptop benutzte. Meist kam er nur nach Hause, um zu schlafen und sie wegen irgendetwas zu beschimpfen. Tief in ihr saß immer noch der Verdacht, dass Ukkola etwas mit den schlechten Nachrichten zu tun hatte, die ihre Eltern betrafen.

Natürlich könnte sie dafür sorgen, dass Ukkola Schwierigkeiten bekam, wenn sie wegen der Bilder und Videos auf seinem Computer etwa bei der Kriminalpolizei in Helsinki Anzeige erstattete, aber würde das genügen? Die Mädchen sahen zwar jung aus, konnten aber dennoch über sechzehn Jahre alt sein. Und wenn sie die Bilder der Polizei vorlegte, machte Ukkola sich möglicherweise Gedanken, ob sein Computer noch sicher war. Sie brauchte handfeste Beweise, solche, die, wenn es drauf ankam, vor Gericht Bestand hätten.

Kati Soisalo sank vor Enttäuschung in sich zusammen, als sie auch das letzte Dokument von Ukkolas Eigenen Ordnern gelesen hatte. Wie sie befürchtet hatte, fand sich nichts, was mit der Arbeit zusammenhing, nur einige Briefe an Versicherungen und Banken, Reisekostenabrechnungen, Versammlungsprotokolle der Hausbesitzergemeinschaft … Jetzt musste sie noch seine E-Mails durchgehen, auch wenn es nicht sonderlich verlockend war, weitere Nachrichten des »netten Onkels« zu lesen.

»… sportlich, jünger aussehend und abstinent …«

»… Jurist, in hoher Position, mit gutem Einkommen, und ich verstehe es auch, Geld auszugeben …«

»… meine Hobbys außer Dir sind japanische Waffen, Sudokus, die Pflege meines Eigenheims …«

Kati Soisalo wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Oh diese Bedauernswerten, die auf so eine Liturgie hereinfielen. Im Ordner der Posteingänge fand sich immerhin eine interessante E-Mail von der Adresse [email protected]:

 

»Liebe Freunde,

in aller Eile teile ich mit, dass die Monatsversammlung morgen nicht stattfindet. Ihr wisst, warum.«

 

Die Unterschrift fehlte, und Kati Soisalo konnte im Internet nicht ein Unternehmen mit dem Namen PGW entdecken. »Ihr wisst, warum«, sagte sie mehrmals vor sich hin. Nach ihrer Kenntnis war Ukkola nicht Mitglied irgendeiner Organisation, Gesellschaft oder eines Männervereins, die sich regelmäßig trafen. Sie ging die restlichen E-Mails in allen Outlook-Ordnern durch – nichts Interessantes. Eine Sackgasse. Auch die E-Mails zu Sibirtek, die sich auf dem Dienstcomputer Ukkolas befanden, wären erst von Nutzen, wenn Jonny herausfand, wer die Nachrichten empfangen hatte.

Ihr Frust schlug in Zorn um, als sie hörte, wie die Tür der Kanzlei aufgeschlossen wurde. Sie wusste, wer da kam. Am liebsten hätte sie das Küchenmesser geholt und es diesem Ekel in die Stirn gerammt, als er hereinkam, aber sie begnügte sich damit, sitzen zu bleiben und einmal mehr abzuwarten, was da auf sie zukam. Überrascht stellte sie fest, dass Ukkola locker und entspannt aussah und sie mit einem breiten Lächeln anschaute.

»Wieder Single? Oder?«

Kati Soisalo zog die Brauen hoch, was hatte sich dieser Freak jetzt wieder ausgedacht?

