Hot-Pot-Schnitzeljagd

Anna nimmt mich mit auf eine Tour von Reykjavík in die Westfjorde. Standesgemäß fährt sie in einem gut beheizten Jeep entlang der weit ins Land ragenden Fjorde durch die herbstlich blühende Natur. Irgendwo im Nirgendwo hält die Isländerin abrupt an. Wir steigen aus, laufen von der Straße ein paar Meter die Wiese hoch und stehen plötzlich vor einer der vielen natürlichen Quellen. Ein kurzes Bad in der Naturbadewanne, und weiter geht's. Orte wie diese sollen ein Geheimnis bleiben und sind daher nicht auf der Vatnavinir-Landkarte verzeichnet. Trotzdem darf sie natürlich jeder nutzen, der sie findet. Es ist ein bisschen wie eine Schnitzeljagd: Wer genau hinsieht, entdeckt immer wieder in der Einsamkeit versteckte Hot Pots.

»Jeder Wellness-Ort hat seinen eigenen Charakter«, weiß Wasserfreundin Anna. Und da ich längst schon poolsüchtig bin, will ich so viele wie möglich sehen und ausprobieren. Mein Badeanzug kriegt während dieser mehrtägigen Reise zumindest kaum eine Chance zu trocknen. Im Fischerdorf Drangsnes baute die Bevölkerung aus ehemaligen kleinen Fischcontainern Hot Pots, die nun direkt neben der Straße liegen. Hier treffen sich die Anwohner nach Feierabend zum Plausch, manche mit einer Flasche Bier oder einem Glas Wein. Da ständig warmes Wasser durch Schläuche in die Becken fließt, ist das Wasser stets frisch.

Und egal, wie das Wetter ist, in den Open-Air-Pötten lässt es sich immer relaxen. In manchen Quellen fühlt man sich wie in einer Miso-Suppe, das Wasser ist dort von Algen getrübt. In Reykhólar hat man die Algen sogar als Schönheitselixier entdeckt. Svanhildur Sigurðardóttir sitzt in ihrem privaten Hot Pot zu Hause und schöpft vom Grund der Wanne ein wenig grüne Paste. »Die Algen machen die Haut ganz geschmeidig«, schwärmt die Isländerin, schnuppert daran und cremt sich ein. Tatsächlich fühlt sich die Haut nach dem Bad samtig weich an. Svanhildur und ihre Freundin Sólrún wollen mit Hilfe der Vatnavinir-Crew nahe ihres Wohnhauses eine Badeanlage bauen, in der dann auch Besucher die wohltuende Wirkung genießen können. Solange die nicht fertig ist, lädt sie Gäste gerne zu sich in den Garten ein, wo immerhin zwei Pötte nebeneinanderstehen.

Wärme tanken in der Natur

Auch das Meer soll übrigens ein Urquell der Schönheit sein. (Vielleicht hat das Inselvolk deshalb so viele Miss Worlds hervorgebracht?!) »Deine Haut wird durch das Salzwasser sanft und die Nägel fester« – davon ist Hrefna, eine Mittvierzigerin aus Ólafsvík, überzeugt. Gemeinsam mit einer Gruppe trifft sie sich zwei Mal in der Woche am Strand des Fischerortes, um sich freiwillig in die kalten Fluten zu stürzen. Einige der Männer sollen seitdem wieder volles Haar haben, andere glauben, es helfe bei Allergien und vertreibe schlechte Gedanken. Wohl auch deshalb ist das Schwimmen im Nordatlantik seit der Krise populärer geworden. Es lag aber auch einfach im Trend, und wenn etwas angesagt ist, dann wollen es plötzlich alle Isländer machen.

Bastele dir deine Oase

Bauplan für einen Hot Pot in der Badewanne

  • Lasse 100 Grad heißes Wasser in die Badewanne und koche darin ein paar Eier.

  • Nachdem das Wasser dank der Eier nun den perfekten Schwefelgeschmack hat, kühle es auf 40 Grad Celsius ab.

  • Gib ein paar Algen dazu für das schöne Miso-Suppen-Gefühl.

  • Lege Steine und Moos an den Wannenrand.

  • Klebe dir an die Decke einige Sterne für den ungetrübten Blick in den Himmel.

  • Sollten die Sterne durch die hohe Luftfeuchtigkeit abfallen, reiß einfach die Decke ein.

  • Leg dich in die Wanne und entspanne.

  • Wenn dir das zu langweilig ist, lade dir so viele Freunde ein, dass du dich in deinem Hot Pot kaum noch bewegen kannst.

  • Solltet ihr plötzlich Hunger bekommen: Irgendwo im Wasser sind ein paar hartgekochte Eier.

Hrefna und ihre Freunde, die auf der westisländischen Halbinsel Snæfellsnes leben, gehen seit dem Winter ins Meer. Da es nun, im September, schon recht kühl ist, fahren sie mit ihren Autos bis zum Strand vor und klettern dann den Wall aus Lavafelsen hinunter in die pechschwarze Bucht. Einige tragen Neopren-Handschuhe und -Socken, denn Hände, Kopf und Füße kühlen als erstes ab. Bevor sie ins Meer steigen, hüpfen die fünf Frauen und der einzige Mann an diesem Herbstmittag auf und ab, eine schlägt Purzelbäume zum Aufwärmen.

