Ein Volk, umzingelt von Natur

Jeder Isländer hatte in seinem Leben mindestens ein einschneidendes Naturerlebnis. Und auch viele Island-Reisende suchen das Exotische und Unberechenbare, aber sie wollen natürlich auch, dass alles schön organisiert ist – vermutlich, weil sie es aus ihrer Heimat nicht anders kennen. Bei uns gibt es überall Brücken und ausgebaute Straßen, in Island ist das nicht so. Einige Touristen genießen das Abenteuer, einen Fluss zu durchfurten oder über schmale Schotterpisten zu huckeln, andere geben Isländern ungefragt gut gemeinte Tipps, wie etwa ein deutscher Reisender, der nach einer mehrtägigen Tour über die Insel den Kopf schüttelte und sagte: »Hier gibt es noch sehr viel zu tun! Es muss was gemacht werden!« Doch sie wollen nichts machen, es soll genau so bleiben.

Die Isländer haben ihr ganz eigenes Hilfsmittel, unwegsame Strecken zu bewältigen: ihre Jeeps. Die teils mächtigen Wagen mit Monsterreifen und Allradantrieb sind ihr Triumph über die widrige Natur. Damit können sie selbst breite Flüsse überqueren, sich einen Weg durch den Schnee bahnen oder steile Hänge überwinden, nicht nur zum Vulkan, sondern auch auf die Gipfelplateaus vieler Berge. Und so passiert es Wanderern immer wieder, dass Isländer mit Karacho an ihnen vorbeidüsen. Oben angekommen machen die Fahrer meist kurz Halt, schauen sich um und tuckern dann wieder gemütlich herunter. Woran erkennt man einen Touristen?, lautet eine Scherzfrage. Die Antwort: Touristen steigen aus dem Auto.

Mit dem Jeep auf die Berge

Die Isländer sind verrückt nach motorisierten Gefährten, sie haben sogar eine höhere Pkw-Dichte als die Deutschen. Es sieht schon ein bisschen albern aus, wenn die Isländer mit ihren Geländewagen durch die schmalen Straßen Reykjavíks steuern. Wer allerdings einmal wirklich draußen in der Natur unterwegs war, versteht, warum sie sich Jeeps anschaffen. Denn mit einem Kleinwagen sind einige Teile des Landes nicht passierbar, und wenn, dann nur bei schönem Wetter. Außerdem muss man wissen, dass es in Island, abgesehen von Inlandsflügen, einigen Bussen und Fähren keine öffentlichen Verkehrsmittel gibt – so etwas wie Straßenbahnen, Züge oder gar U-Bahnen existieren auf der Vulkaninsel nicht. Dennoch: Was ihren Autokonsum angeht, haben sie ein widersprüchliches Verhältnis zum Umweltschutz.

Die Natur ist für Isländer selbstverständlich und allgegenwärtig. Schon der Name Reykjavík, »rauchende Bucht«, ist eine Anspielung auf die vielen dampfenden, heißen Quellen der Region. Sogar in der Innenstadt ist an fast jeder Stelle entweder das Meer oder ein Zipfel der angrenzenden Berge wie der schön geschwungene Esja zu sehen; bei klarer Sicht erblickt man auch den 120 Kilometer entfernten Snæfellsjökull, jenen schneebedeckten Vulkan, den der französische Schriftsteller Jules Verne in seinem Roman ›Die Reise zum Mittelpunkt der Erde‹ als Eingang zur Unterwelt wählte.

Steinwüste im Hochland

Und so gerne die meisten Isländer in ihren wohlbeheizten Jeeps sitzen und durch die Windschutzscheibe die heimischen Landschaften erkunden, einige von ihnen wagen sich dann doch freiwillig in die Natur – entweder um zu ihrem Sommerhaus zu kommen, in dem sie es sich dann wieder bequem machen können, oder um tatsächlich zu wandern. Wer sich den Naturgewalten stellen will, muss nur aus der Hauptstadt fahren. Das macht an einem Samstag im August auch eine Gruppe von 28 Teilnehmern. Die Isländer wollen für drei Tage den anstrengenden Alltag hinter sich lassen, sich mal wieder der Natur hingeben. Organisiert wird die Tour von »Wanderlust«, einem kleinen Veranstalter für umweltbewusste Wanderungen, und dem Umweltverband »Landvernd«. Der Sommer war bis jetzt ausgesprochen warm gewesen, die Leute sprechen sogar von einer »Hitzewelle«, in Reykjavík liegen die durchschnittlichen Temperaturen bei 12,2 Grad Celsius. (An manchen Tagen klettert das Thermometer andernorts tatsächlich auf 20 Grad.)

