Mehr Schafe als Menschen

Lammfleisch zählt neben Fisch als »Grundnahrungsmittel« der Isländer, es ist zart und aromatisch. Das liegt zum einen an der frischen Luft, zum anderen an den vielen Kräutern und Gräsern, die die Schafe den Sommer über in freier Wildbahn fressen. Es gibt sogar einige Gourmets, die am Geschmack erkennen wollen, woher das gebratene Lammfilet auf ihrem Teller stammt. Die Schafe aus den Westfjorden futtern besonders viel Seegras und enthalten dadurch mehr Omega-3-Fettsäuren; andere Lämmer knabbern im Hochland Angelika-Kräuter, auch Engelwurz genannt. Isländische Schafe leben den Sommer über im Freien, also in Biohaltung. Da das für alle gilt, braucht es kein besonderes Gütesiegel dafür wie bei uns.

Früher hielten einige Deutsche die Isländer übrigens für Barbaren: Es ging das Gerücht um, das nordische Inselvolk würde seine Kinder essen. Doch das war nur ein Missverständnis, denn Schaf heißt auf Isländisch »kind«.

In Island muss man die Traditionen nicht lange suchen, sie sind überall sichtbar. Auch wenn einige Insulaner klagen, dass die Städter den Bezug zu ihren Wurzeln zunehmend verlieren, sind sie ihnen näher als in vielen anderen Ländern. Denn sobald die Isländer in die Natur fahren, stoßen sie auf ihre Traditionen: Am Wegesrand weiden Schafe oder Islandpferde, in den Küstenorten steigt einem der Fischgeruch der nahe gelegenen Fabrik in die Nase. In so gut wie jedem Dorf wird Fischerei oder Landwirtschaft betrieben.

Ohne die genügsamen Schafe hätte das Inselvolk vermutlich nicht überlebt, und bis heute sind die Tiere ein wichtiger Bestandteil der heimischen Landwirtschaft. Den ganzen Sommer über haben sie ihre Ruhe; sie fressen im Hochland Gräser und Kräuter, trotten von einem Hügel zum nächsten, knabbern an den Küsten genüsslich Seegras und klettern leichtfüßig jeden noch so steilen Berg hinauf. Manchmal hupen Autofahrer, wenn sie plötzlich auf die Straße springen, doch das war es dann auch schon mit der Aufregung. Ansonsten herrscht zufriedene Gelassenheit in der unendlichen Wildnis.

Isländische Schafe sind zäh, furchtlos und sie weiden sogar in so kargen Gegenden, dass ein Tourist mal verwundert fragte, ob die Tiere eigentlich Steine futtern, weil er sich einfach nicht vorstellen konnte, wovon sie sich dort oben ernähren. Tatsächlich grasen Schafe alles ab, was ihnen über den Weg läuft, deshalb werden Baumzöglinge, die bei der Aufforstung Islands helfen sollen, auch stets eingezäunt. Im September ist das Sommermärchen vorbei, dann treiben die Farmer ihre Schäfchen vom Hochland hinunter in die Täler. Auf 320 000 Isländer kommen über 460 000 gefräßige Wollknäuel, und obwohl viele Isländer im Alltag ein modernes, städtisches Leben führen, fahren sie aufs Land, um beim traditionellen Réttir, dem Schafabtrieb, dabei zu sein. Manche als Zuschauer, doch die meisten packen tatkräftig mit an. Das ist dringend nötig, denn die störrischen Schafe haben eigentlich gar keine Lust, ihre Berge zu verlassen.

Genüssliches Leben in Freiheit bis September

In Borgarfjörður eystri treffen sich an diesem Samstag im September rund vierzig Isländer zum Réttir. Ganz früh am Morgen steigt die erste Gruppe mit den flinken Border Collies zu Fuß oder auf Pferden den Staðarfjall hinauf. Er ist einer der farbenprächtigen Berge, der den Fjord im Nordosten Islands einrahmt und so besonders macht. Im Tal liegt die Gemeinde Bakkagerði mit seinen knapp 130 Einwohnern. Die 52-jährige Sveina und ihr Mann sind in dem Ort aufgewachsen, doch da beide ihre Jobs verloren, zogen sie vor einigen Jahren ins siebzig Kilometer entfernte Egilsstaðir. Das Familienhaus, in dem Sveina mit ihren neun Geschwistern aufwuchs, steht ihnen aber immer offen.

