Experimentierfreude als oberstes Gebot

Der Schriftsteller gibt Kurse für kreatives Schreiben und hat früher in vielen Performances mitgewirkt. Das größte Missverständnis sei immer, dass alle glauben, man müsse etwas erfinden. Als erste Übung könne man einfach seine Träume aufschreiben oder sonst wie darstellen, sagt er. Der Profi mag erfolgreicher und talentierter sein als viele seiner Landsleute, doch an der Entschlossenheit, ihre Kreativität auszuleben, mangelt es auch ihnen nicht. Kaum ein Isländer rechnet damit, wirklich von seiner Kunst leben zu können. Bei Produktionen mit einer Auflage von 300 Platten oder 500 Büchern steht die Leidenschaft im Vordergrund. Der Vorteil: Wer sich nach keinem Markt richten muss, ist experimentierfreudiger – nur so lässt sich zum Beispiel in der Musikbranche die breitgefächerte Szene von Klassik bis hin zu Death-Metal erklären. Sjón findet es egal, ob das Ergebnis wirklich gut ist oder was die anderen davon halten, Hauptsache, es hat einem selbst Spaß gemacht. Das ist für den Familienvater bis heute sein größter Antrieb. Er weigert sich, seine Lyrik und Belletristik als Job zu sehen, und scheut sich nicht davor, neue Dinge auszuprobieren, die sein Publikum oft genug überfordern. So schrieb der preisgekrönte Autor das Drehbuch für Islands ersten Horrorsplatterfilm ›Reykjavík: Whale Watching Massacre‹, der Ende 2009 in die Kinos kam und in dem Helgi Björnsson (Holy B. aus den Westfjorden) einen Seemann spielte, der mit riesigen Harpunen Touristen abschlachtet. Der Film ist eine Persiflage auf das Genre, doch viele der Zuschauer dachten, es sei ein ernstgemeinter Horrorfilm, was Sjón wiederum absurd findet. Ebenso wie die Tatsache, dass an einem Pier des Reykjavíker Hafens das Walegucken angeboten wird und genau gegenüber die Walfangboote liegen. »Wir Isländer wollen eben alles zur gleichen Zeit.«

Der Autor stellt die Isländer in seinem Film als brutale, blutrünstige Jäger vor und macht sich gleichzeitig über die Touristen lustig, die in Island nach Björk und Walen Ausschau halten. Der Film ist für unsere Maßstäbe unterhaltsam, die isländischen Kritiker fanden das allerdings gar nicht und nominierten ihn als einen der schlechtesten Filme aller Zeiten. Sjón freut sich sogar ein bisschen darüber: »Endlich bin ich wieder frei.« Zu sehr sei er gelobt worden für seine Arbeiten, sagt der ehemalige Punk.

Immerhin wurde er überhaupt kritisiert, denn eine lange Tradition schonungsloser Kritiken gibt es in Island nicht. Häufig wird über die Ausstellung eines Laien in gleichem Umfang berichtet wie über die Arbeiten eines professionellen Künstlers. Selbst wenn ein Film mies ist, bekommt er in der Bewertung noch drei von fünf Sternen. (In einer kleinen Gesellschaft sind eben auch die Redakteure mit den Musikern, Künstlern oder Schauspielern befreundet beziehungsweise verwandt.) Schreibt ein Kritiker, dass ein neues Album Mist ist, kann es durchaus passieren, dass er am nächsten Abend in der Bar von einem der Bandmitglieder angepöbelt wird.

Es gibt Kritiker, die daraufhin ihre Arbeit an den Nagel gehängt haben – Björks Sohn Sindri Eldon zum Beispiel, der für das englischsprachige Stadtmagazin ›The Reykjavík Grapevine‹ Reviews verfasste und selbst in einer Band spielt. Einem Theaterkritiker, der immer mal wieder negative Berichte über Produktionen eines Hauses schrieb, wurde vom Theaterchef sogar zeitweise Hausverbot erteilt. Dies musste er jedoch schnell wieder aufheben, weil sich die Öffentlichkeit dann wiederum darüber aufregte. Natürlich war das Hin und Her eine perfekte Meldung für Zeitungen und Fernsehmagazine, die ja täglich gefüllt werden müssen. In Island ist scheinbar alles eine Nachricht wert, und sei es auch noch so banal. Nach einigen Monaten auf der Insel kennen selbst Ausländer die Hälfte der Vorgestellten entweder persönlich oder sind ihnen zumindest schon über den Weg gelaufen.

