Sechsundzwanzigster Tag, 26. September

Nun gehört auch Berlin zu jenen gesegneten Städten, in denen sich ein interessanter Hungerleider gegen Entrée zur Schau stellt. Herr Cetti hatte ungefähr eine viertel Stunde gefastet, als ein Polizei-Lieutenant erschien und Miene machte, ein weiteres Fasten zu inhibieren. Der Polizeibehörde schienen Bedenken über den eigentlichen Charakter des Experiments aufgestiegen zu sein.
Illustriertes Wiener Extrablatt, März 1887

Sechsundzwanzigster Tag, 26. September

81,0 KILOGRAMM

Noch 14 Tage.

Es rattert und rattert, das Ego. Käme doch ein Wiener Wachtmeister und könnte das Geratter inhibieren.

Da sprudelt einem morgens der letzte Unsinn durch die Birne. Gabi, der Job, mein jüngerer Bruder, Schlagzeilen von gestern. Ein nicht enden wollendes Geplärr an Nichtigkeiten. Warum ist das bloß so? Ein auf Hochtouren laufender Geist kostet schließlich viel mehr Energie als ein zur Ruhe gekommener. Sonst ist in der Natur doch alles vollkommen ökonomisch eingerichtet. Nur beim Ego ist offenbar irgendetwas schiefgelaufen.

Kaffee … heute wabert Kaffeeduft durchs Haus. Ich habe seit Tagen nicht an Kaffee gedacht.

Von meinen Mitbewohnern habe ich seit Tagen nichts mitbekommen – außer eben den Kaffeeduft. Sie meiden mich, wie mir scheint. Ich kann das verstehen. Wer will schon einen schweigenden, spargeligen Hausgeist um sich haben? Dabei könnte ich ihnen so viel Interessantes erzählen: Einläufe, Pinkelvolumina, Zungenbelag, Stuhlfarbe …

Furchtbar früh steige ich heute in den Zug nach Sylt, um einen Freund zu besuchen. Er wohnt direkt hinter dem Deich und ist Meditationslehrer. Endlich jemand, bei dem ich nicht reden muss. Wir verbringen einen sehr entspannten Tag, zum Schluss gibt er mir noch mehrere Meditationen auf CD mit – für die letzten Fastentage.

Ich habe das Gefühl, dass ich ausgefastet bin. Vielleicht ist das aber auch nur Einbildung. Meine Zunge ist kaum noch belegt, der Darm scheint leer zu sein, und mein Körper fängt an abzubauen. Meine streichholzdünnen Beine gleichen immer mehr denen Michael Stichs. Die Radtour quer über Sylt heute konnte ich aber sehr gut bewältigen. Auffallend war nur, dass mich während einer kurzen Pause Enten belagerten, als wollten sie mich füttern.

Bei der Arbeit gibt es jeden Tag Kuchen. Geburtstage, Abschiede, Quotenerfolge, Neueinstellungen. Ich sage mir: Wenn ich jetzt auf Süßes verzichten kann, dann kann ich das auch, wenn ich nicht faste. Allen Zucker will ich lassen. Gleichzeitig möchte ich aber auch kein Asket werden. Alles in Maßen ist erlaubt.

Ich nehme den Zug von Sylt nach Hamburg und bummle die Alster entlang. Großstadtluft schnuppern macht satt!

Als ich nicht mehr weiß, wohin mit mir, gehe ich in ein Gourmetrestaurant. Mit Hemd und Jackett sehe ich verhältnismäßig schick aus und falle nicht weiter auf. Ich setze mich an einen Tisch ziemlich in der Mitte und bestelle stilles Wasser – tue so, als erwartete ich jemanden.

Ich sitze und beobachte. Essen ist viel mehr als Nahrungsaufnahme. Essen ist Geilheit, Identität, Ritual, Statussymbol. Es bietet alles: Trost und Unterhaltung, es ist klebrig, glitschig, eklig, zum Kotzen emotional, zum Heulen widerlich.

Ich bestelle: Zettel und Stift.

Wohlstands-weltläufige Weiblichkeit neben mir schmaust Meeriges. Die Reichen sind mir so langweilig – ich muss sie wenigstens mit Worten zu etwas Besonderem machen. Außerdem erscheine ich dadurch ein bisschen edler.

Die Elite speist hier, sie kleidet sich korrekt, sie benimmt sich hervorragend und sie diniert nach Plan. Seitdem Sushi, Austern, Hummer und Lachs mittlerweile selbst von der Unterschicht vertilgt werden, liegen hier Jakobsmuscheln und Seeigel auf dem Teller. Exklusive Menschen brauchen exklusive Nahrung.

Männer und Frauen essen ihrem Geschlecht entsprechend. Männer rotes Fleisch, Frauen Pute. Er Knurrhahn, sie Salade niçoise. Madame mag es süß, leicht, weich und mild, Monsieur deftig, herb, schwer und stark.

Sie knabbert, knuspert und nagt zurückhaltend, er fletscht, mahlt und haut sich die Wampe voll. Sie kurvt ums Salatbuffet, er schwänzelt um den Grill rum. Unser Essverhalten entspricht unserer Persönlichkeit. Wir essen, wie wir sein wollen.

Soll ich aufstehen und einen Vortrag halten? »Hört mir mal alle zu!« Das mache ich natürlich nicht. Aber ich könnte Folgendes ausrufen: »Essen, um das mal klarzustellen, hat in erster Linie mit Energiezufuhr zu tun. Habt ihr überkandidelten Gourmet-Pilger das schon vergessen?«

Stattdessen zahle ich nur 3,20 Euro, schüttele den Kopf, zucke mit den Schultern, ziehe die Stirn kraus und stelze heraus. Tue ratlos.

»Nichts –«, schreibt der Schriftsteller Jonathan Safran Foer in Tiere Essen, »kein Gespräch, kein Handschlag, nicht mal eine Umarmung – besiegelt Freundschaft so deutlich wie gemeinsames Essen. Vielleicht ein kulturelles Phänomen. Vielleicht ein Nachhall der gemeinschaftlichen Mahlzeiten unserer Vorfahren.«

Essen ist nicht gleich essen. Und nicht essen ist nicht gleich nicht essen.

Es ist dunkel, Hamburg wirkt bedrohlich. Die Stadt hat Mundgeruch.

40 Tage Fasten - von einem, der mal Ballast abwerfen wollte
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