Schnell mal etwas zimmern

Am frühen Abend sehen wir von einem Bergmassiv auf ein von breiten Flüssen durchzogenes Tal mit leuchtend grünen Wiesen. In der Ferne liegt auf einem schwarzen Lavahügel ein Gebäude: unser Ziel. Eine Stunde später erreichen alle 28 Wanderer Dalakofinn, die Talhütte.

Versprochene Kapazität an Schlafplätzen: 30

Tatsächliche Kapazität: 18

 

Der Hüttenbesitzer hatte das Holzhaus kurz vorher umgebaut und versprach Reiseleiterin Ósk selbst am Vorabend noch, rechtzeitig fertig zu werden. »Ja, ja, das klappt schon.« Typisch Island, alles wird auf den letzten Drücker erledigt. Doch wo eigentlich rund zehn Schlafplätze sein sollten, stapeln sich lediglich ein paar Balken, Bretter und Werkzeuge. Von wegen þetta reddast! Aber irgendwie dann auch doch wieder, denn als der Schlafplatzmangel entdeckt ist, legen einige Wanderer ohne zu zögern los. Sie basteln eine Zwischenetage, auf der man weitere Matratzen hinlegen kann; die Treppe, um dort hochzukommen, zimmern zwei Männer aus herumliegenden Brettern.

Keiner beklagt sich, was würde es auch bringen? (Ósk ärgert sich, doch die Teilnehmer beruhigen sie und versichern ihr, dass das überhaupt nicht schlimm sei.) Schließlich sind die Isländer es gewohnt, sich spontan auf neue Situationen einzustellen, sei es nun ein plötzlicher Sturm oder eine unfertige Hütte in der Einsamkeit.

Dann rücken sie nachts eben ein bisschen enger zusammen, die Nähe macht den meisten nichts aus. Einer der älteren Mitreisenden sagt: Meine Eltern sind noch im Torfhaus aufgewachsen, da können wir es uns wohl zwei Nächte in einer gemütlichen Holzhütte gut gehen lassen. Das Haus besteht, mal abgesehen von der Toilette, aus einem großen Raum. Überall verteilt, an Balken und improvisierten Wäscheleinen, hängen jetzt die pitschnassen Klamotten zum Trocknen; vor einem kleinen Radiator stapeln sich feuchte Wanderstiefel.

Während die einen das Nachtquartier bauen, helfen die anderen beim Kochen des Abendessens. Der Proviant und die Köchin kamen über einen Umweg mit dem Hochlandjeep zur Hütte. Köchin Stina zaubert in einer riesigen Pfanne eine Tunfischpasta, zum Nachtisch serviert sie Zwetschgengrütze mit Sahne, einige haben sich Bier und Wein mitgebracht.

Unter den Teilnehmern sind auch Borghildur und Vilhjálmur aus Reykjavík, deren Nachbarin das Gedicht über ihre Bettlaken schrieb. Sie sind die Eltern von Reiseleiterin Ósk, ihre zweite Tochter Björg und deren Mann wandern ebenfalls mit. Die Tour ist also eine Art Familienausflug, die anderen kennen sich teilweise auch untereinander oder waren schon mehrmals mit Ósk unterwegs. Borghildur prüft ihren Blutzuckerspiegel, sie hat Diabetes, muss immer genau aufpassen und trägt eine Insulinpumpe bei sich.

Manche würden ihr vielleicht von so einer Tour abraten, »doch wenn ich durch die Natur wandere, geht es mir immer gut. Ich fühle mich stark«, sagt die 68-Jährige beim Abendessen. Und war am Tag schneller als manche Dreißigjährige. »In der frischen Luft tanke ich Energie.«

Für eine andere Teilnehmerin ist die Wanderung eine Art »Kloster«. In dieser Zeit komme sie zur Ruhe, denke über ihr Leben nach und was wirklich wichtig sei. »Wenn man hier draußen ist, braucht man nicht viel«, sagt auch Wanderexpertin Ósk. »Du kannst dich mit Sand oder Moos waschen, Wasser aus den Gletscherflüssen trinken, die vitaminreichen Blaubeeren essen und dich in den heißen Quellen aufwärmen.« Da sind die Alltagssorgen weit weg und bedrohliche Finanzkrisen ausgeblendet.

Ist die Natur nicht auch gefährlich? Sicher. Alle wissen, dass man im weiten Hochland nicht alleine wandern sollte. Die Isländer wachsen mit der Erkenntnis auf, dass die Natur größer ist als sie und man es sich mit ihr besser nicht verscherzen sollte. Sie hat das Sagen, die Menschen sind nur winzige, unbedeutende Gäste. Sich über die Natur oder das Wetter aufzuregen, kämen den meisten Isländern daher nicht in den Sinn. Die Natur hat immer Recht.