Reykjavík mit dem Esja im Hintergrund

 

Für das Wochenende ist allerdings viel Regen angesagt. Die Reisenden beunruhigt das nicht weiter, schließlich ist es kein Klischee, dass sich in Island das Wetter alle zwanzig Minuten ändert. Auf Regen folgen schnell Sonnenschein (oder zumindest Trockenheit) und unzählige Regenbögen. Bei der Abreise hängen schwere, dunkle Wolken über Reykjavík. Die Gruppe startet vom zentralen Busbahnhof in zwei Wagen, einem Hochlandjeep mit Platz für rund zehn Personen, und einem normalen Reisebus.

Nach kurzer Fahrt zeigen sich am Wegesrand die Spuren früherer Vulkanausbrüche – kilometerweit moosbewachsene Lavafelder. Für Ausländer ist das etwas Besonderes, für Isländer dagegen so normal wie für uns ein Wald. Aus der Ferne sieht es aus, als bilde das Moos nur eine dünne Schicht auf den kantigen Felsformationen, tatsächlich ist es an manchen Stellen bis zu zwanzig Zentimeter dick. Wie eine weiche Decke, ein grünes Polster umhüllt das Moos die schroffen Steine.

Über die Ringstraße, auch Nationalstraße Nummer 1 genannt, geht es an diesem Samstag in Richtung Süden. Wie ein schmales Band führt die Ringstraße einmal um die Insel. 1336 Kilometer, meist in Küstennähe. Nicht alle Abschnitte sind asphaltiert, lediglich wenigen Stellen sind vierspurig. Außer der Ringstraße gibt es noch einige Verästelungen – weitere Straßen und Wege, die ins Hochland führen, zu den Halbinseln, zu Ortschaften oder einsam gelegenen Höfen. Doch egal, wo man entlangfährt, die Natur ist immer größer.

Zu dieser gehören neben den Lavafeldern auch zahlreiche Gletscher und Islandpferde. Die robusten Tiere leben halbwild, unbeeindruckt trotzen sie jedem Sturm. Sie sind neben den verstreut liegenden Höfen und ein paar Schafen die einzigen Farbflecke in den Weiten. Nach circa einer Stunde Autofahrt liegt Hekla (»Haube«), einer der aktivsten Vulkane der Insel, vor uns. Viele Isländer glauben, dass der 1491 Meter hohe Zentralvulkan bald ausbricht. Und wer weiß, vielleicht ist es ja schon geschehen, wenn du diese Zeilen liest. Seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts brach Hekla etwa alle zehn Jahre aus: 1970, 1980, 1991 und 2000.

Friedhof in den Westfjorden

Im Mittelalter glaubten die Isländer noch, Hekla sei das Tor zur Hölle, erst Mitte des 18. Jahrhunderts trauten sich die Ersten, den Berg zu besteigen. Früher war es ohnehin nicht üblich zu wandern. Man ging nur so hoch, wie die Schafe weideten. In unserer Reisegruppe kennt jeder diese Geschichten, trotzdem hören die Isländer gerne zu, wenn die beiden mitgereisten Geologen ihr Wissen zum Besten geben, zu jedem Stein gibt es etwas zu sagen. Unser Ziel ist die Region um den Torfajökull, dort befindet sich das größte Hochtemperaturgebiet Islands. Hier soll man fast alle Elemente der isländischen Natur in unmittelbarer Nähe erleben – heiße Quellen, mehrfarbige Rhyolithberge, schwarze Sandwüsten, Gletscher und grüne Berge. Die Busse verlassen nun die asphaltierte Straße; sie huckeln weiter über einfache Pfade und Schotterpisten. Ständig geht es bergauf und -ab, wie bei einer Achterbahnfahrt, nur dass die Busse gezwungenermaßen langsamer sind. Denn an manchen Stellen führt der einspurige Weg so steil hinauf, dass man möglichen Gegenverkehr nicht sehen kann. Je weiter wir ins Hochland fahren, desto improvisierter werden die Straßen, kleine Steinpyramiden dienen als Wegweiser. Irgendwann kommt der normale Bus nicht mehr weiter. Diejenigen, die ihre Kräfte schonen wollen, tuckern mit dem Jeep den steilen Berg hinauf. Wir anderen laufen.

Der Blick auf Hekla