Ukkola genoss die Situation. »Du scheinst die Letzte zu sein, die das erfährt. Eure Beziehung war also noch nicht so weit fortgeschritten, dass Kara dich den Behörden als seine nächste Angehörige angegeben hätte. Die man im Ernstfall anruft. Oder im Todesfall.«

»Was redest du Idiot da für einen Unfug?«

»Kara hat sich umgebracht. Er hat heute Nacht im Hotel ›Vaakuna‹ zwei Packungen seiner eigenen rezeptpflichtigen Medikamente geschluckt.« Ukkola grinste, als er ihre erschütterte Miene sah. »Kati Soisalo – ein Menschenkenner ohnegleichen. Da hattest du dich ja in einen echten Siegertyp verknallt.«

Kati Soisalos Gefühle und Gedanken waren in Aufruhr. Kara hatte am Vorabend einen niedergeschlagenen Eindruck gemacht, aber war das ein Wunder nach all dem, was er in der letzten Zeit durchmachen musste? Hätte sie Kara irgendwie helfen … eine Stütze sein müssen? Es fiel ihr schwer, zu glauben, dass Leo mitten in den Ermittlungen, bei denen er sein Leben freiwillig aufs Spiel setzte, Selbstmord begangen haben sollte.

»Du musst jetzt Leo Kara und seine Schnüffelei in Sachen Fennica endgültig vergessen«, sagte Ukkola streng.

»Leo wusste von Sibirtek. Und auch davon, dass neben Fennica und Wartsala viele weitere finnische Unternehmen mit Sibirtek zusammengearbeitet haben«, konterte Kati Soisalo aufgebracht und bereute es sofort. Es war ein Fehler, dass sie ihre Karten aufgedeckt hatte.

Ukkola zog die Brauen zusammen, ging zu seiner Exfrau hin und näherte seinen Mund ihrem Ohr, bis er sie fast berührte. »Kati, jetzt bewegst du dich wirklich in klippenreichen Gewässern. Wenn du in den Angelegenheiten von Sibirtek herumwühlst, dann ist das noch viel gefährlicher, als mir die Stirn zu bieten. Bei Sibirtek kann es, jetzt mal ganz im Ernst, passieren, dass du ins Gras beißt. An deiner Stelle würde ich dieses Wort niemandem gegenüber mehr erwähnen. Glaub mir, ich weiß, wovon ich spreche. Du hast vielleicht auch noch nicht erfahren, dass Pertti Forslund von Wartsala letzte Nacht bei einem Brand in seinem Haus in Kulosaari umgekommen ist. Ich kann dich beschützen, wir brauchen einander.«

»Ich brauche eher ein atopisches Ekzem als dich«, fauchte Kati Soisalo ihn an.

Ukkola war nur wenige Zentimeter entfernt und starrte sie einige Sekunden unverwandt an. »Ich warne dich. Du musst in den nächsten Tagen äußerst wichtige Entscheidungen treffen. Wenn du dich dabei schlau verhältst, bleibt dir Karas Schicksal erspart. Ich kann dir und vielleicht sogar deinen Eltern helfen. Ich habe Verbindungen zum Eigentümer dieser Lenta-Warenhäuser und kenne auch Leute bei der Bank deiner Eltern, was dich sicher überraschen wird. Und ich rede jetzt nicht vom Leiter irgendeiner kleinen Filiale.« Ukkola grinste.

»Ich habe es geahnt«, dachte Kati Soisalo und war nahe daran, Ukkola einen Tritt zu verpassen.

»Also, lass künftig die Finger von Fennica und zieh zurück zu mir nach Pitäjänmäki«, sagte Ukkola und wandte sich zum Gehen.

Kati Soisalo blieb mit gemischten Gefühlen in ihrer Kanzlei stehen. Kara hatte Selbstmord begangen, und Pertti Forslund war bei einem Brand umgekommen. Sie hatte Angst. Alle, die zu viel von Fennica wussten, starben: Mettälä, Forslund, Kara … Jukka Ukkola war vielleicht noch schlimmer mit Sibirtek verstrickt, als sie und Kara geahnt hatten. Und er wollte das Leben ihrer Eltern zerstören, wenn sie nicht seine Geliebte wurde. Das war ganz nüchtern und schonungslos betrachtet die Lage. Sie war gezwungen, die Ermittlungen allein weiterzuführen, Ukkola musste aufgehalten werden.

Kati Soisalo fühlte sich ohnmächtig, als ihr klar wurde, worin das einzige Mittel bestand, Jukka Ukkola loszuwerden und bei den Ermittlungen zu Sibirtek weiterzukommen: Sie musste eine neue Straftat begehen, die bedeutend gefährlicher war als der Dateneinbruch. Und das gleich am nächsten Morgen.

