Kreativ sein, damit man nicht vor Langeweile stirbt

»Vielleicht kann es so ein Festival nur hier geben«, sagt Helgi Björnsson, von seinen Fans auch Holy B. genannt, weil sein Vorname »der Heilige« bedeutet. Der Schauspieler und ehemalige Rockstar kommt ursprünglich aus den Westfjorden und trat Ostern als Überraschungsgast beim Festival auf. Das Publikum tobte und jubelte. Seine Landsleute seien gut darin, Events zu schaffen, sagt der 52-Jährige. »Wir müssen tatkräftig und erfinderisch sein, sonst würden wir in den langen Wintern vor Langeweile sterben.«

Kunst wird in Island auf keinen hohen Sockel gestellt, sie passiert beiläufig und ist überall: in der Scheune eines abgelegenen Hofs im Norden des Landes ebenso wie in der Hauptstadt Reykjavík oder in einer leerstehenden Fischfabrik. Man kauft sich ein altes Haus, renoviert es selbst und macht daraus eine Künstlerresidenz.

Dass er als Isländer ein bisschen anders ist, merkte Mugison unter anderem, als er auf einer Londoner Schule Musikproduktion studierte. Kurz vor ihrem Abschluss sollten die Studenten ihre Pläne für die Zukunft vorstellen. Die Franzosen, Engländer und Deutschen hatten fast Zehnjahrespläne gemacht. Einer von ihnen, erinnert sich Mugison, wollte erst Teejunge, dann Runner, dann dritter Assistent und irgendwann Produzent werden. Der damals 26-Jährige schämte sich beinahe für seinen kurzen Vortrag: »Ich möchte ein Album machen, es auf meinem eigenen Label veröffentlichen und noch Zeit für die Familie haben.« Genau das tat er dann: Neun Jahre später hat Mugison bereits fünf Alben auf den Markt gebracht, ist verheiratet, Vater von zwei Söhnen und lebt mit seiner Familie in einem kleinen Ort bei Ísafjörður, zumindest wenn er nicht gerade tourt.

»Es kommt nicht darauf an, was du tun kannst, sondern was du tatsächlich machst«, hat ihm ein erfahrener Musiker mal gesagt, alles kann sich von heute auf morgen ändern, also nutze den Moment. Das lehrt sie die Natur und bringt viele Isländer dazu, sich mit einer nahezu kindlichen Naivität an kreative Unternehmungen zu wagen. Einige publizieren ihre Familiengeschichte, andere produzieren ein Album und bezahlen den Tontechniker damit, dass sie in seinem Studio einen neuen Fußboden verlegen; der Landarzt schreibt ein Drehbuch und verfilmt die Geschichte mit dem halben Dorf als Besetzung.

Probiere es einfach, es wäre dumm, es nicht zu tun!

Fast alle, seien es nun der alte Seemann, die Bäuerin oder der Wirtschaftsstudent, haben schon in mindestens einer Band gespielt, auf der Theaterbühne gestanden, Gedichte verfasst oder ein Buch veröffentlicht. So ist denn auch die Reaktion darauf, dass ich an einem Buch arbeite, in etwa so, als würde ich sagen, dass ich am Wochenende eine Wanderung mache. »Ah, du schreibst ein Buch? Okay.« Punkt.

In Deutschland ist das, wie jeder weiß, ein bisschen anders. Natürlich gibt es bei uns Tausende Kreative und noch mehr Hobby-Musiker und Dichter, aber wie viele von uns haben sich schon vorgenommen, ein kreatives Projekt anzugehen, und es dann doch wieder verworfen? Meine Großmutter zum Beispiel, geboren 1924, fand vor vielen Jahren den perfekten Titel für ihre Biografie: »Ohne Pille und Kondom, sieben Töchter und einen Sohn«. Geschrieben ist sie bis heute nicht.

Kreatives kann auch nebenbei passieren, ein kurzer Moment sein. Hlynur Hallsson etwa macht diese flüchtige Kunst, die manchmal gar nicht direkt als solche zu erkennen ist. Einmal steckte er in der Nähe seines Wohnortes Akureyri mitten auf ein großes Feld eine einzelne EU-Flagge. Kurz darauf war sie verschwunden. Der Künstler befestigte eine neue Flagge in der Erde, doch auch die war am nächsten Tag weg. Bald berichteten die Medien darüber, und Hlynur erzählte den Reportern, dass sie Teil eines Kunstprojektes seien, mit dem er die Frage stellen wolle, ob bald alles der EU gehöre. Schließlich sei eine Flagge ja auch ein Symbol für die Inbesitznahme von Ländern. Am Tag nach den Berichten stand eine der Fahnen wieder auf dem Feld, dazu ein Zettel mit der Entschuldigung des Diebes: Er hatte es irrtümlich für eine Pro-EU-Aktion gehalten und die Flagge deshalb demonstrativ entfernt. Auch kleine Aktionen oder Happenings wie diese bereichern den Alltag.

Und Ideen hat jeder von uns: Ist sie plötzlich da, eine neue Idee, dann sorgt sie für ein Kribbeln im Bauch, beinahe so, als wäre man frisch verliebt. Sie spinnt sich weiter durch die Gehirnwindungen, man lässt es laufen. Macht Notizen, Skizzen. Und dann … lässt man sich ablenken, kocht etwas, sieht fern, die Familie will Aufmerksamkeit oder noch viel schlimmer, diese fiesen, skeptischen Stimmen tanzen durch unseren Kopf und sagen: Kann ich das überhaupt? Das habe ich doch gar nicht gelernt. Was sagen meine Freunde und Nachbarn, wenn ich das mache? Und sollte ich vorher nicht wenigstens einen Kurs an der Volkshochschule belegen? Und schon läuft die Kreativitäts-Verhinderungs-Maschinerie. Dabei wissen wir doch schon von Joseph Beuys, dass jeder ein Künstler ist, wenn er denkt und handelt wie einer.