Das etwa acht Grad »warme« Wasser schwappt gemächlich ans Ufer. Langsam spazieren die Hobby-Schwimmer ins Meer, damit der Körper sich an die Atlantik-Temperaturen gewöhnen kann. Ein Gespräch lenkt von der Kälte ab, obwohl es für die Ólafsvíker längst zur Routine geworden ist. Brrr, ist das nicht zu eisig? »Nein, nein«, rufen sie. »Das ist super«, sagt eine andere Isländerin und fügt hinzu: »Wir sind eben richtige Wikinger-Frauen.« Danach springen aber auch sie zum Aufwärmen in die Sauna des nahe gelegenen Fitnessstudios.

»Wenn der Ozean dich umarmt, findest du zurück zu dir selbst«, sagt Margrét H. Blöndal. »Das Meer wird dein Freund.« Mit diesen Beschreibungen machte die Künstlerin auch mich einst neugierig. Die Reykjavíkerin schwimmt regelmäßig mit Freunden beim Leuchtturm Grótta, dort ist morgens kaum etwas los, und so teilen sie sich das Meer nur mit einigen Seerobben. Margrét findet es faszinierend, dass der Nordatlantik nie gleich ist, sie fühlt sich nach dem Bad wie neugeboren, es klärt ihren Kopf. Wie nach einer langen Wanderung im Hochland oder beim Yoga, nur dass sich das Hochgefühl innerhalb von zehn Minuten einstellt. Das Bad im Meer ist im Prinzip »Instant-Yoga«.

 

Ich probiere mein Glück im Herbst am Strand von Nauthólsvík, jener exotischen Bucht in Reykjavík. Die Wassertemperatur: zehn Grad Celsius. »Es ist richtig heiß heute«, sagt Árni, der verantwortlich für den Strand und das dazugehörige Steinhaus mit den Umkleidekabinen ist. »Die kälteste Wassertemperatur, die wir vergangenen Winter hatten, war 1,8 Grad unter null, bei einer Lufttemperatur von minus zehn.« Er zeigt Fotos mit Schwimmern zwischen Eisschollen.

»Wikingerfrauen« und vereinzelter Mann beim Meerschwimmen in Ólafsvík

So romantisch die Erzählungen der Isländer auch klingen, sie alle wissen, dass es gefährlich sein kann. Deshalb trägt sich in Nauthólsvík jeder in ein Gästebuch ein, bevor er ins Meer geht. Damit die Schwimmer gut zu sehen sind, ziehen sie sich leuchtend blaue oder orangefarbene Kappen über. Man kann leicht einen Krampf bekommen, niemand sollte allein schwimmen gehen, Menschen mit Herzbeschwerden müssen es lassen.

»Wichtig ist, die ersten beiden Minuten durchzuhalten. Danach wird es leichter«, sagt Urður Gunnarsdóttir. Genau diese zwei Minuten haben es dann aber in sich, sie kommen einem vor wie eine Ewigkeit. Würde ihr Kollege Jónas mir nicht wie ein Mantra »Ruhig atmen. Ganz ruhig atmen!« einflüstern, wäre ich vermutlich bald geflüchtet.

Jónas und Urður arbeiten im Außenministerium, sie gehören zu einer Gruppe, die jeden Mittwoch zur Mittagszeit im Nordatlantik schwimmen geht. Scherzhaft nennen sie sich »Marbendlar« – das ist der Name eines Monsters, das, so will es die Sage, in den Tiefen des Meeres lebt und manchmal Menschen dorthin lockt. Heute konnten sie außer mir noch zwei andere Kollegen ködern. »Wir sind schon fünf Minuten im Wasser«, muntert Jónas mich auf. Mein Körper ist immer noch taub, fühlt sich an wie Watte. Ich habe das Gefühl, auf der Stelle zu schwimmen. Das salzige Wasser schwappt mir ins Gesicht, es ist windig. Immerhin klappt das Atmen mittlerweile wieder gut. Nach acht Minuten steigen wir stolz aus dem Atlantik. (Hartgesottene bleiben eine halbe Stunde oder länger im Meer.) Unsere Körper sind knallrot. Einer der Kollegen besteht noch auf Gymnastik, also hüpfen wir am Strand auf und ab. Wir glühen jetzt und entspannen uns danach im Hot Pot, der bei Nauthólsvík die Größe eines Plantschbeckens hat. Noch am Abend spüre ich die frische Luft in meinen Lungen, bin euphorisch und habe so viel Energie, dass ich am liebsten direkt noch mal in den Atlantik springen will. Die Isländer glauben, das Leben verändere sich, wenn man einmal im Meer schwimmen war. Oder wie die Künstlerin Margrét sagt: »Es ist wie eine neue Liebe, du musst sie immer wieder treffen.«