Sind Naturkatastrophen überhaupt Krisen?

Der erste Ausbruch am 20. März bei der Hochebene Fimmvörðuháls, nahe des Eyjafjallajökull, war für die Isländer alles andere als eine Krise, vielmehr war der »Touristenvulkan«, wie sie ihn nannten, ein willkommenes Abenteuer und Geschäft. Die Bewohner der Höfe an den wenigen Zugangsstraßen verkauften Süßigkeiten, Reiseunternehmen boten Jeep-Touren zum Vulkan an, die Helikopter kreisten über der Ausbruchsstelle. Und da die Eruptionen einen neuen Hügel erschaffen hatten, machten sich die Medien daran, einen Namensfindungswettbewerb für den neuen Berg auszurufen.

Plötzlich sprach niemand mehr über das Referendum und die noch ungeklärten Rückzahlungen an die Niederländer und Briten. Einige scherzten schon, ob da jemand immer einen großen Startknopf am Vulkan drücke, wenn die Zeitungen wieder voll mit Enthüllungsgeschichten sind. Denn genau zwei Tage, nachdem der Abschlussbericht der Untersuchungskommission veröffentlicht wurde, am 14. April 2010, brach der Eyjafjallajökull nach über 180 Jahren das erste Mal wieder aus. Und anstatt über das Ergebnis des SIC-Berichts zu reden, den eine unabhängige Kommission im Auftrag der Regierung erstellte und in dem festgestellt wurde, dass alle versagt hatten – Banker, Politiker und die Medien –, bestimmten der Krater von 2000 Metern Länge und die Aschewolke die Nachrichten.

In Reykjavík selbst kamen einem die Fernsehberichte über die Naturkatastrophe so vor, als würde all das in Peru passieren. Die ganze Woche trübte kein Wölkchen den Himmel. Es wurde zwar mehrmals angekündigt, dass sich der Wind gen Westen – also in Richtung Hauptstadt – drehen könnte, doch die Wolke sollte noch wochenlang auf sich warten lassen. Am sechsten Tag nach dem Ausbruch hatte ich die Möglichkeit, mit einer Frau vom Roten Kreuz in das Gebiet zu fahren. Als ich kurz vorher in einem der Gesundheitszentren vorbeikam, um die Schutzmasken zu besorgen, die dort bereitliegen sollten, sagte die freundliche Rezeptionistin: »Wir haben die Masken noch nicht bekommen, weil die Wolke ja noch nicht zu sehen ist.« Als sie hörte, dass ich zum Vulkan fahren wollte, kramte sie im Lager und fand in einer Kiste einige Exemplare. Isländer regeln vieles in letzter Minute, und meist klappt auch alles, schließlich sind die Wege hier kürzer. Trotzdem spiegelt diese Gelassenheit ihre Haltung wider: Das ist für uns kein großer Ausbruch; da gab es schon viel spektakulärere. Katla 1918 zum Beispiel, und viele erinnern sich an die Ausbrüche von Hekla, der genau wie der Eyjafjallajökull im Süden des Landes liegt. Katla und Hekla sind übrigens beides beliebte Mädchennamen – trotzdem oder gerade deswegen.

Reise in die stickige Dunkelheit

Eine Stunde dauert es mit dem Auto, bis in der Ferne die riesige Aschewolke zu sehen ist, die sich seit einer Woche in den Himmel schraubt. 106 Kilometer von der Hauptstadt entfernt, in Hvolsvöllur, befindet sich das Hauptquartier der Slysavarnafélagið Landsbjörg, der freiwilligen Rettungsmannschaft Islands. Seit dem 14. April sind die Helfer ununterbrochen im Einsatz. Da es in Island ja keine Armee gibt, kümmern sich die ehrenamtlichen Rettungshelfer um die Menschen in der betroffenen Region. Dafür werden sie von ihrem regulären Job freigestellt. Einer von rund 250 Helfern ist Þór Friðriksson, seit fünf Tagen schuftet der 23-Jährige nun im Dauereinsatz, nur selten findet er auf einem der Sofas Schlaf. Þór lebt eigentlich in einer Kleinstadt bei Reykjavík.

