Dritter Tag, 3. September

Wer stark, gesund und jung bleiben will, sei mäßig, übe den Körper, atme reine Luft und heile sein Weh eher durch Fasten als durch Medikamente.
HIPPOKRATES

Dritter Tag, 3. September

89,7 KILOGRAMM

Es ist fünf Uhr früh. Schon wieder liege ich seit Stunden wach.

Das Aufstehen fällt mir wahnsinnig schwer. Ich hatte heute schon auf den Energieschub gehofft, den ich aus früheren Fastenzeiten kenne. Aber er lässt auf sich warten. Vielleicht wirkt sich auch der Umstand, dass ich arbeite wie ein Brauereipferd an Karneval, nicht gerade förderlich auf meine Kraftreserven aus.

Zum Stichwort »Fasten« finden sich bei Google 5,5 Millionen Einträge. Für »Hungern« 1,7 Millionen: Die RAF-Häftlinge führten bis 1994 insgesamt zehn kollektive Hungerstreiks durch, an deren Folgen zwei Gefangene starben. Holger Meins war einer von ihnen. Er starb trotz künstlicher Ernährung am 9. November 1974 in der Justizvollzugsanstalt Wittlich nach 58 Tagen Hungerns. Am Ende wog er nur noch 39 Kilogramm bei einer Größe von 1,86 Metern. Diese Nachricht beweist nur, dass Fasten und Hungern auf keinen Fall dasselbe ist. Hungern geschieht erzwungenermaßen, als Reaktion auf eine äußerliche Gegebenheit. So ist auch der Hungerstreik zu betrachten. Dabei wird der einkalkulierte Tod als Druckmittel benutzt. Fasten hingegen findet immer freiwillig statt. Oder beruhige ich mich nur selbst, weil ich Angst habe, Holger Meins’ Schicksal zu teilen?

Wie nah dem Hungertod waren eigentlich Jesus, Buddha, Moses und ihre Freunde (ich werde mich einst dazuzählen dürfen) nach 40 Tagen? Und wie nah werde ich dann dem Hungertod sein?

Wieso schmeckt mir bloß kein Tee? Es gibt Zen-Mönche, die täglich eine Teezeremonie feiern und dann den Tee als Geschenk Gottes genießen. Vor Sonnenaufgang gießen sie einen stimulierenden Tee auf, singen leise ein Mantra über die Schöpfung dieser Welt und das unendliche Wunder des Lebens, hocken sich anschließend auf eine uralte Mauer und schweigen den Sonnenaufgang über dem Himalaja an.

Da ist es dann ja auch egal, wie der Tee schmeckt.

Ein Freund von mir mit dem klassischen deutschen Namen Gunther musste mal eine Reportage in Nepal drehen. Sein Kamerateam und er kamen in ein entlegenes Bergdorf, in dem bis dato bestimmt noch keine Fernsehcrew aufgeschlagen war. Das behauptete zumindest der Guide.

Mein Freund Gunther wurde als Anführer der Fremden in das Zelt der Dorfältesten eingeladen. Sie war älter als die durchschnittliche deutsche Eiche, hatte ebenso wenige Zähne, aber Falten, die der Rinde der Eiche Konkurrenz gemacht hätten. Die Alte lächelte scheel, Gunther lächelte gütig zurück und nahm dankbar einen dampfenden Tee an. Es war Yakbutter-Tee, im Geschmack vergleichbar mit ranzigem Pommes-Fett. Gunther trank. Dank deutscher Selbstdisziplin gelang es ihm zu lächeln und zu schweigen. Sonst hätte er gekotzt. Mittlerweile füllte sich das Zelt. Der halbe Clan war anwesend und beäugte den fremden Häuptling deutscher Nation. Irgendwie schaffte es Gunther, sein Glas zu leeren, und gestikulierte dann, pinkeln zu müssen. Er konnte gerade noch vor das Zelt stürzen, wo er sich in die nepalesische Steppe übergab.

