Die Insel Bielefeld

Dramatisch, existenziell und abenteuerlich, wie die Landschaften bis heute sind, war seit jeher auch das Leben auf dieser Insel. Das prägte die Identität ihrer Bewohner. Wie fühlt sich Identität an, wenn ein ganzes Volk aus gerade mal einer Drittel Million Menschen besteht? Man muss sich das in etwa so vorstellen, als wäre Bielefeld eine einsame Insel im weiten Atlantik. Ungefähr so viele Bewohner hat ganz Island. Bielefeld wäre also eine Nation mit eigener Sprache, die sonst fast niemand auf der Welt versteht. Natürlich verreisen die Isländer häufig, bleiben zuweilen einige Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte im Ausland, doch die meisten kehren irgendwann zurück.

Sie besiedeln eine Fläche so groß wie Bayern und Baden-Württemberg zusammen, doch da der Großteil der Menschen in und um Reykjavík wohnen, leben sie sehr nah beieinander. Alles andere ist dafür sehr weit weg: Schottland 800 Kilometer, Norwegen fast tausend und Berlin rund 2400 Kilometer. Die Isländer können nicht mal eben mit dem Auto ins Nachbarland fahren. Freilich gibt es viele internationale Flugverbindungen, doch eine Insellage isoliert immer – und verbindet die Bewohner stärker miteinander.

Vilborgs Haus

Selbst in 101 Reykjavík, dem zentralen Viertel der Hauptstadt, ist die Vernetzung der Gesellschaft groß. Die 68-jährige Borghildur Óskarsdóttir und ihr Mann Vilhjálmur Hjálmarsson leben in einem dieser typischen alten Holzhäuser, die der Innenstadt ihren Charme und das dörfliche Flair geben. In ihrer Straße Laufásvegur stellen die Anwohner bei schönem Wetter Korbstühle vor die Tür, die Fahrräder werden unabgeschlossen ins offene Glashaus gestellt, und die Bettwäsche flattert draußen im Wind.

 

Im Herbstwind

wehen die schneeweißen Laken

meiner Nachbarin

wie unbeschriebene Blätter

bitten mich um neue Gedichte

»Nachmittag im September«

 

Mit diesen Zeilen hat Vilborg Dagbjartsdóttir die wehenden Bitten erfüllt. Sie schrieb das Gedicht auf ein schlichtes weißes Blatt Papier und schenkte es ihrer Nachbarin Borghildur. Einige Monate später erschien es auch in einem Gedichtband, anlässlich Vilborgs 80. Geburtstag. Sie ist in Island eine bekannte Poetin.

Das Papier mit dem Originalgedicht hängt inzwischen eingerahmt neben jenem Fenster, das auf den mit Rosen bewachsenen Hinterhof zeigt, in dem Borghildur stets ihre Wäsche aufhängt und von dem aus sie das dunkelblaue Wohnhaus der Dichterin sehen kann. 2003 verstarb Vilborgs Mann, nun lebt einer ihrer Enkel bei ihr. Bei uns fände man das vielleicht ungewöhnlich, doch auf der Insel kommt es durchaus vor, dass 23-Jährige eine Wohnung im Haus der Großmutter haben oder junge Frauen mit ihren Partnern in der Einliegerwohnung der zukünftigen Schwiegereltern leben.

Seit fast 130 Jahren trotzt Borghildurs mit Wellblech verkleidetes Haus in Blassrosa jedem Wind und Wetter, auch wenn es bei Sturm in der Wohnung unter dem Dach gewaltig ächzt und krächzt. In den Achtzigern wuchsen dort ihre beiden Töchter auf, heute übernachten hier Familienangehörige und Freunde, wenn sie zu Besuch sind. Auch ich habe dort schon mehrmals einige Monate gelebt. Auf knapp 35 Quadratmetern gibt es ein kleines Bad, eine Küche mit Wohnzimmerbereich und zwei Schlafzimmer. Das zweistöckige Gebäude ist sehr gemütlich, aber hellhörig, die Decken sind niedrig, was durch die Dachschrägen noch verstärkt wird. Liegt man bei Regen in seinem weichen Bett, fühlt es sich an, als würden die Tropfen direkt auf den Kopf prasseln.

Borghildurs Holzhaus in der Straße Laufásvegur ist ein kleines Stück Island. Eine Insel auf der Insel – und ein Ort, an dem man die isländische Lebenskultur mit allen Sinnen erleben kann. Hören sie und ihr Mann morgens Radio, vibriert an dieser Stelle in der Etage darüber der Boden. Kochen sie abends, zieht der Duft von gegrilltem Lachs oder Lammsteaks herauf.