Sein Team wurde unter anderem deshalb zu Hilfe gerufen, weil es über ein spezielles Gefährt verfügt, das selbst Steinhagel und den schlimmsten Sturm übersteht. Zwei Wagen dieser Art gibt es auf ganz Island. »Es ist ein alter Räumpanzer aus Berlin«, erzählt er und führt den Panzer stolz vor, der nun zum isländischen Rettungswagen umgebaut wurde. Innen pappt noch das deutsche Schild »Rauchen verboten«, und man erkennt die Stelle, an der einst der Wasserwerfer steckte. »Der Wagen ist fast wie ein eigener Bunker«, sagt Þór. »Er wiegt zwanzig Tonnen, den haut so schnell nichts um.«

Zeitweise mussten 700 Anwohner aus den weit verstreut liegenden Höfen rund um den Vulkan evakuiert werden. Die größte Gefahr bestand neben der Aschewolke vor allem in den Fluten, die für einige Tage auch die Ringstraße unterbrachen und die Vulkanhänge herunterstürzten. In der ersten Nacht liefen manche Bauern die Berge hoch, um sich in Sicherheit zu bringen. Das Zentrum des Roten Kreuzes ist weiterhin geöffnet, diemeisten Bewohner in der Nähe des Vulkans bleiben trotz der schlechten Bedingungen zu Hause. Sie sorgen sich um ihre Tiere – viele sind Landwirte, die Schafe, Pferde oder Kühe halten. Eine Bäuerin zeigt ihre Schafherde, die in einem Stall untergebracht ist. Der feine Staub ist durch alle Ritzen gedrungen, und so sind die Schafe grau anstatt weiß. Die Bäuerin klopft ihnen aufs Fell und löst eine mächtige Staubwolke aus. Selbst ein gerade frisch geborenes Lamm schaut schon verstaubt in die Gegend. Für die Schafe gibt es immerhin noch Ställe, doch die zahlreichen Islandpferde leben das ganze Jahr über im Freien, die meisten halbwild. Wo sollen sie untergebracht werden? Wie kann man verhindern, dass sie das durch Fluoride verseuchte Gras futtern?

Typisches Aschewolken-Outfit

Die Isländer verhalten sich trotzdem ruhig und versuchen tapfer, das Beste aus ihrer Lage zu machen – sie sind müde, aber nicht hoffnungslos. Irgendwie wird es schon weitergehen. In den nächsten Tagen kommen dann auch viele weitere freiwillige Helfer. Immer wieder reinigen sie die Häuser vom Staub, der einfach überall ist. Alle haben damit zu kämpfen, am Morgen noch bedeckt eine drei Zentimeter dicke Ascheschicht den Panzer, mittags glänzt er im Sonnenlicht.

Zwei Stunden wartete ich auf eine Mitfahrgelegenheit in Richtung Aschewolke, irgendwer kommt sicherlich, sagte die Frau vom Roten Kreuz, die selbst die Stellung halten musste. Langsam wurde ich ein wenig nervös, ob ich es wirklich noch schaffen würde, doch dann tauchte plötzlich Andri Snær Magnason mit einem Freund, dem Fotografen Christopher Lund, auf. Man trifft Bekannte wirklich an den ungewöhnlichsten Orten! Spontan nehmen mich die beiden mit.

»Denkt an eure Masken«, sagen die Helfer, bevor wir uns auf den Weg zum Vulkan machen. In Hvolsvöllur selbst ist die Luft noch angenehm, der Eyjafjallajökull treibt die Wolke weiter ins Land. Die unterbrochene Straße wurde inzwischen repariert, dennoch hat man sie bis Montagabend für den allgemeinen Verkehr gesperrt, nur Anwohner und Journalisten dürfen an der Patrouille vorbei.

Wir passieren die Kontrolle und fahren direkt auf die Wand zu, die an diesem Tag dunkelgrau und nicht mehr schwarz erscheint. Sie ähnelt eher einem kräftigen Nebel, nur dass die Luft sehr stickig ist. Autor und Umweltaktivist Andri Snær zeigt sich an diesem Tag zu Witzen aufgelegt. Vorhin rief ihn eine schwedische Journalistin an und fragte, was denn gerade in Island los sei. »Die Rache für die globale Erwärmung«, sagt er ihr. Warum er heute hier ist? »Wir wollen die Asche einatmen«, scherzt er. Christopher steuert mit seinem Jeep weiter zielstrebig die Straße entlang. In der Nähe müssten die Berge sein. Wir fahren in eine Schleierwand, zwischendurch scheint ein wenig Licht durch, kurz darauf wird es wieder verschluckt. Der Staub setzt sich überall ab, in den Haaren, auf der Haut – alles ist von einem feinen Aschefilm bedeckt. Kameras und Handys müssen in Plastik eingepackt werden, damit sie nicht kaputtgehen. Alle husten ständig, die Pappmasken bieten nur wenig Schutz, die Profis haben richtige Gasmasken dabei.

