Vier Mal Oma, vier Mal Opa

Sirra, die Künstlerin, die in Berlin gerne spontane Performances inszeniert, war 21 Jahre alt, als ihre Tochter Katrín auf die Welt kam. Mit dem Vater der mittlerweile Zwölfjährigen ist Sirra schon lange nicht mehr zusammen, doch sie teilen sich das Sorgerecht. Die zierliche, rothaarige Isländerin sitzt in der Kling & Bang-Gallerí, die in der Innenstadt Reykjavíks liegt. Ihr neuer Partner Erling Klingenberg hat ebenfalls zwei Kinder: Sein Sohn ist zwanzig Jahre alt, seine Tochter gerade mal ein Jahr jünger.

Der 41-Jährige lächelt ein wenig verlegen. »Sie sind von zwei verschiedenen Frauen.«

Sirra und Erling betreiben mit befreundeten Künstlern die Galerie, hauptberuflich arbeitet sie momentan als Programm-Managerin beim einem Reykjavíker Museum. Wenn mal wieder eine Vernissage ansteht, heißt es improvisieren. Anders als Helgas Familie leben Sirras Verwandte nicht direkt um die Ecke. Da konnte es besonders früher, als ihre Tochter noch kleiner war, schon mal schwierig werden. Gelegentlich sprangen Erlings Eltern ein, sozusagen die Stiefgroßeltern – oder seine Kinder. Oft kommt Katrín aber einfach mit und vertreibt sich die Zeit am Laptop, malt Manga-Bilder oder lernt zum Spaß Japanisch. Während wir in der Galerie sind, folgt Katrín unserer Unterhaltung über Patchworkfamilien, irgendwann klinkt sie sich ins Gespräch ein: »Soll ich dir mal erklären, wie viele Großeltern ich habe?« Sie fängt dann an, alle aufzuzählen: Katrín kommt auf acht Großelternteile. Bei der einen Oma darf sie immer lange fernsehen, bei der anderen gibt es das beste Frühstück. Ein weiterer Vorteil der großen Familie sind die vielen Geschenke.

Der Hafen von Reykjavík

Sirra ist froh, dass sie ein freundschaftliches Verhältnis zu ihrem Expartner hat und ihre Tochter den neuen Partner akzeptiert. Die halbe Woche lebt Katrín beim Vater, die andere Zeit bei ihr und Erling. Seit über acht Jahren wohnen sie zusammen, Erling bewundert Katríns Manga-Zeichnungen, kontrolliert, dass sie nicht zu lange vor dem Computer sitzt und abends rechtzeitig schlafen geht. Erling ist für sie wie ein Vater und Freund. »Wir haben das Glück, dass es bei uns gut funktioniert«, sagt Sirra. »Anders geht es auch gar nicht. Es muss klappen.«

Manche Isländer sehen in der Patchworkfamilie sogar schon die neue klassische Familienform. Für diejenigen, die mit dieser Lebensform Probleme haben, ist Sozialarbeiterin Valgerður Halldórsdottir da. Sie führt Coaching-Gespräche und hat seit einigen Jahren die Website »Stjúptengsl«, was so viel wie »Stiefbeziehungen« bedeutet. »Einige verschweigen ihre Stiefkinder anfangs«, berichtet Valgerður, »oder sie wissen nicht, wie sie mit ihnen umgehen sollen.« Sie fragen: »Muss ich das Kind meines Partners lieben wie eine Mutter?« Natürlich nicht, erklärt die Expertin ihnen dann. Aber es sei wichtig, dass alle Mitglieder aus den neu zusammengesetzten Familien offen über ihre Gefühle sprechen.

Valgerður weiß auch privat, wovon sie spricht. Schon ihre Eltern wuchsen in einer solchen Konstellation auf, ebenso ihre inzwischen erwachsenen Kinder. Die gaben Valgerður für ein Buch, das sie gerade über das Thema geschrieben hat, folgenden Tipp mit auf den Weg: »Lasst die Eltern Eltern sein und die Stiefeltern eine gute Ergänzung.«

Der Nachteil dieser kinderreichen Gesellschaft ist der Makel, keine zu haben. Für manche ist der Druck, Nachwuchs zu bekommen, so groß, dass sie für eine Weile ins Ausland gehen. In Deutschland schaut einen niemand komisch an, wenn mit 33 Jahren noch andere Dinge im Vordergrund stehen, man reisen will oder sich ausschließlich auf die Karriere konzentriert. »Wer bei uns mit 25 kein Kind hat, mit dem stimmt etwas nicht«, sagte mir ein Isländer mal, der selbst vierfacher Vater ist. Das sollte zwar nur ein flapsiger Spruch sein, er zeigt jedoch das Weltbild dahinter. Die wenigen kinderlosen Isländerinnen müssen sich von engsten Verwandten schon mal anhören, sie seien keine vollwertigen Frauen. Und Paaren, die mehr als fünf Jahre ohne Nachwuchs zusammen sind, wird per Ferndiagnose Unfruchtbarkeit unterstellt.

Der Druck geht sogar so weit, dass selbst Schwule und Lesben ständig gefragt werden, ob sie denn nicht Kinder adoptieren wollen. Da kann Jóhanna Sigurðardóttir, die erste offen homosexuelle Regierungschefin der Welt, nur froh sein, dass sie früher mit einem Mann verheiratet war und zwei Söhne bekam. Auch Jóhannas Ehefrau ist Mutter eines Sohnes. Bei der alljährlichen Gay Parade, die in Reykjavík ein ähnlich großes Event ist wie für die Kölner der Karneval, wird der Wert der Kinder ebenfalls deutlich: Auf den bunt geschmückten Wagen ist kaum Platz für die homosexuellen Teilnehmer, weil die schon voller kostümierter Kinder sind.