Sechs Monate später, 10. April

Tagebuch kann jeder, hat Reich-Ranicki mal gesagt. Das ist natürlich Quatsch. Ich halte es für eine sehr schwierige Gattung. Nehmen Sie Kafka. Genial, aber seine Tagebücher: schwach.
Seine äußerst flexible und zwanglose Form macht das Tagebuch aber zu einem idealen Ort der zweiten Wirklichkeit, der unmittelbaren Reflexion in all ihren Facetten und sprunghaften Widersprüchlichkeiten. Die Gattung Tagebuch wird es länger geben als den Roman.
HELMUT KRAUSSER, Substanz. Das Beste aus den Tagebüchern13

Sechs Monate später, 10. April

88,3 KILOGRAMM

Wenn ich jetzt auf die 40 Tage zurückblicke, bin ich erstaunt, wie leicht es mir fiel, so lange zu fasten. Das Gefühl, im Paradies zu leben, kommt nur noch selten hoch.

Es dauerte fast drei Wochen, bis ich wieder ganz normal essen konnte. Die Schmerzen im Bauch waren nach einer Woche verschwunden, traten dann im Februar noch einmal kurz auf. Seitdem ist Ruhe, und meine Bauchspeicheldrüse scheint das Fasten genauso gut überstanden zu haben wie der Rest meines Körpers.

Ein EKG hat gezeigt, dass auch mein Herz wieder in den alten Rhythmus zurückgefunden hat. Die Elektrolyte haben sich wieder sortiert.

Geändert hat sich seit dem Fasten praktisch mein ganzes Leben. Ich esse seitdem fast kein Fleisch mehr, höchstens noch bei Einladungen. Der Grund ist weniger Abneigung als vielmehr Lustlosigkeit. Fleisch lacht mich nicht mehr an – Fisch hingegen schon. Es vergehen kaum mehr als zwei Tage, ohne dass irgendwelche Tiere aus dem Meer auf meinem Teller landen. Ich habe also weiterhin kein Problem damit, Tiere zu essen – höchstens Säugetiere.

Lust auf Rauchen oder Trinken habe ich überhaupt nicht mehr. Diese alten Laster habe ich anscheinend rausgefastet. Kürzlich war ich auf einer Party und hatte versehentlich das »echte« Bier meines Nachbarn angesetzt und wunderte mich sofort, wie widerlich für mich mittlerweile selbst ein vermeintlich Alkoholfreies schmeckt. Gerade der Nachgeschmack war chemisch-giftig. Beim zweiten Blick entnahm ich dem Etikett, dass es nicht alkoholfrei war, und erschrak regelrecht, dass ich meinem Körper diese giftige Brühe angetan hatte.

Meine grauen Haare an den Schläfen wachsen langsam wieder. Auch die Fettpolster an Bauch und Hüfte sind wieder da. Es stört mich – aber nun bin ich ja bald 40, da ist das schon o. k. Und Gabi ist glücklich darüber.

Süßigkeiten habe ich im Dezember zum ersten Mal wieder genascht. Ich hätte es bleiben lassen sollen. Sie machen tatsächlich süchtig, und die geübte Selbstdisziplin hat längst nachgelassen.

Ab und zu gelingt es mir noch, eine ganze Mahlzeit genussvoll zu verspeisen. Oft stopfe ich mir aber auch wieder Essen in den Mund, ohne einen einzigen Bissen zu genießen. Essen ähnelt wieder etwas einer Sucht und einer Ersatzbefriedigung. Ich hatte mir vorgenommen, jeden Montag einen Fastentag einzulegen, und hielt das auch drei Monate lang durch. Dann wurde das Fleisch schwach.

Zurück in die Arbeit habe ich nicht wieder gefunden. Ich habe nur noch so viel gemacht, wie ich musste, und ansonsten weiter meine Ruhe auf dem Hof genossen. Aber auch das war nicht von Dauer: Die Freundschaft ist tatsächlich zerbrochen, meine beiden Mitbewohner sind ausgezogen. Vergangene Woche habe ich schließlich gekündigt. Sowohl den Job als auch den Hof.

Bereits während des Fastens hatte ich die Idee entwickelt, nach Indien zu reisen. Im November brach ich auf, komischerweise 40 Tage nach dem Fasten.

Es fügte sich alles sehr merkwürdig. Ich landete über Umwege und Zufälle in einem Ashram im Südosten Indiens. Das war nie mein Ziel, aber irgendwie bin ich nun hier. Alle Klischees sind erfüllt – überall laufen weiß gewandete Scheinheiligkeiten rum, es gibt sogar einen echten Guru mit zotteligen Haaren und Vollbart, leicht rundlich und mit lieben Augen. Dazu fünf Frauen, die ständig an seiner Seite sind und alles für ihn erledigen.

Der Typ mag mich irgendwie und fragte gestern, ob ich ihn begleiten wolle. Er werde Anfang Mai durch Amerika und Europa ziehen und Anhänger – ich würde sie Jünger nennen – besuchen. Er bräuchte noch einen Kerl, der ihn dabei unterstützen wolle. Wenn der Jünger bereit ist, kommt der Guru, heißt es in Indien.

Ich kann mir dieses Abenteuer nicht entgehen lassen. Das Fasten war dafür vielleicht eine ganz gute Vorbereitung.

Gabi wusste, dass es so kommen würde. Sie akzeptiert es und liebt mich immer noch. Ich glaube, sie ist schon erleuchtet.

Ach, und noch etwas: Ich werde nie wieder für 40 Tage fasten.

40 Tage Fasten - von einem, der mal Ballast abwerfen wollte
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