Die Isländerin hilft heute freiwillig mit und trägt extra ein rotes Wanderoutfit, damit sie im dunkelgrün-braun schattierten Gebirge leicht zu erkennen ist. Sveina bewacht die Seitenhänge des rund 600 Meter hohen Staðarfjall, denn die Schafe sollen schnurstracks den Berg hinunter ins breite Tal von Borgarfjörður eystri laufen. Sobald sich eines in ihre Nähe verirrt, bringt die kleine Frau es mit lauten Rufen und kräftigem Gestikulieren wieder auf den richtigen Weg. Das Ziel: ein rundes Gatter am Rande des Ortes Bakkagerði, das einem riesigen Holzwagenrad ähnelt.

Rund 500 Schafe treiben sie heute zusammen, von oben sieht die trippelnde Masse aus wie ein weißer Fluss, der sich langsam den dunklen Hang hinunterschlängelt. Auch kurz vor dem Ziel büxen einige Schafe im weitläufigen Tal aus. Doch es stehen Bauern, deren Familien und freiwillige Helfer bereit, sie brüllen laut und fuchteln wild mit ihren Armen; und wenn selbst das nichts hilft, jagt einer der Hirtenhunde die Schafe zurück in die Herde.

 

Gegen 15 Uhr sind alle Tiere auf einer großen eingezäunten Fläche versammelt. Sie schnaufen, manchen hängt die Zunge heraus. Was für ein Stress! Die letzten Monate haben sie sich ein ordentliches Polster angefuttert, ihr dickes Fell ist ebenfalls gewachsen. Das war ja auch ihr Job. Die Bauern gönnen sich und den Schafen eine kurze Pause. Nach einer starken Tasse Kaffee beginnt der zweite Teil der Arbeit: die Zuordnung der Schafe. Jedes hat an den Ohren eine Kennnummer, sodass man weiß, welches Tier zu welchem Bauern gehört.

Jeweils fünfzig Schafe werden nun in den inneren Kreis des riesigen Wagenrades getrieben, von dort gehen sternförmig nummerierte Pferche ab. Sie sind so dicht gedrängt, dass sie ihren Kopf auf den Rücken des anderen legen müssen – ein blökendes Meer aus Wolle. Die meisten Schafe tragen weißes Fell, dazwischen sind einige braune, schwarze und sogar schwarz-weiß gefleckte.

Nun quetschen sich noch die Helfer rein, ordnen die Schafe den jeweiligen Abzäunungen zu. Selbst die Kinder wissen genau, was zu tun ist. Beherzt packen sie die Tiere an den Hörnern oder am Nacken und drängen die störrischen Schafe in die zugewiesenen Pferche. Je mehr Platz im Kreis ist, desto schwieriger wird das, denn inzwischen haben die Schafe sich erholt und winden sich immer wieder geschickt aus dem Klammergriff. Sveina plaudert in den kurzen Pausen mit den anderen Helfern, die sich genau wie sie farbenfroh gekleidet haben. Bäuerin Margrét B. Hjarðar, Magga genannt, trägt eine orange leuchtende Fischerhose, dazu einen dicken Wollpulli samt Treckingjacke und eine bunt geringelte Bommelmütze. Die 47-Jährige besitzt insgesamt 380 Schafe, dazu kommen jede Saison noch Hunderte Lämmer. Meist machen Magga und ihre Kollegen das Réttir drei oder vier Mal im September, denn es ist unmöglich, alle Tiere beim ersten Anlauf zu finden. Am späten Nachmittag sind zumindest diese sortiert, sodass die Besitzer sie auf Trucks zum Bauernhof fahren können, wo sie nun in den nächsten Wochen auf abgezäunten Wiesen weiden. »Das heute war ein kleiner Schafabtrieb«, sagt Magga noch, bevor sie losfährt, »in anderen Regionen der Insel werden bis zu 8000 Tiere an einem Tag gesammelt.«

