Erst Sex, dann Kaffee trinken!

Wo die Verbundenheit und Nähe einer Gesellschaft so groß ist, läuft auch das Kennenlernen meist anders ab: Man sieht sich in einem dicht gedrängten Club oder auf einer Privatparty, plaudert kurz und landet dann oft im Bett. Vom Sehen her kennen sich ohnehin viele, ansonsten können Freunde oder Kollegen die neue Bekanntschaft einordnen – durch den Beruf, die Familie oder aus Schulzeiten. Nach einer gemeinsamen Nacht tauschen manche noch nicht mal Telefonnummern aus, man sieht sich ja eh wieder. Und landet erneut im Bett. Wenn es dann richtig ernst wird, gehen die beiden auch mal einen Kaffee trinken.

»Wir haben keine richtige Dating-Kultur«, gibt auch Davíð, ein Mittvierziger, zu. Und illustriert es zum Spaß: »Wir greifen sie einfach am Arm, und los geht's.« (Das praktizieren die Frauen übrigens ebenfalls.)

Diese Strategie versuchen sie überall und jederzeit. Im kurzen Sommer, wenn es 24 Stunden am Tag hell ist, können sich die Isländer nicht so leicht in einer dunklen Ecke verstecken und unbeobachtet anbandeln. Es sei denn, man bleibt trotz guten Wetters im Club, anstatt wie die anderen davorzustehen. Die heruntergezogenen Jalousien sollen drinnen für ein wenig Nachtstimmung sorgen.

Die Partybar aus dem Film ›101 Reykjavík‹

In einer hellen Juninacht saß ich mit acht Isländern an einer langen Bierbank, sie stand im Reykjavíker Hinterhof. Die Gruppe veranstaltete mehr oder weniger lustige Trinkspiele. Es war schon fast Mitternacht, auch wenn es sich bei strahlendem Sonnenschein nicht danach anfühlte. Der Isländer neben mir war um die dreißig, er arbeitete eigentlich in Italien und befand sich gerade auf Heimatbesuch. Er sah gut aus, war aber sehr betrunken, lallte. Wir hatten bisher kaum miteinander gesprochen. »Du bist sooo hübsch, ich will dich küssen!«, sagte er zu mir. Ich schüttelte verneinend den Kopf, lächelte aber freundlich zurück und tippte weiter meine SMS fertig. »Wem schreibst du? Ich beneide ihn so sehr«, und dann fügte er hinzu: »Ich möchte Sex mit dir haben.« Kurz darauf flüchtete ich ins Wohnhaus der Gastgeber, erzählte es einer Freundin. Sie sagte nur: »Ach, der. Der ist einer der besten Cellospieler Islands, er ist sicher gut im Bett. Wenn ich nicht liiert wäre, würde ich gerne die Nacht mit ihm verbringen.« Da ich damals Single war, hätte ich es durchaus ausprobieren können, doch wer einigermaßen bei Sinnen ist, geht nicht mit einem lallenden Mann ins Bett. Dachte ich. »Wenn er ein netter Kerl ist, spricht doch nichts dagegen«, meinte die Freundin.

Genauso viele Geschichten, Klischees und Mythen, wie es über den Popstar Björk gibt, ranken sich auch um das Nachtleben. Spätestens seit Hallgrímur Helgason ›101 Reykjavík‹ veröffentlichte und das Buch im Jahr 2000 verfilmt wurde, strömen viele Touristen in die Hauptstadt, um das promiskuitive Feiern der Isländer zu erleben – und vielleicht sogar daran teilzuhaben. Zeitweise warb eine isländische Fluggesellschaft mit doppeldeutigen Werbeslogans wie »One-Night-Stand in Island«. Ein isländischer Reiseführer spielt ebenfalls damit, indem er bei den zehn beliebtesten Dingen, die man in Island tun kann, als neunten Punkt »Einen Isländer ins Bett kriegen« auflistet. Auch Quentin Tarantino, der mehrfach zu Besuch war, schwärmte schon in amerikanischen Late-Night-Shows von den hübschen und ekstatischen Isländerinnen, die lasziv auf den Tischen tanzen. »Normalerweise versuchen wir in Amerika, die Frauen so betrunken zu machen, dass sie mit einem nach Hause gehen. In Island musst du die Mädels nach Hause bekommen, bevor sie so betrunken sind, dass sie umkippen oder dich vollkotzen. Das ist der Trick«, verkündete der ›Pulp Fiction‹-Regisseur im US-Fernsehen. Und machte sich damit nicht gerade viele Freunde in Island. Auch die Tatsache, dass er in Reykjavík eine Party organisierte, zu der nur die Frauen freien Eintritt hatten, fanden nicht alle toll.

Die Isländer reißen selbst Witze darüber, wie lässig und wild es bei ihnen zugeht. Sobald dies jedoch ein Ausländer feststellt, sind viele pikiert. Auch ich kann Tarantinos Beschreibung nicht wirklich teilen, denn die meisten meiner Freunde trinken am Wochenende nicht so viel, dass sie umkippen. (Vielleicht sind sie auch schon zu alt.) Also zitiere ich lieber noch einen Isländer, Hallgrímur Helgason, der mit seinem Roman das Ganze ja ins Rollen brachte. Er beschrieb das Reykjavíker Nachtleben für das Reisemagazin ›Merian‹ mal so: »Wilde Wochenenden waren auch ein notwendiges Mittel der Fortpflanzung: Bis Ende des 20. Jahrhunderts wurde mehr als die Hälfte der isländischen Bevölkerung am Sonntagmorgen zwischen drei und sechs Uhr gezeugt.« Damals schlossen die Bars noch um drei Uhr nachts. »Korter í þrjú«, Viertel vor drei, ist bis heute die gängige Umschreibung für die letzte Chance, in der Nacht einen Lover zu finden.

