Öliges Wundermittel

Was den Walfang angeht, sind sogar die Isländer selbst geteilter Meinung. Es gibt allerdings eine andere Tradition, an der fast alle Inselbewohner festhalten: die täglich Portion Lebertran. Von klein auf nehmen die Isländer ihn zu sich. Die Älteren bekamen das ölige Wundermittel in der Schule noch mit einer Kanne in den Mund geschüttet, später verteilten die Lehrer ihn dann löffelweise, heute konsumieren ihn Jung und Alt zu Hause. Auch Borghildur, meine Vermieterin in Reykjavík, schwört auf die Kraft des Lýsi, wie er genannt wird. Angeblich haben sie es dem Lebertran zu verdanken, dass sie so stark und gesund sind. Schließlich enthält er die wertvollen Omega-3-Fettsäuren und hat einen hohen Vitamin-A- und -D-Gehalt. Lýsi gilt neuerdings auch als natürliches Antidepressivum, das gerade in den dunklen Wintern bei Lichtmangel hilft.

 

»Ich bin nie erkältet oder krank«, sagt die zarte Borghildur. Sie holt aus dem Kühlschrank eine Flasche mit ihrem goldgelben Elixier. Gewonnen wird es aus der Leber vom Hai, Seelachs oder Kabeljau. Borghildur träufelt mir einen Löffel voll und stellt ein kleines Glas Beerensaft daneben. Lýsi schmeckt wie das, was es ist: fischiges Öl. Weich, samtig und fies im Nachgeschmack. Der Saft vertreibt ihn und verhindert, dass man den ganzen Tag davon aufstoßen muss.

Lebertran ist gar nicht so schlimm, denke ich, also kaufe ich mir auch eine Flasche vom Seelachs-Lýsi und nehme morgens brav einen großen Löffel. Doch am dritten Tag gebe ich wieder auf. Mir ist ständig schlecht, und dann hält er sich doch, dieser fiese Nachgeschmack. Wie sich später herausstellte, hatte ich zu viel genommen. Denn der Seelachs- ist stärker als der Kabeljau-Lebertran, den die meisten nehmen. Also wähle ich die Alternative, die auch immer mehr Isländer nutzen: die Kapseln. Für einen Monat will ich es ausprobieren. Schauen, ob diese isländische Tradition mich stärker macht, gesund hält. Ich gehe zu Melabúðin, einem beliebten kleinen Reykjavíker Lebensmittelladen, in dem neben Schafsköpfen und Sülzen auch viel frischer Lachs an der Theke verkauft wird. »Was soll ich denn als Anfänger nehmen?«, frage ich eine der Verkäuferinnen. »Nimm mal die Kabeljau-Pillen, die vom Hai sind zu stark.«

Sie holt ein Glas mit den gelblich glänzenden Kapseln aus dem Kühlregal, es steht direkt neben Käse und Joghurt. Seitdem nehme ich jeden Tag Lebertran zu mir, im darauffolgenden Winter, als in Deutschland alle um mich herum ständig erkältet sind, bleibe ich gesund. Lebertran soll übrigens auch kreativ machen, vielleicht gibt es deshalb in Island so viele Künstler.