Sveina steht jetzt der Sinn nach etwas Süßem, sie besucht eine Freundin im Dorf. Die Isländerin klingelt nicht, sondern geht direkt rein, zieht sich ihre schmutzigen Schuhe und die Hose aus, kurz darauf sitzt sie in Wollunterwäsche in der Küche. Es gibt selbst gebackenen Blaubeerkuchen mit jeder Menge Kokosflocken und Sahne, dazu frisch gebrühten Kaffee. Im einstöckigen Haus wuseln noch zwei Kleinkinder, die Tochter samt Schwiegersohn, die Mutter und weitere Freunde herum.

Meer aus Wolle: der Schafabtrieb

Wie die Familien hier früher lebten, ist beim Blick aus dem Küchenfenster zu sehen. Direkt nebenan steht ein Torfhaus aus dem Jahre 1899, es trägt den Namen Lindarbakki und gehört Elísabet Sveinsdóttir, die jedoch nur im Sommer hier wohnt, die restliche Zeit des Jahres verbringt sie im rund 800 Kilometer entfernten Kópavogur. Zum Glück hat Sveinas Freundin den Schlüssel zum Haus. Also Hose und Schuhe wieder an und abtauchen in ein anderes Jahrtausend.

Der größte Teil des Lindarbakki inklusive des Daches ist von einer dicken Grasschicht überwuchert. Nur an den Seiten und rund um die Eingangstür wurde später eine holzverkleidete Fassade gebaut, die nun in leuchtendem Rot gestrichen ist. Jeder Winkel erzählt eine eigene Geschichte: Neben dem antiken Ofen stehen Keramikkannen, an den Wänden hängen gehäkelte Topflappen, im Schlafzimmer zieren Teller, ein Schachbrett und eingerahmte Fotos die Wände – darunter ist auch eines von Lenin. »Ja«, sagt Sveina und lächelt, »Elísabet ist eine Kommunistin.«

Elísabets Holzhaus von 1899

Auf rund dreißig Quadratmetern findet sich alles, was die Genossin zum Wohnen braucht. Dazu zählen eine Küche mit Wohnbereich, ein Schlafzimmer, ein Bad. Früher lebte Elísabet im Lindarbakki gemeinsam mit ihrem Mann Skúli, nachdem der verstarb, kommt die alte Dame alleine. Da vor dem hübsch hergerichteten Grundstück eine Informationstafel steht, denken viele Touristen, das Torfhaus sei ein Museum und gehen einfach rein und erschrecken sich, wenn sie eine Frau beim Mittagsschlaf überraschen. »Elísabet stört das nicht, sie findet es sogar lustig und freut sich über jeden Besuch«, sagt Sveina.

Nur unweit des Lindarbakki liegt Sveinas Elternhaus. Von dort aus blickt die Familie direkt auf den Álfaborg, den Elfenberg. In dem grün bewachsenen Lavahügel soll angeblich die Elfenkönigin leben, weshalb das Dorf die »Hauptstadt der Elfen« genannt wird. Sveina selbst hat bisher keine einzige gesehen, einer ihrer Söhne schon. »Man soll am Álfaborg nicht zu laut sein und keine Steine mitnehmen«, sagt die 52-Jährige. Daran halte sie sich, auch wenn sie nicht weiß, ob es diese Wesen wirklich gibt.

Im Vorgarten ihres Elternhauses liegen viele Steine: mit Flechten bewachsene Lavabrocken, Bergkristalle, schwarze Onyxe, Opale, glitzernde Amethysten, rote und braune Jaspisse. Die Familie hat sie am nahe gelegenen Strand oder in den Bergen gesammelt. Nahe des mystischen Hügels liegt die Kirche von Bakkagerði. Eigentlich überlegte die Gemeinde vor vielen Jahren, das Gotteshaus direkt auf dem Álfaborg zu errichten, doch es heißt, dass in der Nacht vor der Entscheidung einem der Abstimmungsberechtigten im Traum die Elfenkönigin erschienen sei, die ihn davor warnte, die Kirche auf ihrem Hügel zu errichten. Am nächsten Tag votierte er dagegen, und so hatte die Mehrheit den Vorschlag abgelehnt. Die Kirche wurde an ihrer jetzigen Stelle gebaut. Im Inneren hängt ein Ölgemälde von Jóhannes S. Kjarval, dem Nationalmaler Islands, dessen Werke sich auch beim Präsidenten finden. Kjarval wuchs in der Region auf und verbrachte hier viel Zeit. 1914 malte er für die protestantische Kirche das Altbarbild. Es zeigt Jesus unter einem lilagelben Himmel, umringt von seinen Anhängern auf dem Álfaborg stehend.