***

Oberst Abu Baabas trat von der rostigen Fähre auf die Insel Tuti, die am Al-Mogran, dem Zusammenfluss von Weißem und Blauem Nil, entstanden war, und erwiderte den Gruß der Männer vom Stamm der Mahas, die hier am Ufer Wache hielten. Die blühende, von Hecken, Zitrushainen und Gärten geschmückte grüne Insel zwischen den Millionenstädten Omdurman und Khartoum interessierte Baabas nicht im mindesten. Rashid Osman wollte ihn hier insgeheim treffen, und das bedeutete nichts Gutes. Hatte der Friedensstifter Osman vor, sich seiner zu entledigen, war die Gnadenfrist für die Aufklärung der Morde an Ewan Taylor und dem Witwenmacher schon abgelaufen?

Osman stand, wie am Telefon vereinbart, im Schatten einer Akazie auf dem Hof der alten Moschee. Die Männer gaben sich die Hand und begrüßten einander. Baabas hätte den Vizepräsidenten, der heute westliche Kleidung trug, fast nicht erkannt, seine Augen wurden von einer großen Sonnenbrille verdeckt.

»Du wunderst dich bestimmt, warum ich mich gerade hier mit dir treffen wollte«, sagte Osman, und Baabas nickte.

»Ich brauche deine Hilfe«, erklärte der Vizepräsident.

Baabas verstand nicht. »Du bist es doch, der für die Sicherheit des Staates verantwortlich ist. Du kannst dem Leiter von Al-amn al-ijabi oder mir den Befehl erteilen, fast alles zu tun, was du willst.«

Osman legte Baabas die Hand auf die Schulter und führte ihn zum Stand eines Mannes, der Apfelsinen verkaufte. »Ich brauche jemanden in El Obeid, der dort die Arbeit von Al-amn al-ijabi leitet. Jemanden, der absolut zuverlässig ist. Du würdest all deine hiesigen Verpflichtungen aufgeben und wärest künftig für die Aufklärung in der ganzen Region Kordofan verantwortlich.«

»Das ist der Todeskuss«, dachte Baabas. El Obeid war ein armseliges Kaff, alle für den Sudan wichtigen Beschlüsse wurden in Khartoum gefasst. Seine Vermutung war richtig gewesen, Osman wollte ihn abschieben, weil sich die Mordermittlungen hinzogen.

»So ein Amt ist leider nicht gerade eine Beförderung.«

Osman nahm am Stand des Obsthändlers zwei Apfelsinen und gab eine davon Baabas. »Du musst mir vertrauen. In der nächsten Zeit werden … große Umwälzungen passieren, dann ist es enorm wichtig, dass Khartoum in jeder Hinsicht die Kontrolle über die verschiedenen Regionen des Sudan behält. Deine Loyalität wird freigiebiger belohnt werden, als du ahnst.«

Baabas versuchte seine Wut im Zaum zu halten. Womit hatte er das verdient? Ohne es zu wollen, wurde er in dem Machtkampf, der im Sudan stattfand, auf die falsche Seite getrieben, ins Lager der westlich orientierten akademischen Friedensfreunde und Eierköpfe. Soweit er wusste, hatten solche Leute noch nie einen Machtkampf gewonnen. Jedenfalls nicht im Sudan.

»Ich werde mein Bestes tun«, sagte Baabas und hörte sich den Dank Osmans an, während sie zurück zum Fährufer gingen.

 

Rashid Osman ließ Oberst Baabas neben einem bedächtig kauenden Kamel am Sandufer zurück, wo er auf die öffentliche Fähre warten musste. Der Vizepräsident stieg in das Schnellboot des Innenministeriums. Das Treffen war genau nach Plan verlaufen. In El Obeid wäre Baabas aus dem Visier, niemand durfte etwas von seiner eigenen Beteiligung an der monatlichen Großlieferung von Sklaven, die der Oberst besorgte, und von den Einzelheiten der Ermittlungen zu den Morden an dem UN-Mitarbeiter und am Witwenmacher erfahren. Noch nicht.