An einem Nachmittag im August unterhielt ich mich mit einer Freundin über ihre bevorstehende Ausstellung. Sirra Sigrún Sigurðardóttir ist eine bekannte Künstlerin aus Reykjavík, sie war mit ihrer Familie und einigen Kollegen zu Besuch in Berlin. Die Sonne schien, Sirra kam gerade vom Flohmarktbummel zurück. Bis die ersten Gäste zu ihrer Vernissage in der Galerie 111 kommen würden, waren es noch knapp zwanzig Stunden. »Was zeigst du morgen?«, fragte ich sie. »Hm, ich weiß noch nicht genau.« Sirra lächelte ein wenig verlegen, überlegte kurz. Bevor sie weiter antworten konnte, sprang ihre neunjährige Tochter Katrín für sie ein: »Mama, das ist doch kein Problem. Wenn uns nichts einfällt, machen wir einfach eine Performance!«

Irgendetwas findet sich immer. Sirra erzählte mir später, dass sie sich zwar schon grob überlegt hatte, mit dem Ort der Galerie zu arbeiten, etwas zu filmen, aber dass sie auch diesen Kick mag – etwas in kurzer Zeit zu kreieren. Die Galerie liegt in einem verwunschenen Hinterhof in der Torstraße 111 und ist einer der wenigen Plätze in Berlin-Mitte, die noch den Charme der Neunziger hat, als sich in scheinbar jedem Hinterhof und Keller eine Dienstagsbar, eine Mittwochskneipe oder ein geheimer Donnerstagsclub verbarg. Angesiedelt in einer Ruine, von der nur noch die erste Etage steht und aus der zweiten Birken in den Himmel wachsen, ist der Ort die perfekte Spielwiese für experimentelle Künstler wie Sirra und ihre Kollegen von der Kling & Bang Gallerí. Immer wieder kehren sie zurück und verwandeln den Hinterhof mit Happenings und Performances in ein Klein-Reykjavík. Genau wie diesmal.

 

Diese Lust am Spontanen ist kein Künstlerphänomen, sondern Teil der isländischen Identität: Isländer planen nicht gerne, sie wollen, dass die Zukunft aufregend und ungewiss bleibt. Und irgendwie entspricht das ja ihrer weit abgelegenen Insel im Atlantischen Ozean. Natürlich machen auch sie Pläne und Termine, aber wer hier lebt, weiß, dass sich alles jederzeit ändern kann – durch Nieselregen, Schneestürme, Erdbeben oder Vulkanausbrüche. Die Natur zeigt den Isländern regelmäßig ihre Kraft und beeinflusst den Tagesablauf. Im Negativen wie im Positiven: Gibt es einen unerwartet warmen Tag, bekommen Schüler und Angestellte schon mal »sonnenfrei«.

Die Aussprache im Isländischen

 

Das isländische Alphabet verfügt über 32 Buchstaben, es gibt kein C, Q, W und in den siebziger Jahren wurde nach langen Debatten das Z abgeschafft. (Man sprach das Z ohnehin wie S aus, bei Eigennamen und Spezialitäten wie Pizza wird es aber weiterhin genutzt, denn »pissa« bedeutet im Isländischen »pinkeln«.) Dafür haben die Insulaner einige altnordische Zeichen: Das ð ähnelt dem stimmhaften »th« wie im englischen »this«; das æ wird wie »ai« / »ei« ausgesprochen, das þ erinnert an das stimmlose »th« wie im engl. »thick«. Als wäre das nicht schon kompliziert genug, wird »ll« oft wie »ttl« ausgesprochen: Der Nationalpark Þingvellir heißt dann also Thingvettlir. Dagegen sind die Vokale mit Akzent á (wie: »au«) und é (wie: »jä«) noch relativ einfach, beim u gilt es ebenfalls, auf das kleine Häkchen zu achten. Denn »full« bedeutet voll (auch im Sinne von betrunken) und »fúll« stocksauer, da kann es leicht zu Missverständnissen kommen. Immerhin ist auf eines Verlass: Im Isländischen wird jedes Wort auf der ersten Silbe betont.

Isländer müssen also von Natur aus flexibel und offen dafür sein, gerade gehegte Pläne wieder über Bord zu werfen. Das prägt, genau wie die Nähe untereinander in einer kleinen Gesellschaft mit knapp 320 000 Einwohnern, von denen fast zwei Drittel im Großraum Reykjavík leben. Viele kennen sich persönlich oder wissen zumindest, wer mit wem zur Schule gegangen ist oder mal ein Date hatte. Und im Zweifel ist man ohnehin miteinander verwandt. Das ist kein Klischee, sondern wissenschaftlich belegt.