Sogar über Ausstellungen im hohen Norden des Landes wird berichtet. Jóna Hlíf und Huginn ließen sich eines Sommers vom Namen einer Galerie in Akureyri inspirieren: Sie heißt DaLí, und natürlich dachten die beiden Künstler dabei an den spanischen Künstler mit seinem gezwirbelten Schnurrbart. Bei der Eröffnung hängten Jóna und Huginn Packungen mit Schnauzbärte zum Ankleben an die Wand: Es gab unter anderem die Varianten »Strong Man«, »Charlie Chaplin« und den »Chinese Man«. Jeder Besucher konnte sich einen auswählen und so selbst Teil einer Performance werden. Nach einer halben Stunde liefen fast alle, waren es nun Kinder, junge Männer oder ältere Frauen, mit angeklebten Bärten durch die Galerie und führten Fachgespräche zu Oberlippenbärten.

Ich wählte den »Strong Man«-Bart aus und beteiligte mich so gestärkt an der Unterhaltung. Damals war mein Isländisch noch rudimentär, außer einigen Begrüßungsfloskeln konnte ich nicht viel sagen, aber durch Zufall hatte ich einige Wochen vorher mit meinem Isländischlehrer über die Achtzigerjahre-Fernsehserie ›Magnum‹ gesprochen. Beim Unterricht übersetzen wir manchmal Dinge, die mir in den Sinn kommen.

Dazu gehörte auch dieser Satz über den Ferrari fahrenden Hauptdarsteller: »Tom Selleck er eini maðurinn í heimi sem lítur vel út með yfirvaraskegg.« Dies bedeutet: »Tom Selleck ist der einzige Mann auf der Welt, der mit Schnauzer gut aussieht.« Ein Satz, der, wie ich finde, wahr ist und meist mit wohlwollendem Nicken bestätigt wird. In gewisser Weise ist der Spruch zu meiner persönlichen Mini-Performance geworden, denn wann immer ich aufgefordert werde, meine Isländischkenntnisse zu beweisen, sage ich diesen Satz.

Die Schnauzerperformance in Akureyri, rechts Huginn

Die Galeriebesucher in Akureyri liefen an jenem Tag auch später noch mit ihren Schnauzbärten durch die Innenstadt der »Metropole des Nordens«, die rund 18 000 Einwohner hat. Es erinnerte mich ein bisschen an Karneval – und wer wie ich als Rheinländerin mit dieser Kultur aufgewachsen ist, scheut sich ohnehin nicht vor Verkleidungen. Und das ist schon mal eine gute Voraussetzung, wenn man sich mit der isländischen Lebensart und der Performance-Kunst vertraut machen will.

Ein Kostüm ist ja ebenso wie eine Uniform ein Schutz, man wird zu einer anderen Person: Dieser Methode bedient sich auch Björk, die einst bei den Oscar-Verleihungen stolz mit ihrem Schwanenkostüm über den roten Teppich stolzierte und so für Furore sorgte. Die Sängerin erfindet sich regelmäßig neu – musikalisch und optisch. Für ihr Album ›Volta‹ suchte sie abermals nach einem neuen Charakter: Es sollte eine »elektro neon isländisch heimische fröhliche Kraft der Natur« sein, und das Outfit dafür fand sie bei der Icelandic Love Corporation (ILC).

Die drei Künstlerinnen Eirún, Jóní und Sigrún sind berühmt für ihre fantasievollen und verspielten Kostüme und Performances. Anders als bei vielen isländischen Künstlern sind ihre Auftritte genau durchchoreografiert, wenngleich sie trotzdem das Element des Spontanen beinhalten – wie bei jedem Happening. Für ihre Shows kreieren die Künstlerinnen stets aufwändige Outfits, mit denen sie sich in andere Fabelwesen verwandeln.

 

 

Die drei Protagonistinnen der Icelandic Love Corporation – Eirùn, Jóní und Sigrún.

Björk im Voodoo-Outfit der ILC

Eine neonfarbene Voodoo-Maske regte Björk dazu an, mit der ILC zusammenzuarbeiten. Noch während sie an ›Volta‹ bastelte, strickten die drei Frauen den langen Winter über für den Popstar irrwitzig bunte wollene Ganzkörperkostüme, eines davon trug Björk später auf dem Cover des neuen Albums, andere wurden auch in Magazinen abgebildet. Manche ihrer Strickarbeiten stehen noch heute im Studio der ILC, das sich in der Nähe des Reykjavíker Hafens in einem alten Industriegebäude befindet.