Tränenden Auges schlappte er zurück ins Wigwam. Die Alte bat ihn großzügig, sich erneut zu setzen. Übelkeit. Und dann Entsetzen. Von hinten reichte man ihm den nächsten Yakbutter-Tee.

Die Freundlichkeit eines geschichtsbewussten Deutschen ist im Ausland schier unerschöpflich. Aber hier war eine Grenze erreicht. Würgend lehnte Gunther ab. Doch die Alte bestand darauf und prostete ihm sogar zu. Magensäure kam hoch, wurde aber heruntergeschluckt. Preußisch eben. Plötzlich brach die Alte in schepperndes Gelächter aus, bis der gesamte Clan einstimmte und sich vor Lachen bog. Das Yakfell-Wigwam wackelte, als würden die Götter gackern. Alle zeigten auf den Tee, taten, als müssten sie würgen, und schnitten dabei Gesichter wie einer, dem gerade die Eingeweide bei lebendigem Leib herausgeschnitten werden.

Meinem Freund traten Tränen in die Augen. Vom Kotzen, vor Erleichterung, vor Rührung und Demut.

Teetrinken im Himalaja. Wer einen Mythos durchschaut, kann mit ihm spielen. Wie bei allem.

Ich werde nach Ablauf dieser 40 Tage jeden Kaffee als Geschenk Gottes genießen.

Nach einer Entspannungsmeditation und einer warmen Dusche meldet sich der Hunger wieder. Zwei Tage hatte ich höchstens Appetit!

Das Fasten kommt mir gerade vor wie ein Traum. Alles ist so unwirklich. Ich kann nicht fassen, dass ich wieder faste, mich wieder quäle. Das Alltägliche langweilt mich einfach zu sehr. Hauptsache, nicht sein wie der Durchschnitt! Alles außerhalb ausgetretener Wege ist mir willkommen. Aber das nervt mich gerade selbst. Gabi hat auch schon die Nase voll davon. Als wir
telefonieren, fragt sie: »Können wir nicht einfach mal einen normalen Alltag haben? Entweder du planst gerade eine lange Reise oder du bist gerade auf einer langen Reise oder du bist endlich wieder da. Aber normal ist es mit uns nie!« Ich weiß, dass sie recht hat. Aber ich bin wie gelähmt, mir fällt gerade gar nichts ein. »Und kaum bist du mal länger hier, kriegst du diesen Fastenspleen!« Was soll ich sagen? »Sind ja nur 40 Tage?« Stattdessen frage ich, ob ich heute Abend vorbeikommen soll? »Nein. Ich will kochen«, antwortet Gabi und legt wahrscheinlich gerade eine schöne Gänsebrust in die Pfanne für ihren Salat.

Es ist Mittag, und ich bin »auf Dreh«. Ich zittere, meine Beine sind schwer. Noch 37 Tage. So wird das nichts. Das Fassungsvermögen meines Geistes liegt weit unter dem meiner Blase. »Deine Pinkelpausen sind sendungsgefährdend«, meint der Kameramann – halb scherzhaft.

Warum sitze ich eigentlich nicht mit gekreuzten Beinen unter einem Baum und forme mit Daumen und Zeigefinger ein »O«? Sondern diskutiere mit einem lustlosen Kameramann und quäle mich mit einem komplizierten Film über eine neuartige Herz-OP rum?

Vielleicht weil es nicht weniger qualvoll ist, den ganzen Tag auf der Erde zu sitzen und zu meditieren.

Meine Kollegen stimmen mir zu. Fast alle sind der Ansicht, dass uns das moderne Leben vergiftet. Vieles, was wir tun und zu uns nehmen, hinterlässt schädliche Rückstände in unserem Körper. Die meisten denken auch, dass Fasten eine gute Möglichkeit ist, Gifte loszuwerden. Dass ich allerdings 40 Tage lang Toxine ausleiten will, halten ausnahmslos alle für übertrieben.

