Bedrohungen mit Humor nehmen

An so etwas Verrücktes wie Bäume ist in dieser Gegend eh nicht zu denken. Das Einzige, was im Hochland wächst, sind kleine Bergpflänzchen und teilweise giftgrünes Moos. Mittags machen wir an einer windgeschützten Stelle Rast, essen die mitgebrachten Pfannkuchen, Brote und Nüsse. Ein kleiner Fluss plätschert den Berg herunter, einige füllen ihre Flaschen mit kristallklarem Wasser auf. (Das heimische Trinkwasser ist ihr ganzer Stolz, so wie für manche Deutsche das Vollkornbrot.) Die Natur der Vulkaninsel mag unwirtlich sein, aber immerhin gibt es in Island fast keine gefährlichen Tiere. Gut, man darf der Küstenseeschwalbe nicht zu nahe kommen, wenn sie gerade nistet, denn dann attackiert sie jeden laut kreischend, der sich ihrem Nest nähert, und pickt Vorbeigehende mit ihrem spitzen Schnabel in den Kopf. Ansonsten gibt es höchstens noch Eisbären. Eigentlich leben die gar nicht in Island, doch alle paar Jahre mal wird einer auf Eisschollen von Grönland angetrieben – und dann meist schnell erschossen, denn die im Schnitt zehn Zentner schweren Bären sind nicht leicht einzufangen.

 

Vilhjálmur, Ósks Vater, gibt eine Geschichte zum Besten, die seine Familie vor über dreißig Jahren erlebte. Ihre Kinder waren damals noch Teenager. Gemeinsam fuhren die vier nach Hornstrandir, einem abgelegenen Gebiet in den Westfjorden, um eine Woche zu wandern. Damals wie heute kommt man dort nur mit dem Boot hin und wird dann nach einer Woche wieder abgeholt. Für Notfälle gibt es eine kleine Hütte, sie ist jedoch viel zu klein als Nachtquartier. Also zelten die Wanderer.

Ob wohl wieder ein Eisbär kommt?

Auf dem Boot waren noch ein paar andere Touristen, unter anderem ein etwa dreißigjähriger Australier. Sie plauderten, und irgendwer erzählte, dass vor kurzem ein Eisbär in Island gesichtet wurde. »Was machen wir, wenn der nach Hornstrandir kommt?«, fragte der Australier nervös. »Wirf ihm eine Orange hin, er braucht mit seinen Krallen eine Weile, bis er sie aufgeschält hat. In der Zwischenzeit läufst du weg«, scherzte Vilhjálmur. Über ihm hing ein Gewehr, das tatsächlich als Hilfe gedacht war, falls ihnen ein Eisbär zu nahe kommen würde. »Oder wir streuen ein paar Reißzwecken um uns herum«, sagte ein anderer.

Der Gast vom fernen Kontinent, der viele große und gefährliche Tiere beheimatet, war geschockt. Das sollen die einzigen Tipps sein? Verängstigt wartete er, in Hornstrandir angekommen, den ganzen Tag in der Nothütte, während die anderen unbesorgt durch die friedliche Landschaft wanderten. Abends bat der Australier die Isländer, per Notruf einen Helikopter zu holen. Mit einem Nervenzusammenbruch wurde er ins Krankenhaus gebracht, so viel Natur und Unsicherheit konnte er nicht ertragen. »Am Tag danach war der Seeweg durch Eisschollen gesperrt«, erinnert sich Vilhjálmurs Frau Borghildur. »Es wäre also durchaus möglich gewesen, dass uns das Boot nach einer Woche nicht hätte abholen können.« Doch alles ging gut, auch der Eisbär tauchte nicht auf. Der Australier wurde damals am selben Tag wieder aus dem Krankenhaus entlassen.

Tipps für einen Tag in der Natur

  • Wenn du Eisbären begegnest, mache die Jacke zu. Offensichtlich bist du in einer kälteren Region unterwegs.

  • Wenn du Blaubeeren begegnest, iss sie. Sie sind lecker und haben sehr viel Vitamin C.

  • Solltest du rosa Bären sehen, waren das eben wohl doch keine Blaubeeren. Von nun an: Finger weg.

