Vierundzwanzigster Tag, 24. September

Bei Mangel- bzw. Unterernährung vermindert der Körper zunächst den Grundumsatz und verbraucht seine Glykogenreserven. Sind diese erschöpft, wird die Körpersubstanz angegriffen. Es kommt zum vermehrten Abbau von Fett und schließlich zum Abbau von Strukturproteinen, z. B. in Form von Muskelmasse. Entkräftung und psychische Veränderungen sind die Folge; schließlich treten Gleichgültigkeit und nach einigen Wochen vollständigen Hungerns der Tod ein.
Großer Brockhaus

Vierundzwanzigster Tag, 24. September

81,2 KILOGRAMM

Meine Glykogenreserven sind noch längst nicht erschöpft. Eigentlich hatte ich den ganzen Tag frei. Wollte nichts machen, ausruhen, meditieren, trommeln …

Jetzt ist es 23 Uhr 21, und ich komme zum ersten Mal dazu, Tagebuch zu führen:

Ich wache auf und habe Hummeln im frisch gespülten Darm. Führe Telefongespräche mit meinem Steuerberater, mit der Bank, dem ADAC, mähe den Rasen und denke: Eigentlich könnte ich auch schnell mal bei der Arbeit vorbeigucken und Präsenz zeigen. Vor allem, weil gestern mein Beitrag über die Herz-OP lief. Die Kritik der Kollegen und Vorgesetzten fällt bei Anwesenheit milder aus. Ich komme also gut weg, recherchiere ein paar Themen tot und mache erst mal Mittagspause in der Innenstadt.

Ich will mir etwas Gutes gönnen. Erdbeer-Mango-Bananen-Saft, ultraverdünnt. Aber die Lust auf etwas Besonderes, etwas Außergewöhnliches ist noch nicht gestillt. Da fällt mir ein: Buttermilch. Und da mir weiterhin ständig kalt ist, werde ich sie mir aufwärmen.

In der Teeküche des NDR gibt es ein kleines Mikrowellengerät. Ich schütte die Buttermilch in ein großes Latte-macchiato-Glas. Es soll der perfekte Genuss sein. Dann das Resultat: ein bröckeliges, sämig-klumpiges Gesöff, das selbst mit Honig nicht zu retten ist. Wer fastet, lernt, mit Enttäuschungen zu leben. Also löffle ich die schleimige Suppe aus. Anschließend ist mir schlecht, und ich habe Durchfall.

Als ich entleert und ermattet über die Flure taumele, muss ich zutiefst besorgte Menschen abwimmeln. Sie hätten gehört, dass … und 40 Tage … das ist ja … und du siehst aus wie ausgeschissen … Zum Glück ist mir der Kollege, der mich gestern beim Betteln erwischt hat, nicht über den Weg gelaufen.

Würde ich 40 Tage lang Arsen fressen, um zu gucken, was passiert, könnten die Reaktionen nicht schlimmer sein. Vielleicht sollte ich demnächst mal Folgendes ausprobieren: Ich erzähle, dass ich täglich 40-mal mit dem Kopf gegen eine Backsteinmauer haue, um zu gucken, was zuerst kaputtgeht, der Kopf oder die Mauer. Oder dass ich nur noch dreimal die Minute atme, um zu sehen, ob das geht. Ich hätte gehört, dass wir Menschen nur eine bestimmte Menge an Atemzügen zur Verfügung hätten und dann stürben. Wenn ich also nur dreimal pro Minute atme, könnte ich 150 Jahre alt werden. Auch hier würden sich alle besorgt oder konsterniert abwenden. Alles, was nicht in unser erworbenes Schema passt, darf nicht sein.

Das größte Theater wegen meines Fastens machen übrigens immer Raucher, Übergewichtige oder psychisch Labile.

Ich fahre in aller Ruhe mit meinem Rennrad nach Hause. Fege den Hof, sauge, vertrödele Zeit und merke um halb sechs Uhr abends, dass ich immer noch vor mir selbst weglaufe.

Anstatt endlich mal zu mir zu kommen, fange ich an zu trommeln. Dann klingelt ununterbrochen das Telefon. Heute rufen lauter alte Freunde an und wollen wissen, wie es mir geht. Nur wenigen erzähle ich vom Fasten. Die anderen wollen nur ihre eigenen Probleme loswerden. Und ganz plötzlich ist es halb elf Uhr abends.

Mein Unterbewusstsein beherrscht mich vollkommen. Es will die Quälerei des Fastens nicht auch noch beobachten müssen. Also weg. Weg von hier. Weg vom Jetzt.

Auf Erleuchtung hoffe ich nicht mehr. Höchstens insgeheim. Dafür gibt es zu viele Ablenkungen. Jesus, Moses, Buddha und ihre Freunde waren allein irgendwo in der Natur und haben gefastet. Da ist die Beschäftigung mit sich selbst tatsächlich eine andere. Ich arbeite, trinke Säfte, schreibe Tagebuch und bin immer noch total unruhig. Aber ich habe ja noch 15 Tage die Chance auf Erleuchtung.

Hätte ich mir nicht vorgenommen, Tagebuch zu führen, würde es mir häufig gar nicht mehr auffallen, dass ich faste. Ich denke kaum noch an Essen und seit ein paar Nächten träume ich auch nicht mehr von verbotenen Früchten. Aber ich weiß, wie schnell man wieder in den alten Trott verfallen kann. Also fasse ich jetzt eine Menge guter Vorsätze:

Kein McDonald’s mehr. Überhaupt kein Fast Food! Keine Süßigkeiten. Und vor allem mit Genuss essen. Dankbar für jeden Bissen sein. Essen, als wäre jeder Krümel heilig. Denn von meiner jetzigen Warte aus gesehen, ist jeder Krümel heilig.

Seit Wochen ist das Wetter mies. Heute scheint wenigstens mal ein bisschen die Sonne. »Ein Mix aus Sonne und Wolken«, sagte unsere Wetterfee heute. Manche Floskeln mag ich sehr.

Es fühlt sich alles sehr herbstlich an. Es novembert im September. Aber das schlechte Wetter dient mir als gute Ausrede dafür, nicht raus in die Natur zu müssen. Stattdessen liege ich gemütlich im Bett. In meiner Räucherstäbchenbude ist es einfach am schönsten.

Leichte Halsschmerzen. Es wäre unerträglich, das Ganze wegen einer Grippe abbrechen zu müssen. Glücklicherweise habe ich im Gegensatz zu den biblischen Jungs und Buddha ein deutsches (Aspirin plus C) und ein afrikanisches (Umckaloabo) Allheilmittel im Haus.

Nur noch 15 Tage! Das ist jetzt aber wirklich zu schaffen.

40 Tage Fasten - von einem, der mal Ballast abwerfen wollte
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