40 Tage ohne ärztliche Totalüberwachung führen unweigerlich zum Tod, wollte mir heute eine Kollegin unserer Hörfunk-Abteilung weismachen. Langsam geht mir das auf die Nerven. Ich wiederhole einfach stur, dass ich felsenfest davon überzeugt bin, diese 40 Tage ohne Probleme durchzuhalten, und dass ich vollkommenes Vertrauen in mich, meinen Körper und den Prozess des Fastens setze.

Ein Arztcheck alle zwei Wochen muss reichen! Ich schreibe es, also glaube ich es.

Der Tag ist furchtbar anstrengend. Ich habe ganz vergessen, zwischendurch zu trinken. Zum Glück bin ich schnell mit den Dreharbeiten im OP durch, führe extrem kurze Interviews mit dem Operateur und dem Patienten, schütte anschließend einen Liter Wasser in mich hinein und schlafe auf der Rückfahrt im NDR-Buli. Danach ist plötzlich die Energie da. Und die gute Laune. Dieser Schub ist einmalig. Aus dem Nichts wird der Körper von Kraft durchflutet, er mobilisiert seine eigenen Reserven. Es ist eine stille Kraft, die tief im Innern auf ihren Ausbruch wartet und die ich nur vom Fasten oder manchmal vom Meditieren kenne.

Meine Mutter ruft an. Ich heuchele Normalität. Meinen Eltern und Brüdern erzähle ich erst einmal nichts von den 40 Tagen. Meine Fasten-Arie wirkt nach außen spirituell. Von Haus aus bekam ich von solchen Dingen praktisch nichts mit. Meine Familie verbindet mit Spiritualität ungefähr so viel wie Hooligans mit Messdienern.

Mein kleiner Bruder besitzt als Einziger eine übersinnliche Fähigkeit: Jedes Elektrogerät, das er in die Hände bekommt, gibt in kürzester Zeit seinen Geist auf. Es ist ein unerklärliches Phänomen – vielleicht ist seine Energie nicht kompatibel mit der Energie elektrischer Geräte.

Mein großer Bruder ist promovierter Ökonom. Aber als er mich neulich fragte, was Meditation eigentlich sei, stellte ich auch bei ihm Defizite fest.

Mein Vater ist der festen Überzeugung, dass alle Gurus Kriminelle sind, und meine Mutter meint, man müsse sich selbst gar nicht tiefer kennenlernen, es sei doch auch so alles in Ordnung.

Aber vielleicht liebe ich meine Familie gerade wegen ihrer Bodenständigkeit so sehr. Bei uns zu Hause wurden nie Gefühle vorgetäuscht. Wer schlechte Laune hatte, durfte sie ausleben. Wer gut gelaunt war, durfte die anderen anstecken. Und wer gar keine Launen hatte, wurde in Ruhe gelassen.

Es gab aber auch viel Stunk mit meinen Eltern, weil ich dazu neige, abzudrehen. Und die 40 Tage Fasten würden mich auch nicht in einem besseren Licht erscheinen lassen.

Habe ich schon erwähnt, dass meine Eltern und mein jüngerer Bruder Ärzte sind? Den meisten Schulmedizinern braucht man mit solchen Experimenten gar nicht erst zu kommen. Meiner Familie erst recht nicht.

Nach dem nichtssagenden Gespräch mit meiner Mutter durchforste ich meine Bücherregale. Neben einem Stapel neuer Fastenbücher entdecke ich mein altes Fastenbuch Wie neugeboren durch Fasten von Hellmut Lützner. Ich kann es jedem Fastenden nur wärmstens empfehlen. Hier wird genau erklärt, wie man richtig fastet und was dabei im Körper passiert.

Es ist ja doch nicht alles verboten! Das hatte ich anders in Erinnerung. Säfte, Brühe, Buttermilch, ja selbst Honig darf ich! Will ich aber nicht. Buddha hatte unter seinem Baum schließlich auch keinen Honig.

Nach einer Radtour unter einem reibungslosen Sonnenuntergang geht es mir besser. Wie ein Lichtball fällt der Stern einfach hinter die Büsche und erlischt. Fürs Erste.