  • Wenn du Braunbären siehst: Vorsicht, die Viecher sind echt gefährlich!

  • Begegnet dir ein Autofahrer, biete an, ihn mitzunehmen.

Da diesen Sommer noch kein Eisbär gesichtet wurde, können wir beruhigt weiterlaufen. Seit Fanney in den hundert Grad heißen Schlamm getreten ist, schauen wir alle genauer auf den Untergrund. Denn wie man an den zahlreichen Vulkanausbrüchen merkt, ist Island noch immer mitten im Entstehungsprozess (geologisch betrachtet ist die größte Vulkaninsel der Welt noch recht jung, 17 bis 20 Millionen Jahre alt). An diesem Morgen gab es wie so oft ein leichtes Erdbeben. Quer durchs Land, von Nordost bis Südwest, liegt eine aktive Riftzone, dort driften die beiden Kontinentalplatten auseinander – es ist das Zuhause der Vulkane, Erdspalten, Lavafelder und heißen Quellen. Der westliche Teil Islands gehört zur amerikanischen Kontinentalplatte, der östliche zur eurasischen. Ein gespaltenes Land, im wahrsten Sinne des Wortes. Und ein wandelbares. Vorhin liefen wir noch über die Rhyolithberge, nun stehen wir auf einer braunschwarzen Hochebene – sie ist gespickt mit glänzendem Obsidian, vulkanischem Gestein, das aussieht wie Glas – und blicken auf eine Weite mit grünen Bergmassiven, hinter denen sich weiße Gletscher auftürmen.

Nur wenige Kilometer weiter liegt Þórsmörk, der »Wald des Thors«, dort wachsen sogar Bäume. In einem grünen Tal warten am dritten Tag die beiden Busse auf die erholten Wanderer und bringen sie wieder in die Zivilisation. Die erste Station ist eine Tankstelle. Der Hochlandjeep muss seine riesigen Reifen aufpumpen. Die Wanderer stärken sich mit klassisch isländischen Snacks: Hot Dogs und Eis.

Zum ersten Mal seit drei Tagen lesen wir in der Zeitung, was in der Welt passiert ist. Auf dem Titelblatt sieht man einen Jeep abgebildet, der fast in den Fluten versinkt. Zwei französische Touristen wären am Vortag beinahe gestorben, weil sie trotz aller Warnungen mit ihrem kleinen Jeep den Gletscherfluss Krossá bei Þórsmörk überqueren wollten. Sie schätzten die Tiefe und Kraft der Ströme falsch ein. Nur durch Glück, weil der Geländewagen an einem Stein hängen blieb und ein Isländer sein eigenes Leben riskierte, konnten die beiden Franzosen gerettet werden. Sonst wären sie vermutlich entweder im Jeep oder in den Fluten ertrunken. Der Isländer, ein gelernter Rettungshelfer, schnürte sich ein Seil um, das er an sein Auto befestigte, und ging zwei Mal in den Fluss, um die beiden Gestrandeten ans Ufer zu bringen. Nachdem er das geschafft hatte, kollabierte er und wurde ohnmächtig. Inzwischen waren jedoch die angeforderten Rettungskräfte da und konnten sich um alle kümmern.

Unfälle wie diese passieren auch Einheimischen, nicht immer ist es so dramatisch. Dass Fahrzeuge im Fluss stecken bleiben, kommt regelmäßig vor. Der dänisch-isländische Künstler Ólafur Elíasson schuf dazu eine eigenes Projekt: ›Bílar í ám‹, »Autos in Flüssen«, das kürzlich auch als Buch herausgegeben wurde. Darin sind 35 ausgewählte Fotos von Jeeps und sogar Hochlandbussen zu sehen, die in Gewässern stecken geblieben sind oder versinken. Die Privataufnahmen aus mehreren Jahrzehnten zeigen, wie die Fahrer versuchen, sich wieder zu befreien – mit Traktoren, anderen Wagen und manche mit purer Muskelkraft. Elíasson will mit seiner Arbeit den Kampf der Menschen mit der unberechenbaren Natur beschreiben, es ist zugleich eine ironische Anspielung auf die Finanzkrise.