Starke Vernetzungen

Laut der »Six degrees of separation«-Theorie, die auch Kleine-Welt-Phänomen genannt wird, sind alle Menschen weltweit bis zum sechsten Grad miteinander bekannt. Es brauche also nur sechs Kontakte, um irgendwo auf der Welt einen gemeinsamen Bekannten zu finden. »Bei uns in Island sind es sicherlich nur ein bis zwei Grad«, sagt Andri Snær Magnason. Der 37-Jährige ist Schriftsteller, Filmemacher und Umweltaktivist und daher bestens vernetzt. Für ein aktuelles Filmprojekt interviewte er den Dalai Lama, seine Mutter ist demnach nur ein Grad vom buddhistischen Mönch entfernt. Natürlich kennt Andri Snær auch den isländischen Präsidenten, und der hat wiederum schon Barack Obama getroffen. Den Schriftsteller trennt also ebenfalls nur ein Grad vom US-Präsidenten.

»Wir Isländer lernen schneller international bedeutende Menschen kennen, weil viele von uns mit dem Präsidenten oder mit einflussreichen Persönlichkeiten unserer Heimat bekannt sind«, sagt er und fügt mit einem verschmitzten Lächeln hinzu: »oder verwandt«. In seiner Familie gab es einige Schauspieler und viele Ärzte. Andri Snærs Großvater war Chefchirurg in New York und operierte Robert Oppenheimer, seine Großtante war vor über achtzig Jahren Babysitterin im Hause von J.R.Tolkien. Es war die Zeit, als dieser gerade an seinem Buch ›Der kleine Hobbit‹ arbeitete, dessen Fortsetzung der Klassiker ›Der Herr der Ringe‹ ist. Zum Einschlafen brachte die Großtante Tolkiens Sohn einen isländischen Kinderreim bei: »Í grænni lautu þar geymi ég hringinn sem mér var gefinn en hvar er hann nú?« Es geht darin um einen Ring, den jemand bekommen hat, diesen in grünen Wiesen aufhob, und der nun verschwunden ist. Zufall? Ach ja, Andri Snær ist somit nur einen Grad von Familie Tolkien entfernt.

Momentan dürfte der 37-Jährige wohl der berühmteste seiner Familie sein: Sein Buch ›Draumalandið‹, ›Das Traumland‹, wurde zu einer Art Volksbuch und bewegte die Nation. Der Autor beschreibt darin die Lage Islands im Jahre 2006, die Wirtschaft blühte noch, durch die Privatisierung im Energiesektor wurde die Produktion verdoppelt, ausländische Investoren kamen, ein riesiger Staudamm wurde gebaut. Doch Experten war klar, dass der Boom so nicht weitergehen würde und Island gerade dabei war, sich durch den Verkauf isländischer Energie an internationale Aluminiumkonzerne selbst Schaden zuzufügen und die heimische Natur zu zerstören. Andri Snærs Buch trägt den Untertitel »Selbsthilfebuch für eine verängstigte Nation«. Der Autor kritisiert immer wieder die enge Verbindung von Politikern und Unternehmern, er erzählt von Klüngelwirtschaft und Energiedeals, von denen die Bevölkerung erst in letzter Sekunde erfuhr. Das Buch und der drei Jahre später veröffentlichte Film rüttelten die Isländer auf und zeigten ihnen die negative Seite der engen Vernetzung einer kleinen Gesellschaft.

Die positiven Seiten liegen auch für Andri auf der Hand: die Verbundenheit der Familie. Seit über zwanzig Jahren ist er mit seiner Jugendliebe Magga zusammen, sie haben vier Kinder und leben in einem Reihenhaus in 104 Reykjavík. Magga hat weiterhin eine halbe Stelle als Krankenschwester, und manchmal ist sie auch als »Skript-Schwester« tätig, wie der Autor es nennt, denn Magga sei die Erste, die seine Manuskripte liest und nicht selten gnadenlos auseinanderpflückt. Am Ende heilt sie die Wunden aber stets mit guten Anregungen. Als Schriftsteller hat er flexiblere Arbeitszeiten, ist jedoch auch oft unterwegs. Da es bei vier Kindern im Alter von drei bis 14 Jahren viel zu koordinieren gibt, nimmt er manchmal eine Tochter oder einen Sohn mit auf Termine.

Zwei Wahrzeichen Reykjavíks: Sólfar (Sonnenfahrt), ein stilisiertes Wikingerschiff

Einmal fuhr er mit mir in eine Gegend außerhalb Reykjavíks und zeigte mir ein neues Projekt, sein ältester Sohn war mit dabei, hörte Musik. Auf dem Rückweg sagte Andri, er müsse noch schnell zwei Töchter bei seinen Eltern abholen. Kurz vorher kündigte er sich übers Handy an: »Papa, hast du deine Hose an? Ich hole die Mädels ab und komme mit einer Journalistin vorbei.« Man muss sich das in etwa so vorstellen, als hätte ich einen Interviewtermin mit Günther Jauch – denn ebenso berühmt wie der Showmaster in Deutschland ist der Schriftsteller in Island –, und Jauch fährt mit mir bei seinen Eltern vorbei. Der Vater hatte eine Hose an, obwohl er es wohl liebt, in Shorts durchs Haus zu laufen, und begrüßte den Besuch freudestrahlend. Wie in Island üblich, zieht man beim Betreten eines Hauses seine Schuhe aus und bekommt Kaffee angeboten. Kurz darauf saßen wir in Socken auf Küchenstühlen und diskutierten über die aktuellen politischen Ereignisse. Berühmtheit wird hier nicht so ernst genommen, und für mich war es freilich sehr interessant, die Eltern des Interviewpartners kennenzulernen, ein paar Geschichten aus seiner Kindheit zu hören. Vielleicht hätte Andri Snær diesen Schlenker nicht gemacht, wenn wir uns nicht schon zuvor zwei Mal getroffen hätten, dennoch spiegelt es die Offenheit wider, mit der Familienmitglieder zum Alltag gehören. Und mit der auch Prominente ihre Haustüren öffnen.

Zwei Wahrzeichen Reykjavíks: die das Stadtbild überragende Hallgrímskirche

Es gibt kaum eine Konferenz, Ausstellungseröffnung oder Feier, bei der nicht Kinder dabei sind. Und während die Eltern in Cafés ihren Latte Macchiato schlürfen und Möhrenkuchen essen, schlummern ihre Babys draußen im Kinderwagen. Die Eltern haben natürlich ein Auge auf sie, aber man vertraut sich. Früher ging es sogar so weit, dass selbst in Reykjavík die Haustüren nicht abgeschlossen wurden. Das ist heute nur noch auf den Dörfern und in Kleinstädten so.