In isländischen Wohnungen lebt man ein bisschen das Leben der anderen mit, und trotzdem lässt jeder dem anderen Freiraum, keiner beschwert sich, wenn ein Dreijähriger stundenlang herumtollt, der Hund den Mond anbellt oder die pubertierenden Sprösslinge der Nachbarn nachts betrunken die Treppen raufpoltern. So wie auch Borghildur kaum noch hochschreckt, wenn in der Wohnung über ihr die Sirenen losgehen, weil die Gäste aus Versehen durch den aufsteigenden Dampf von kochenden Nudeln den empfindlichen Rauchmelder auslösen. Die Lösung: beim Kochen immer alle Fenster und Türen öffnen. Seit fünfzig Jahren sind Borghildur und Vilhjálmur ein Paar, wie die meisten Isländer sind sie immer unterwegs; zur Ruhe werden sie wohl nie kommen. Beide arbeiten noch, Borghildur ist Künstlerin und ihr bald siebzigjähriger Mann Architekt. In der Freizeit gibt es ständig etwas zu tun, sei es im Garten und/oder im Sommerhaus, außerdem gehen die beiden einmal in der Woche zu einem Uni-Kurs über die Njáls-Saga, die in der Region ihres Sommerhauses spielt: Sie haben ein Theaterabo, Borghildur macht Yoga, Vilhjálmur geht Angeln und Golfen, und dann kommen regelmäßig Freunde wie die Dichterin oder die Familie zu Besuch. Ihre beiden Töchter und die sechs Enkelkinder leben natürlich in der Nachbarschaft. So können Borghildur und Vilhjálmur stets kurzfristig einspringen, wenn einer der Enkel abends mal betreut oder bekocht werden muss.

Borghildur in ihrem Gartenhaus

In Reykjavík liegt vieles um die Ecke. Von ihrer Wohnung aus hören sie die balzenden Schwäne und schnatternden Enten am Tjörnin, einem großen Teich, der sich direkt neben dem Rathaus befindet und bei Kindern und Touristen beliebt ist. Das Parlament, der Laugavegur, der Amtssitz der Premierministerin – alles ist in zwei Minuten Fußweg erreichbar.

Da jeder, sogar die Premierministerin und der Präsident, mit Vornamen angesprochen wird, schafft das zusätzliche Nähe, es gibt weniger Hierarchien als in großen Staaten. Schon früher hielt sich ein Bauer für genauso viel wert wie der König. Da die Nachnamen im Prinzip keine Bedeutung haben, sind logischerweise auch die Telefonbücher nach Vornamen sortiert. Darin finden sich 382 Viljhálmurs und 100 Borghildurs. Ich kenne mittlerweile drei Villis, so der Kosename, zwei Borghildurs und sogar vier Halldórs. Zum Glück haben viele von ihnen Zweitnamen oder sie sind durch ihren Job, die Partnerin oder den Wohnort leicht einzuordnen, sodass es im Gespräch nicht zu Missverständnissen kommt. Schließlich kennen die Isländer selbst ja auch etliche Halldórs und Villis.

Reykjavík: der Tjörnin

Die Dopplungen kommen unter anderem daher, dass die Isländer ihren Kindern nicht einfach jeden Namen geben dürfen. Es gibt eine Kommission, die bestimmt, welche erlaubt sind. Das ging früher sogar so weit, dass Einwanderer ihren eigenen Namen ablegen mussten, wenn sie isländische Staatsbürger werden wollten. Ein Vietnamese hieß dann vielleicht Jón Magnússon. Sosehr das Inselvolk auch auf die Wahrung seiner sprachlichen Eigenheiten achtet, irgendwann wurde der Namenraub dann doch als diskriminierend empfunden. Mittlerweile können Ausländer ihre Namen behalten und Isländer neue beantragen. Wichtig bei der Namensgebung (und das eigentliche Problem) ist, dass die Namen sich dem Deklinationssystem anpassen müssen, denn der Nachname wird aus dem Genitiv des Vornamens des entsprechenden Elternteils gebildet. Und Namen werden wie andere Nomen im Isländischen dekliniert. Mein Name Alva heißt dann zum Beispiel Ölvu.

Reykjavík: die Flaniermeile Laugavegur

Bis heute ist es üblich, dass die Namen in der eigenen Familie bleiben, oft werden die Kinder nach ihren Großeltern oder nahestehenden Verwandten benannt, auch drei Enkel von Borghildur und Villi tragen ihre Namen. Welch große Rolle die Familie in Island spielt, sieht man ebenfalls auf der Internetseite des Parlaments. So nennen die Abgeordneten in ihrem Lebenslauf ihre Eltern, Geschwister, Kinder, Ehepartner und Expartner mit vollem Namen und Geburtsdatum. So kennt wirklich jeder die familiären Wurzeln seiner Volksvertreter.