 

Gegen 23.00 Uhr ist die Sonne untergegangen. Bei Kerzenlicht sitzt die Gruppe bis Mitternacht in der Hütte. Die Nacht ist kurz; von überall erklingt ein Schnarchen, es klappert, weil jemand auf die Toilette geht, um 7.00 Uhr klingelt 15 Minuten lang ein Handywecker. Keiner beschwert sich oder stellt ihn aus. Ich nutze den ungewollten Weckruf und gehe ins Freie. Den Tipp hatte unsere Wanderführerin mir am Vorabend ohnehin gegeben, als ich sie fragte, wie man so richtig in die Natur eintauchen könne. Denn tagsüber, im Gespräch mit anderen, übersieht man manchmal die Landschaften. Von der Hütte aus habe ich einen weiten Blick ins Tal. Barfuß laufe ich durch das weiche, regengetränkte Moos und setze mich an den Bergrand.

Lasse das Bild auf mich wirken: Von unten steigt schwefeliger Rauch aus einer heißen Quelle empor, das Wollgras weht im Wind – früher wurde es als Docht für Öllampen genutzt –, das Plätschern der Flüsse ist zu hören, in der Ferne blökt ein Schaf. Ich werde von der Landschaft förmlich aufgesogen. Je länger ich dort sitze, desto mehr höre, fühle und rieche ich. In diesem Moment ist die Natur überwältigend.

Schon zehn Minuten Panoramagucken reichen, um gestärkt und entspannt in den Tag zu starten. Das funktioniert überall – im nächsten Wald, am Meer, im heimischen Garten oder beim Blick aus dem Fenster. Es ist wie Meditation. Um acht Uhr morgens singen Ósk, ihre Schwester Björg und die Mitwanderin Fanney für die anderen ein isländisches Volkslied zum sanften Aufwecken. Ein wenig müde taumeln die anderen aus ihren Betten, zum Zähneputzen gehen viele vor die Hütte und spazieren dabei umher, mit Blick auf den Eyjafjallajökull. Übersetzt bedeutet der für viele schwer auszusprechende Name übrigens ganz einfach »Inselberggletscher«.

 

Mooswanderung

Im August 2010 steigt nur weißer Rauch auf, die dunkelgraue Asche des berühmt gewordenen Vulkans liegt wie ein dünner Film über der gesamten Region.

 

Noch bevor wir frühstücken und uns die Brote für den Tag schmieren, animiert uns die Reiseleiterin zur Gymnastik. Die Arme hoch, auseinander, ausschütteln und dann beim Ausatmen »Huiiiii« rufen. (Einige Übungen erinnern an die Tele-Skigymnastik Rosi Mittermaiers.) Gut aufgewärmt bringt uns der Hochlandjeep wenig später in zwei Gruppen zum Startpunkt. Das blaue Gefährt bahnt sich quietschend und ächzend seinen Weg durch das unwegsame Gelände. Auf felsigen Abschnitten schaukelt der Jeep hin und her, wie ein Boot auf rauer See. Manchmal sieht man aus dem Fenster direkt in den Abgrund und ist erleichtert, wenn der Jeep wieder in die andere Richtung schwankt.

Eiswand, bedeckt mit der Asche des Eyjafjallajökull

Durchgeschüttelt stoppen wir am Ende einer hoch gelegenen Schotterpiste, von dort blickt man auf eine gigantische Wand aus Eis. Bis vor einigen Jahren war Íshellar eine riesige Höhle, doch dann brach der Bogen ein, ein Wanderer kam dabei ums Leben. Auch jetzt sollte man sich dem eisigen Koloss nur vorsichtig nähern, jederzeit könnten weitere Brocken abfallen.

Ehrfürchtig, aber auch neugierig stehen wir vor der Eishöhle, die ebenfalls von der grauschwarzen Asche des Eyjafjallajökull bedeckt ist, danach wandern wir querfeldein in eine Niederung: Aus einer Quelle spritzt kochendheißes Wasser mit lautem Getöse in die Höhe. »Das ist eine von weltweit drei natürlichen Springquellen«, erklärt Geologe Sigmundur Einarsson. Sonst gibt es nur noch eine in Neuseeland und auf Island den Geysir Strokkur, jenes beliebte Touristenziel, in das die New Yorker Künstlergruppe ihr grünes Pulver streute.