Ich genehmige mir eine dünne Gemüsebrühe, die Gabi gekocht hat, und einen Schluck Buttermilch – wenn auch schlechten Gewissens, denn der darbende Buddha geht mir nicht aus dem Kopf.

Jetzt liege ich bei Gabi im Bett, und alles ist wieder gut. Sie versteht mich, und ich verstehe sie.

Merkwürdigerweise habe ich überhaupt keine Lust auf Sex. Also überhaupt gar keine! Und das, obwohl Gabi mit Zähneputzen fertig ist und gleich zu mir kommt.

Wie gut, dass ich jetzt auf den größten Künstler der Renaissance, Michelangelo, verweisen kann, der da meinte: Wenn du dein Leben verlängern willst, dann führe den Geschlechtsakt überhaupt nicht aus oder so selten wie nur möglich!

Die Lust auf Sex lässt mit dem Fasten rapide nach. Aber Sex ist auch Nahrung fürs Ego, und das Ego soll ja beim Fasten schrumpfen. Sind das bereits die ersten Schritte zur Erleuchtung?

Da mein gesamtes Umfeld ausnahmslos und vollständig dem Konsumismus verfallen ist – worüber ich mich gar nicht genug aufregen kann –, scheint sich offenbar niemand vorstellen zu können, 40 Tage auf die Basis allen Konsums zu verzichten.

Alle sagen, Verzicht zu üben sei generell eine gute Sache. Weniger Wünsche zu haben, mal ein paar Tage nicht zu rauchen, keinen Zucker zu sich zu nehmen oder gar eine Woche keinen Alkohol zu trinken. Aber 40 Tage Totalverzicht?

Das Leben ist ein großes Fressen. Nach nur drei Tagen Entsagung beginne ich zu begreifen, was wir alles mit Essen verbinden: Genuss, Geselligkeit, Prestige, Befriedigung, Lust, schlechtes Gewissen, Leben und Tod und noch viel mehr. Gegessen wird immer und überall. Wenn ich in Kiel durch die Einkaufsmeile gehe, sehe ich lauter kauende und schluckende Menschen, jeder Dritte mampft. An jeder Ecke gibt es Essbares, überall dampft und brutzelt es. Überall der Geruch nach Bratwurst, Pizza und Brötchen. Das Nahrungsangebot ist so überwältigend, dass es mir fast surreal vorkommt. Wir leben, um zu essen. Und wenn wir wollten, könnten wir uns auch noch gesund ernähren: Bio, Rohkost, Convenience Food. Obst aus aller Welt, jede Gemüsesorte zu jeder Jahreszeit.

Mein dürrer Zeigefinger sticht sofort nach oben, und mein fastendes Ego fühlt sich haushoch über die speisende Bevölkerung erhaben. Ob Magersüchtige ähnlich empfinden?

Für Sokrates, den großen Philosophen, waren alle Menschen Barbaren, die glaubten, mehr als zweimal pro Tag essen zu müssen. Der alte Grieche meinte, dass sich der Mensch sein Grab mit den Zähnen grabe.

Jetzt verspüre ich allerdings wirklich Hunger. Essen ist die schönste Hauptsache der Welt! Ich könnte alles aufessen, was mir über den Weg läuft.

40 Tage Fasten - von einem, der mal Ballast abwerfen wollte
titlepage.xhtml
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_000.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_001.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_002.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_003.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_004.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_005.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_006.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_007.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_008.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_009.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_010.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_011.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_012.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_013.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_014.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_015.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_016.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_017.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_018.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_019.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_020.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_021.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_022.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_023.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_024.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_025.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_026.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_027.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_028.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_029.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_030.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_031.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_032.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_033.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_034.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_035.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_036.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_037.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_038.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_039.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_040.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_041.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_042.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_043.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_044.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_045.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_046.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_047.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_048.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_049.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_050.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_051.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_052.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_053.html
40_Tage_Fasten_-_von_einem,_der_split_054.html