Wir steigen aus, machen Fotos. Sobald man durch das trockene Gras läuft, wirbelt es große Staubwolken auf. »Ist es nicht Wahnsinn, dass dies alles vor kurzem tief unter der Erde war?«, sagt Andri Snær. Die Augen brennen, es fühlt sich an, als würden winzig kleine Glassplitter wie Schmirgelpapier auf der Netzhaut reiben. Entzündungen in den Augen sind neben den giftigen Fluoriden die größte Gefahr bei der Fahrt durch die Region. Nach einer Stunde Ascheschlucken kehren wir zurück und versuchen, das Grau aus Haaren, Kleidern und Poren zu waschen. Im Hauptquartier der Slysavarnafélagið Landsbjörg findet der Geophysiker Einar Kjartansson, dass die Lage gar nicht mehr so schlimm sei. Die Wolke werde kleiner und bewege sich in geringerer Höhe. Erstmals ist auch die rote Lava zu erkennen. Einar glaubt nicht, dass der benachbarte Vulkan Katla, vor dem sich jetzt viele fürchten und dessen Wucht um ein Vielfaches mächtiger sein könnte, bald ausbricht. »Ich mache mir wegen Katla keine Sorgen, andere Vulkane sind da eruptiver«, sagt der Experte vom Icelandic Meteorological Institute. »Hekla zum Beispiel.«

Island hat viele Vulkane, dreißig von ihnen sind aktiv. Kurz darauf wird es unruhig. »Es gibt Meldungen, dass Hekla ausbricht«, ruft ein britischer Journalist. Ólöf Baldursdóttir, die Sprecherin der Rettungshelfer, runzelt die Stirn, dann läuft sie kurz hinaus und kommt nach wenigen Minuten wieder. Sie hat sich den nahe gelegenen Vulkan angesehen und zur Sicherheit im Internet beim Wetterinstitut nachgeschaut. »Das ist doch Quatsch«, ruft sie in die Runde. Die anwesenden Reporter beruhigen sich wieder. Dann diskutieren einige Fotografen über ihre schlechte Bezahlung in der fernen Heimat. Von weit her gekommen, sind sie an diesem Tag die einzigen Vulkanopfer Islands.

Gespenstischer Aschenebel

Der Eyjafjallajökull wirbelte über die Wochen viel Staub auf – im Ausland mehr als in Island selbst. Manche fragen, ob die Isländer nicht ein schlechtes Gewissen hätten, isländische Zeitungen bekommen böse Briefe aus Großbritannien. »Erst wollt ihr unser Geld nicht zurückzahlen und jetzt bringt ihr auch noch die Asche zu uns«, heißt es in einem Beschwerdebrief. Der isländische Präsident selbst sorgt nicht gerade für Entspannung, als er in einem BBC-Interview meint, der Eyjafjallajökull sei nur eine »kleine Übung« gewesen, man solle erst mal warten, bis Katla losgeht. Dieser Vulkan habe viel gefährlichere Konsequenzen. Seine Landsleute sind fassungslos, manche unterstellen dem eigenwilligen Präsidenten, dass er sich mal wieder aufspielen wolle, denn Ólafur Ragnar steht gerne im Rampenlicht. Er selbst kommentierte die Kritik an seinen Äußerungen damit, dass der Abschlussbericht zur Finanzkrise doch zur Genüge gezeigt habe, dass man potenzielle Bedrohung offen diskutieren müsse.

Die Folge seiner Äußerungen war, dass kurz nach seinem Interview noch mehr Touristen ihre Reise nach Island absagten und die Isländer versuchten, sie mit einer teuren Werbekampagne zurückzulocken. Viele eingeladene Reporter kamen, interessierten sich aber mehr für den ungewöhnlichen Bürgermeister, den Reykjavík nun hatte. Seitdem erklärt dieser fast jede Woche Journalisten aus der ganzen Welt, wie er mit Spaß das Rathaus eroberte. Die Asche selbst machten sich die Bewohner natürlich auch zunutze: Sie füllten sie in Gläser und verkauften sie an Touristen, es gab eine Sonderedition von Briefmarken, in die Aschepartikel eingearbeitet waren, außerdem kreierten Designer aus dem Staub ein Parfum. Die Isländer haben eben seit jeher gelernt, alles zu verwenden. Immerhin ist bei dem Ausbruch kein Mensch ums Leben gekommen, sagen sie, und die diesjährige Ernte war ertragreicher als die Jahre davor.