Eines ist zumindest allen Isländern bewusst. Sie werden ihrer nächtlichen Eroberung garantiert wieder über den Weg laufen, genauso wie den Exbeziehungen ihrer Partner. »Anfangs ist man natürlich schon eifersüchtig«, gibt Þorbjörg Marinósdóttir zu, »doch das ist Island. Was kann man da schon machen?« Die 26-Jährige wird Tobba genannt und ist so etwas die die Carrie Bradshaw Islands. Ähnlich wie die Hauptfigur aus ›Sex & the City‹ schreibt sie Kolumnen und Bücher über das Daten und die Liebe. Die blonde Isländerin ist perfekt frisiert und geschminkt; sie trägt einen lässigen schwarzen Pulli, dazu eine hautenge Jeans, Nylonsocken im Tigerlook und Stilettos.

Wenn Tobba über ihren Freund Karl redet, könnte man glauben, die beiden wären schon seit einigen Jahren ein Paar – tatsächlich sind sie gerade mal anderthalb Monate zusammen. Ihren Freund hat sie indirekt über den Job kennengelernt. Tobba war zu der Zeit noch Redakteurin beim Klatschmagazin ›Séð og heyrt‹ (Gesehen und gehört), das eine Geschichte über die neuen Abgeordneten im Stadtrat machte. Der Komiker Jón Gnarr und seine Kollegen wurden mit ihren Partnern vorgestellt. Nur einer, Karl Sigurðsson, hatte keine. Also titelte ihr Magazin als Unterzeile zum Foto »Frau gesucht«.

Kurz darauf traf Tobba ihn zufällig in der Bar Ölstofan, sprach ihn scherzhaft an. »Na, hast du deine Frau schon gefunden?« Eigentlich wollte sie Karl mit jemand anderem verkuppeln, doch dann waren sie plötzlich ein Paar. Der Facebook-Status wurde von »Single« zu »in Beziehung« geändert. Und Karl überprüfte auf der Website des Íslendingabók den Verwandtschaftsgrad. »Wir sind fast gar nicht verwandt«, teilte er ihr begeistert mit. »Wir können also problemlos Kinder bekommen.« In Island bindet man sich schnell. Nach zwei Wochen berichtete bereits die Presse über das neue Paar. Hier kommt eben alles heraus.

Tobba hat sich intensiv mit dem Thema Dating beschäftigt, vor einem Jahr brachte sie mit ›Makalaus‹ den ersten chic-lit-Frauenroman heraus. Die Hauptfigur ist geprägt von den Erlebnissen Tobbas und ihren Freundinnen. Sie beschreibt ihr Liebesleben und -leiden in allen Einzelheiten, man erfährt von Affären mit verheirateten Mittvierzigern, dem Diätfrust. In ihrem Vorwort schreibt sie für alle gefrusteten Singles: »Erinnere dich an das Abenteuer, nicht an das Ende.« Außerdem gibt sie in dem Buch Beauty-Tipps – zum Beispiel eine Gurkenmaske für empfindliche Seelen und das Hühnchen-Rezept »Mangoverrücktheit« gegen Depressionen und Männerprobleme.

Der Roman wurde ein Bestseller und sogar mehr von Männern als Frauen gelesen. Nun bekommt Tobba täglich E-Mails mit Fragen. Denn auch wenn das Kennenlernen in Island an sich sehr unkompliziert ist, wissen nicht alle, wie sie die Angebeteten für sich gewinnen sollen. Was sie zum Date mitnehmen und was man überhaupt machen könnte – außer direkt wieder Sex zu haben. Ihre Tipps sind im Grunde sehr einfach: Bringt eine Blume mit, führt sie zu einem schönen Essen aus. Sie selbst hat bei ihrem ersten Date mit Karl stundenlang Karten gespielt. Die Dating-Expertin gibt ebenfalls Tipps für Paare: »Macht eine kleine Party beim DVD-Abend«, sagt sie. »Ich setze mich mit Freunden manchmal verkleidet vor den Fernseher. Zum Spaß, weil es dann anders ist.«

 

Tobbas erstes Buch wird gerade als Sitcom verfilmt, und sie stellt ihr zweites Buch fertig: Es ist ein Dating-Handbuch mit praktischen Tipps. Darin steht unter anderem, wie man einen Partner erobern kann, wie Chlamydien zu bekämpfen sind und wie man den Mann im Notfall auch wieder loswird. Das Nachtleben biete natürlich immer viele Möglichkeiten des Kennenlernens, sagt Tobba. Die 26-Jährige ist froh, dass es heute Facebook gibt. Früher hatte man vielleicht eine Nummer und einen Namen auf einem Zettel stehen, aber keine Ahnung mehr, wie der Typ aussah, erinnert sie sich. Heute postet jeder beim Online-Netzwerk Fotos von sich. »Da du dort auch seine Freunde siehst und oft jemanden kennst, kannst du die nach dem Schwarm ausfragen«, erzählt Tobba. »Dann weißt du sofort, wer seine Exfreundinnen sind und ob er vielleicht einen Fußfetischismus hat.«