Kaum einer kennt jedoch diese abgelegene Quelle, kein vorgetretener Weg führt dorthin. Dem Umweltverband und Ósk ist es wichtig, die Gruppe an Orte wie diese zu führen, um darauf aufmerksam zu machen, dass diese Flecken in Gefahr sind. Denn Investoren aus der Großindustrie wollen das Naturschutzgebiet bald für die Energiegewinnung nutzen. Damit wäre diese unberührte Landschaft in Gefahr, wie zuvor schon Kárahnjúkar, ein Vulkangebiet im Osten Islands. Bereits seit 2003 machen Ósk und eine befreundete Yogalehrerin Touren in bedrohte Gebiete. Fast tausend Leute wanderten mit ihnen bis 2006 zum Kárahnjúkar. Es war der Lebensraum wild lebender Gänse und Rentiere, der mächtige Gletscherfluss Jökulsá á Brú schlängelte sich durch das einsame Naturschutzgebiet.

 

Genau dort wurden ein riesiger Stausee und ein Wasserkraftwerk gebaut, man errichtete es ausschließlich für einen amerikanischen Aluminiumkonzern, damit dessen Aluminiumschmelze in den Ostfjorden mit günstigem Strom versorgt werden kann. Ósk war im September 2006 als eine der Letzten vor Ort, bevor die Fläche von 57 Quadratkilometern überflutet wurde. Unmittelbar nach ihrer letzten Tour riss man die Brücke, die Verbindung zum Wandergebiet Kárahnjúkar, ab. »Es war ein sonniger Herbsttag und die Moospflanzen blühten«, erzählt sie. »Die Erde glühte förmlich, es war seltsam still.« Viele Prominente und Künstler begleiteten die Isländerin damals auf einer ihrer Wanderungen. Sie übernachteten gemeinsam in Zelten, sangen morgens Volkslieder und liefen durch eine Landschaft, die es kurz darauf nicht mehr geben würde.

Brodelnde Untergründe

Eirún, eine der Künstlerinnen von der Icelandic Love Corporation, war ebenfalls mit dabei, sie beschrieb den Moment so: »Es fühlte sich an, als würde die Natur weinen.«

Andri Snær Magnasons Film ›Draumalandið‹ dokumentiert das gigantische Kárahnjúkar-Staudamm-Projekt. Selbst aus der Vogelperspektive ist der 193 Meter hohe Staudamm riesig. Die Argumentation der damaligen Industrieministerin: »Diese Region ist nichts, was man als besonders schön bezeichnen würde. Sicherlich, ein großes Naturgebiet wird überflutet, aber so schön ist es nicht. Auf jeden Fall nicht, wenn man es mit anderen Orten in Island vergleicht.« Damals wurde vielen Isländern zum ersten Mal richtig bewusst, dass ihre Natur endlich ist. Es gab etliche Protestaktionen und Konzerte, die Überflutung des Hochlandes konnte allerdings nicht verhindert werden. Bis heute wird darüber gestritten, ob die geschaffenen Arbeitsplätze die Zerstörung der Natur rechtfertigen.

Der Geologe Sigmundur und sein Kollege wurden von der Regierung beauftragt, ein Gutachten über den Wert der Torfajökull-Region zu erstellen. Kaum einer kennt sie, auch Sigmundur war vor seinem Auftrag noch nie dort und zeigte sich überrascht, was das Hochtemperaturgebiet alles zu bieten hat. Das Ergebnis ihrer Studie: Es ist besonders schützenswert. Heute kennen die Geologen jeden Winkel. Auch unweit der Springquelle dampft und raucht es. An den Geruch von verfaulten Eiern haben wir uns gewöhnt beziehungsweise ist er für Isländer ohnehin alltäglich, denn warmes Leitungswasser riecht ebenfalls schwefelig. Früher machten sich die Menschen diese Erdwärme direkt zunutze, um in heißen Quellen Eier zu kochen oder Löcher in die Erde zu graben, in denen dann Brot gebacken wurde.

An einer großen grauen Lehmquelle bleibt der Geologe Sigmundur stehen und warnt: »Diese Quelle ist viel zu heiß, hier könnt ihr nicht baden.« Er erklärt, dass die blaugrauen, blubbernden Töpfe Quellenbakterien, also lebendige Wesen sind. Und dann passiert es. Als Mitwanderin Fanney hinter dem Geologen vorbeigehen will, versinkt sie bis zur Wade im 100 Grad heißen Matsch. Wanderstiefel und wasserfeste Hose fangen einiges ab, doch an einer Stelle verbrennt sie sich. Schnell bringen die anderen sie zum nahe gelegenen Gletscherfluss, kühlen die Wunde. Alles halb so wild, sagt Fanney und wandert kurz darauf weiter.

Die Natur zwingt dich, aktiv zu sein – auch bei Regen. Bei uns in Mitteleuropa könnte man sich vielerorts im Wald unterstellen, doch das ist hier nicht so einfach. In Island gibt es nur wenige Wälder, und die meisten Birken wachsen eher krumm und klein vor sich hin. Ein bekannter Witz fragt: »Was macht man, wenn man sich in einem isländischen Wald verläuft?« Antwort: »Einfach aufstehen.«