Dreiunddreißigster Tag, 3. Oktober

Doch auch jetzt noch, spricht der Herr, kehret euch zu mir von ganzem Herzen mit Fasten, mit Weinen, mit Klagen! Stoßt in die Posaune zu Zion, heiligt ein Fasten, beruft eine allgemeine Versammlung!
JOEL 2, 12 u. 15

Dreiunddreißigster Tag, 3. Oktober

78,2 KILOGRAMM

Tag der deutschen Einheit. Feiert das da draußen jemand?

Meine innere Ruhe ist nicht das Ergebnis einer Fülle oder gar Erfüllung, sondern der Entsagung. Es ist zwar Stille eingekehrt, doch hat diese Stille eine andere Färbung, eine andere Nuance als jene Stille, die der Fülle entspringt.

Es kann sein, dass ich durch das Fasten ein paar klare Momente habe, aber Erleuchtung ist das auf keinen Fall. Es vermittelt mir höchstens einen Vorgeschmack auf das, was ich suche. Gefunden ist es damit nicht. Es zeigt mir im besten Fall nur, dass es etwas Erhabeneres gibt und dass es sich lohnt, danach zu suchen. Fasten muss man dafür nicht. Erst recht nicht 40 Tage lang! Mir reicht’s.

Ein Schwarm Stare tanzt in der Luft. Wie ein gefiedertes Ballett Gottes. In dem kurzen Moment der Freude über die Vögel, in dem Moment des Entdeckens und der aufmerksamen Beobachtung, des Gebanntseins von diesem Anblick, herrscht Stille. Da ist kein Geräusch, kein Problem, kein Gefühl. Nichts. Noch nicht mal ein »Om«. Das ist Stille und Fülle in einem. Es zu bewahren erscheint mir unmöglich. Denn dann wäre es nichts Besonderes mehr.

Wenn Erleuchtung das Ende des Leidens ist, dann habe ich in dem Augenblick, als ich den Schwarm entdeckte, Erleuchtung erfahren. Aber das erfährt theoretisch jeder Mensch in jedem Moment. Sind wir also alle schon erleuchtet und wissen es nur nicht?

Sobald der Wunsch nach Erleuchtung aufhört, ist die Erleuchtung da. Immer dann, wenn alle Wünsche enden. Aber der wunschlos glückliche Zustand ist eben auch nicht von Dauer.

Ist der Körper selbst Vergangenheit? Die Zellen wurden ja in der Vergangenheit gebildet, genährt und auch von Emotionen gefüttert. Erfahrungen werden auch in den Zellen gespeichert. Anders kann es nicht sein. Aber solange die Wissenschaft dies nicht nachprüfen kann, glauben wir auch nicht daran.

Vielleicht sind auch gerade alte Fettzellen Speicherplätze für Erfahrungen des Verstandes und des Körpers. Wenn ich diese Speicher also durch das Fasten ausschwemme, befreie ich mich auch von altem Ballast.

Ich muss dieses Extremfasten durchführen, um wieder festzustellen, dass das Leben eine große Freude ist, ein Geschenk. Das Leben ist nicht Entsagung, nicht Leid und nicht Askese. Aber ich muss all dies durchleben, um wieder Dankbarkeit und Demut zu spüren. Das Leben ist reinster Überfluss. Und ich habe davon in der Vergangenheit einfach zu viel genossen. Das war das Problem. Deshalb faste ich. Allein um diese Erkenntnis zu haben, lohnt sich die Kasteiung aber noch lange nicht.

Wir saßen gestern Abend mit Freunden zusammen, und ich beteiligte mich praktisch nicht am Gespräch. Gabi vertritt die Theorie, dass sich mein Geist und Körper durch das lange Fasten so langsam auf den Tod vorbereiten und nach und nach alles Weltliche aufgeben würden.

Ich bin weiterhin extrem unterkühlt. Körperlich ebenso wie geistig. Ich kann auch nicht viel geben. Schlussfolgerung: Wer nichts zu sich nimmt, kann auch nichts geben. Daraus könnte man weitere Schlüsse ziehen: Wer glaubt, das Leben sei ungerecht, kann nicht gerecht sein. Wer glaubt, das Leben sei kompliziert, kann nicht unkompliziert sein.

Die ständige Sorge um die Gesundheit ist auch eine Krankheit, hat schon Platon befunden. Der neue Götze unserer Gesellschaft heißt Gesundheit. Aber auf meine Art bin ich auch von einem Gesundheitswahn gepackt. So wie andere strapaziöse Wallfahrten auf sich nehmen und darüber auch noch Bücher schreiben, faste ich entbehrungsreich. Und schreibe ebenfalls ein Buch darüber.

Ein Freund erkundigt sich telefonisch, ob ich ein Asket sei. Allgemein und weltanschaulich neutral betrachtet, fabuliere ich, versteht man unter Askese den Verzicht auf sinnliche Genüsse und Vergnügungen zugunsten des Erreichens eines als höherwertig oder innerlich befriedigender erachteten Ziels (vielleicht habe ich es auch nicht ganz so brillant formuliert); meist aus religiöser oder weltanschaulich motivierter Enthaltsamkeit, insbesondere üben Asketen den Verzicht auf den Genuss von Rauschmitteln und die sexuelle Enthaltsamkeit.

Alle Askesen, die er kenne, teilt mir dieser Freund am Telefon mit, verträten eine eher negative Sicht der Welt. Ich erwidere, dass ein Asket beabsichtige, sich durch Askese zu läutern und sich von den Unvollkommenheiten der Welt zu lösen. Mein Freund beantwortet diese Ausführungen mit einem Schweigen. Wir legen auf und werden vermutlich so schnell nicht wieder miteinander telefonieren. Ich verliere neben meinen Pfunden auch Freunde in zweistelliger Zahl, wenn das so weitergeht.

Ich habe gekocht. Ein befreundetes Ehepaar ist mit seinen Kindern und Terrier Timmy zu Besuch. Irgendwie ist die Pflicht, ein guter Gastgeber zu sein, sehr tief in mir verwurzelt. Also habe ich eine asiatische Reispfanne mit Gemüse auf den Tisch gezaubert. Ohne abzuschmecken. Sehr lecker, wurde mir gesagt.

Es fällt mir deshalb heute sehr schwer, nichts zu essen. Essen ist die Basis schöner Geselligkeit. Genau wie Kaffee, Rauchen und Knabberzeug. Wenigstens in meinem Kopf ist dieses Gesetz auf jeden Fall tief verankert.

Meine Freunde hätten ihren Besuch hier oben an der Ostsee vom Wetter her ungünstiger nicht wählen können. Am Abend vor dem Fasten lag ich hier noch mit Gabi am Strand. Und jetzt, 32 Tage später, wandere ich mit vier Jacken ausgestattet, Handschuhen und Wollmütze durch den Regen. Dabei ist Oktober, und er müsste golden sein! Diese anhaltende Kälte macht meinem fastenden Organismus am meisten zu schaffen. Ich könnte den ganzen Tag in einer 100 Grad heißen Sauna liegen.

40 Tage Fasten - von einem, der mal Ballast abwerfen wollte
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