Wie kommen die Frauen eigentlich auf ihre Ideen? Meist albern sie ein wenig herum, sagen sie, dann schreiben sie Stichpunkte in ein Notizbuch und vergessen sie, einige Inspirationen kommen immer wieder auf und werden dann Jahre später endlich genutzt. »Das Wichtigste ist, dass man offen ist – auch für die Möglichkeit, dass eine Idee eventuell doch nichts wird.« Dann komme eh bald wieder eine andere Inspiration. So erfanden sie für eine Ausstellung, bei der sie viel mit Nylon arbeiteten, die Teesocke. Wie der Name schon erahnen lässt, ist es eine mit Tee gefüllte Socke aus Nylon, die man als Teebeutel benutzen kann. Anschließend werden die Socken gewaschen und getragen. Die Auflage: fünfzig Exemplare.

So einfach kann es sein. Mit Leichtigkeit performen die drei Künstlerinnen auch im öffentlichen Raum – in einer Bar, in einem Leuchtturm oder in der einsamen Natur Islands. Regelmäßig auch auf internationalen Kunstmessen wie der Frieze Art Fair oder in Museen wie dem Hamburger Bahnhof in Berlin. Jóní unterrichtet sogar Kinder in der Kunst der Performance.

Kunst kann überall passieren und jegliche Form annehmen. Als im April 2010 der große Untersuchungsbericht veröffentlicht wurde, in dem nach anderthalb Jahren Recherche eine unabhängige Kommission im Auftrag des Parlaments die Ursachen und Schuldigen für den Beinahe-Kollaps des Bankensystems aufzeigte, veranstaltete das Stadttheater Borgarleikhúsið eine Marathon/Dauer-Lesung: 45 Schauspieler lasen im Wechsel den gesamten Bericht vor. 2378 Seiten. Wie es sich für ein Volk mit einer langen Tradition von Nationaldichtern gehört, war der Report sehr spannend geschrieben, fast wie ein Krimi. Und so kamen viele Zuschauer ins Theater, um sich die Lesung anzuhören, sie wurde zusätzlich live im Internet übertragen – sechs Tage lang, 24 Stunden am Stück; das Material wurde genutzt, um später ein Hörbuch daraus zu machen.

 

Eine Vorliebe für Marathon-Performances hat auch Ragnar Kjartansson, der seinerzeit mit Mugison in Ísafjörður das erste Aldrei-Musikfestival auf die Beine stellte und 2009 auf der Biennale in Venedig Island vertrat. Sechs Monate lang malte er denselben Mann: sechs Tage in der Woche, insgesamt 153 Bilder. Das Model – sein Kumpel Palli – fiel nur einen Tag wegen Krankheit aus, da skizzierte er dann halt einfach ein leeres Sofa. Ein bisschen verrückt sei er dabei schon geworden, gibt der 35-Jährige zu. Aber er wollte bei diesem Projekt mal nicht in eine fremde Rolle schlüpfen, sondern wirklich er selbst sein. Normalerweise spielt er eine Figur, häufig arbeitet er mit dem Element der Wiederholung: Ein Moment wird so, wie er es nennt, zu einer Art Skulptur, zu etwas Monumentalem.

In seiner heimeligen Dachgeschosswohnung in der Straße Laugavegur, hängt kein einziges Gemälde aus Venedig. Stattdessen kleben an einem Dachbalken geflochtene Haarschnecken, die eine befreundete Künstlerin gemacht hat, außerdem kleine Erinnerungen an frühere Projekte. Und mittendrin steht ein Mikrofon. Er und seine Frau Ásdís Sif Gunnarsdóttir, die ebenfalls Performance-Künstlerin ist, können also jederzeit Freunde zu einer Soirée einladen. Was sie gelegentlich auch tun. Manchmal übertragen sie diese Abende auch auf die großen Bühnen in Reykjavík oder im Ausland. Wenn sie für ihre Happenings noch Akteure brauchen, findet sich schnell jemand: »Das Praktische ist, dass in unserer kleinen Künstlerclique jeder jedem einen Gefallen schuldet«, sagt Ásdís und vergleicht es scherzhaft mit der Mafia. »Man kann eigentlich nicht Nein sagen.« Wenn Freunde und Künstler zuletzt mal wieder in einer ihrer Performances mitspielten, die man über Skype betrachten kann, steht die 35-Jährige kurz darauf als Schauspielerin bei einem Theaterstück auf der Bühne.

