New Yorker Feeling auf dem Dorf

Gefeiert wird selbst in Dörfern wie Flateyri, dem fernen Ort in den Westfjorden mit der Fischfabrik. Tagsüber ist es dort so ruhig, dass man selbst den Flügelschlag der Raben hört. Vielen Europäer kommt schon Reykjavík wie ein Provinznest vor, doch Flateyri mit seinen 300 Einwohnern ist da die pure Einsamkeit, besonders im Winter, wenn meterhoher Schnee den ganzen Fjord bedeckt, gibt es kaum einen ruhigeren Platz. Damit die Gäste in die einzige Bar gelangen können, müssen die Betreiber nachmittags den Eingang freischaufeln.

Für Mittwoch ist in der Bar Vagninn (der Wagen) die Dorfband angekündigt, sie soll um 21:30 Uhr auftreten. Da in Island alles immer mit viel Zeitverzögerung anfängt, komme ich extra eine Stunde später und bin trotzdem einer von gerade mal vier Gästen. Noch lässt sich die Band nicht blicken, nur der Brite, der neu nach Flateyri gezogen ist und die Musiker mit seinen Bongos unterstützen wird, trudelt ein. An den Wänden hängen Hunderte Fotos, es scheint so, als sei hier jeder Gast abgelichtet worden, der jemals diese Bar betreten hat. Nach und nach tauchen die Menschen auf, die ich mir zuvor auf den Fotos angesehen habe. Einer, er ist der Lehrer im Ort, führt mich zu seinem Bild und erklärt anschließend, wer die anderen sind. Ein paar Gespräche und Getränke später ist die Bar prall gefüllt.

Trinkkultur

 

Die Trinkkultur hat sich anders als bei uns entwickelt. Früher gab es in Restaurants und Bars nur die harten Alkoholika – Schnaps, Absinth und Whisky; der Bierausschank wurde erst am 1. März 1989 erlaubt. Es war sozusagen ihr »Wendejahr«, und das wird jedes Jahr erneut mit dem Bier-Tag zelebriert. Obwohl die »Wende« vor über zwanzig Jahre kam, haben sich die Partygewohnheiten seither nicht wesentlich verändert.

Noch immer trinkt man gerne das harte Zeug, unter anderem einen ziemlich starken Lakritzschnaps namens Ópal. Bier wird zusätzlich konsumiert.

Teenager feiern im Vagninn gemeinsam mit ihren Lehrern und dem Großvater. Eine Isländerin sagte mir mal, dass es normal sei, als Schüler seinen Lehrer zum Geburtstag einzuladen. Es sei sogar cool, wenn sie kommen. Hier allerdings verdrehen einige Teenager die Augen, als sie sehen, wie der angetrunkene Lehrer heftig Frauen anflirtet.

Rund hundert Leute tummeln sich nun in der Bar. Viele von ihnen haben schon zu Hause »vorgeglüht«, denn Alkohol ist in Island sehr teuer. Gegen Mitternacht fängt in Flateyri die Band an, Sänger ist der Vorarbeiter aus der Fischfabrik. Isländer sind für Musiker ein dankbares Publikum, sobald ein Lied gespielt wird, tanzen sie. Und da diese Dorfband viele heimische Klassiker covert, grölen alle lautstark mit. Sie hüpfen, tanzen, brüllen, einer fällt um, wird von den anderen hochgezogen, ein anderer stemmt seinen Kumpel in die Höhe. In den Pausen ziehen sich die Frauen mehrmals ihren Lippenstift nach. Selbst auf Dorfpartys stylen sich viele Isländerinnen, als gingen sie zu einem hippen New Yorker Event, stapfen mit High Heels und Minirock durch den knietiefen Schnee.

Mittlerweile kenne ich das ganze Dorf, die Hälfte hatte mir Jóhanna tagsüber schon beim Besuch der Fischfabrik vorgestellt. Die dortige Kantine dient als das inoffizielle Café von Flateyri, weil im Winter sonst außer der Tankstelle nichts geöffnet hat. Der Vagninn-Wirt Diddi, der eigentlich Journalist ist und vor kurzem mit seiner Frau und den Kindern von Reykjavík in die Heimat zurückkam, sitzt dort ebenso wie einige andere Dorfbewohner. Diddis Bruder Teitur leitet die Fischfabrik, er ist in dieser Nacht auch in der Bar Vagninn und hat sich inzwischen von der Geburtstagsüberraschung erholt, die seine Belegschaft ihm tagsüber präsentierte.

Sie lotsten Teitur an eine Stelle in der Fabrikhalle, wo er vermeintlich sein großes Präsent auspacken sollte. Als er dort ankam, schütteten sie aus zehn Metern Höhe einen 200-Liter-Bottich mit kaltem Wasser über ihm aus. Das Ganze wurde gefilmt. Teitur kann herzlich darüber lachen, so ein Geschenk bekommt schließlich nicht jeder zum dreißigsten Geburtstag.

Gegen ein Uhr nachts taucht auch Bjarni Skór im Vagninn auf, der Künstler, der vor einigen Monaten nach Flateyri gezogen ist. Die Gemeinschaft hat ihn längst aufgenommen, auch er ist regelmäßiger Gast im Café der Fischfabrik und genießt bei einer Tasse Filterkaffee die Stille des Dorfes. Das Tempo ist hier ein anderes, sagt er. Selbst wer tagsüber nicht beim Geburtstagsstreich dabei war, wusste abends davon – durch Facebook. Um vier Uhr morgens schließt Vagninn, dann schleichen die meisten nach Hause. Nur Bjarni und ein paar andere feiern bei ihm weiter. Sein Haus hat er zwar noch nicht fertig renoviert, doch die Küche ist gemütlich, also dreht er für seine vier Gäste die Musik auf und trommelt auf seinen Bongos (anscheinend ein beliebtes Instrument für Neunankömmlinge in Flateyri) bis in die Morgenstunden.