 

Durch Elfengeschichten, Torfhäuser und Schafabtriebe ist in beschaulichen Buchten wie Borgarfjörður eystri das historische Island noch überall greifbar, aber auch durch die Lebensweise der Menschen. Die ganzjährig bewohnten Häuser werden nicht abgeschlossen, die Kirche mit dem wertvollen Gemälde ist Tag und Nacht geöffnet. Man vertraut einander und den Besuchern. Am nächsten Tag treffe ich Magga wieder, sie möchte mir ihren Bauernhof zeigen, der zwanzig Kilometer entfernt in der Bucht Njarðvík liegt. Dort lebt sie mit ihrem Mann und dem jüngsten Sohn, die drei älteren Kinder sind schon aus dem Haus. Bevor wir zu ihr fahren, muss sie einen ihrer anderen Jobs erledigen: Magga ist auch die Postfrau der Region. Mehrmals in der Woche fährt die Isländerin nach Egilsstaðir, um dort die Briefe und Zeitungen für die Region abzuholen. »Nur noch drei Höfe, dann bin ich fertig«, sagt sie und steuert mit ihrem großen Bus die Landstraße entlang. »Da ist eines von meinen Schafen«, ruft Magga und zeigt den Hang hinauf auf ein weiß-braun geflecktes. Kurz darauf erreicht sie den letzten Hof. Wie bei allen anderen Häusern auch, öffnet sie einfach die Tür und legt die Post im Vorraum ab. Plötzlich kommen ein paar Schafe auf Magga zu, sie krault die Tiere kurz. »Sie merken, wenn sich jemand mit ihnen auskennt.« Nun, da alle versorgt sind mit Streicheleinheiten oder Briefen, holt die Isländerin ihren Sohn ab, der nach der Schule bei einem Freund gespielt hat. »Der Zusammenhalt in unserem Fjord ist besonders groß«, erzählt Magga.

Einmal im Jahr machen sie während des Þorrablót in der Dorfhalle einen satirischen Jahresrückblick. Dort wird dann alles parodiert, was passiert ist. Jedes Jahr sitzen andere im Komitee, auch Magga hatte schon mal die Ehre. Die Feier nennt sich Áramótaskaup, genau wie der satirische Rückblick, der seit 1966 immer an Silvester bei RÚV ausgestrahlt wird. Ganz Island sitzt dann vor dem Fernseher. Komiker Jón Gnarr spielte darin viele Male mit, nahm die Reykjavíker Kommunalpolitik auf die Schippe. 2010 sollte er gerüchteweise einen Gastauftritt haben, wurde dann aber doch von einem Comedy-Kollegen parodiert. Immerhin im echten Bürgermeisterbüro, das stellte Jón Gnarr als Drehort zur Verfügung.

Am Nachmittag erreichen wir die Bucht Njarðvík, in der außer Maggas Familie noch ein Bauer lebt. Ihr Sohn verzieht sich nach einer Brotzeit in der Küche vor den Fernseher. Und Magga führt mich über ihren Hof mit der Scheune voller Strohballen, dem Winterquartier der Schafe. Das Herzstück ihres Mannes ist ein kleines Räucherhaus, in dem er Hangikjöt, geräuchertes Lammfleisch, »züchtet«. Unweit des Strandes steht ein Gästehaus, dort können Urlauber sich entspannen und, wenn sie wollen, den Landwirten bei der Arbeit zusehen. Manche bleiben sogar länger und helfen beim Holen der Lämmer im Frühjahr oder beim Schafabtrieb mit.