Sicherlich arbeiten die meisten Künstler nicht nur nach dem Prinzip der Tauschwirtschaft. Stipendien ermöglichen den Profis ihr Auskommen, viele haben noch Zweit- oder Drittjobs, um über die Runden zu kommen. Sie kuratieren Ausstellungen anderer Künstler, unterrichten an der Kunsthochschule oder arbeiten als Producer beim Fernsehen. Und obwohl das schon alles kreativ genug ist, nutzen Künstlerpaare wie Ásdís und Ragnar selbst ihre Freizeit für kulturelle Events – so schätzen sie auch das »Aldrei fór ég suður«-Festival. Ragnar trat dort natürlich ebenfalls schon mit seiner Band Trabant auf, und seine Frau veranstaltete im Schwimmbecken des Dorfbades eine Performance. Denn jedes Jahr findet nach den zwei Festivaltagen eine Art Aftershow-Tag für die Musiker statt. Auch am Ostersonntag 2010 fing die Nachfeier wieder im Schwimmbad an. Im kleinen Hallenbad von Þingeyri, einem Ort vierzig Minuten von Ísafjörður entfernt, trafen sich die Aldrei-Künstler zu einem privaten Fest, um nach diesem aufregenden Wochenende gemeinsam zu relaxen. Mugison beschallt das Bad mit lauten Beats aus seiner Höllenmaschine, einer Art Keyboard, die Künstler performen dazu im Wasser: Sie recken und strecken sich, springen aus dem Pool nach draußen in den Schnee, wälzen sich darin und hüpfen zurück ins Schwimmbecken.

Das Nachfest in Þingeyri

Abends feiern rund hundert Leute an einer großen Tafel weiter, es sieht ein bisschen aus wie bei einer Karnevalssitzung. Auf der Bühne steht noch die Krippe von der Weihnachtsaufführung, der Musiker Davíð Þór Jónsson, der zuvor schon das spontane Wasser-Happening choreografierte, stellt sich auf die Bühne und liest im Nikolauskostüm und mit Schwert bewaffnet aus der Bibel vor. Das Outfit und die Lektüre hatte er kurz zuvor auf dem Podium entdeckt. Die Künstler in den Reihen bejubeln ihn. Am Ende hat Davíð noch eine Botschaft an alle Vegetarier: »Esst nichts, was Tiere essen.«

Sobald die Meute sich mit deftigen Speisen, viel Fleisch und Dosenbier gestärkt hat, geht es auf die Bühne: Der Drummer der einen Band performt zusammen mit dem Sänger der anderen, manche stürzen sich auf Instrumente, die sie nicht beherrschen. Freunde der Musiker kreischen schief ins Mikrofon. Irgendwann knubbelt es sich nur noch auf der Bühne – und Mugipapa singt »One Moment in Time«. Die Isländer, sie nutzen jeden Moment. Und zwar immer hundertprozentig.

Wie mache ich eine Performance?

  • Es ist wichtig anzufangen. Warte nicht auf die perfekte Idee, leg einfach los.

  • Nutze die Gedanken, die dir in den Sinn kommen.

  • Jede Idee klingt verrückt und albern, bevor du sie umgesetzt hast.

  • Wenn du Angst davor hast, dass deine Texte peinlich sein könnten, bau wie Sigur Rós in deinen Song Texte in einer erfundenen Sprache ein. Ihre heißt »vonlenska« – also »Hoffnungsländisch«. Und deine?

  • Alles kann eine Performance sein: selbst ein angeklebter Schnauzbart oder eine Flagge im Feld.

  • Such dir ein Publikum: Geh auf die Straße oder lade Freunde zu einer Soirée ein (wenn man etwas ankündigt, hat man auch den Druck, es wirklich umzusetzen).

  • Mach eine Performance mit Freunden zusammen, das fällt leichter.

  • Wenn dir gerade nichts einfällt, stelle deine Träume dar.

Du musst dich nicht verkleiden, immer hilfreich sind aber eine Videokamera, kleine Raketen, Tücher zum Zerschneiden, alte Kleidungsstücke und Musik.