Einunddreißigster Tag, 1.Oktober

»Eine verwegene Theorie«, urteilt der Ernährungsmediziner Andreas Pfeiffer von der Charité in Berlin. »Die Vorstellung, dass im Körper Abfälle lagern, die sich quasi per Müllabfuhr beseitigen lassen, ist durch keinerlei Studien belegt.« Aber vielleicht sind wissenschaftliche Beweise, dass Fasten den Körper entschlackt, gar nicht notwendig: »Eine Heilmethode kann auch dann helfen, wenn die Theorie dahinter nicht belegt oder sogar falsch ist«, sagt Edzard Ernst von der britischen University of Exeter.
Berliner Zeitung vom 25.02.2009

Einunddreißigster Tag, 1. Oktober

80,0 KILOGRAMM

Oje! 80 Kilogramm. Nur noch drei Kilo bis zum Untergewicht. Jetzt darf ich nur noch 300 Gramm pro Tag abnehmen. Der sogenannte Body-Mass-Index errechnet, in welcher Gewichtskategorie man sich befindet. Gewicht geteilt durch Länge hoch zwei. Untergewicht beginnt je nach Definition bei einem Index von 19,5. Das sind bei meiner Länge von knapp zwei Metern demnach 77 Kilogramm. Und ich sehe jetzt schon wie ein mittelalterlicher Kerkerinsasse aus.

Dafür ist aber tatsächlich ein Ende in Sicht. Es ist Oktober, und ich bin innerlich in blendender Verfassung, würden die Gazetten schreiben, wäre ich berühmt und 80 Jahre alt. Nun bin ich aber erst 38 und sehe mindestens so ausgemergelt aus wie die Generation meiner Großväter.

Ich bin zum ersten Mal ohne Druck auf der Blase aufgewacht. Musste nur einmal raus.

Gestern plagten mich merkwürdige Nieren- und Leberschmerzen. Eine weitere Katharsis meines Körpers, um durch das Fasten in ein neues Gleichgewicht zu geraten.

Statt vom Essen träumte ich die vergangenen beiden Nächte von Sex. Verbotenerweise mit Exfreundinnen. Kurz vor der Vereinigung wurde mir immer klar, was ich da gerade mache, bekam ein schrecklich schlechtes Gewissen Gabi gegenüber, brach den Sex ab und wachte unbefriedigt auf.

Gabi denkt übrigens, wenn sie mich ansieht, nicht mehr im Entferntesten an Sex. »Du siehst aus wie ein verhungertes Vögelchen, ich hätte ja Angst, dich zu zerbrechen«, erklärte sie mir gestern. Ich muss hier unbedingt festhalten, dass Gabi alles andere als eine Matrone ist.

Der Fastenpapst der Franzosen heißt Guelpa; dieser erzielte nach eigenen Angaben bei folgenden Krankheiten besonderen Erfolg durch Fasten: Diabetes, Asthma, Bronchitis, Migräne, Rheuma, Ischias, Arthritiden, Fettleibigkeit, Magen-, Darm- und Leberleiden, Verstopfung, Ausschläge, Neurasthenie, Glaukom, Augenentzündungen und Rauschgiftsucht. Guelpa therapierte sich so erfolgreich selbst, besonders aber andere.

Habe mal wieder einen halben Liter Sauerkrautsaft hinuntergewürgt. Der Dünndarm scheint aber nicht mehr aktiv zu sein. Außer Gegrummel und Geglucker ist nicht viel gewesen.

Vielleicht lechzt mein Körper deshalb jetzt nach Nahrung. Ich habe keinen Hunger, nur entsetzliche Lust, etwas zu essen. Dabei weiß ich noch nicht mal, was.

Ich weiß, dass ich mich irgendwann nach dieser Fastenzeit zurücksehnen werde. Ich musste früher schon einmal eine furchtbar lange Zeit der Entbehrungen durchstehen. Bei einem Segeltörn von Panama nach Tahiti war ich fünf Wochen am Stück auf dem Wasser. Ich fürchtete damals, durchzudrehen. Die Zeit stand still. Das Meer war rund. Nichts passierte. Ich brauchte noch nicht einmal eine Seekarte, da es außer Wasser ja nichts gab. Fünf Wochen nur Bläue. Oben. Unten. Vorne. Hinten. Links. Rechts. Überall. Und manchmal war auch ich selbst blau, wenn ich es nicht mehr ausgehalten hatte. Bei der Überquerung des Äquators sogar dunkelblau.

Nach vier Wochen war endlich Land in Sicht, ein Atoll, und ich musste vor Glück weinen. Im Nachhinein betrachtet, waren diese endlosen Tage auf dem Pazifik die intensivste Zeit meines Lebens. Kaum war ich in Papeete an Land, sehnte ich mich wieder zurück auf den Ozean. In die Stille, in das Nichts, ins Ich. Genau so könnte es jetzt auch wieder werden. So still und ruhig bin ich in meinem nicht fastenden Leben nicht.

Aber im Nachhinein vergisst man auch immer die Strapazen. Und 40 Tage nicht zu essen ist eine Strapaze. Und mit der Erleuchtung ist das so eine Sache …

Gegen Schlafstörungen helfen Gedankenspiele. Ich suche nach Sprichworten, die mit Nahrung oder Nahrungsaufnahme zu tun haben:

Ein voller Bauch studiert nicht gern; des Satten Sehnsucht schläft; der satte Wolf hat keine Angriffslust; die satte Schlange kann man fangen; der frühe Vogel fängt den Wurm; An apple a day keeps the doctor away; Morgenstund hat Gold im Mund …

Meine Gemütslage hat sich verändert. Es geschieht nichts mehr, und daher erwarte ich auch nichts mehr. Das Fasten ist absoluter Alltag geworden, im Grunde gar kein Thema mehr. Damit ist aber auch das Thema »Erleuchtung« in weite Ferne gerückt.

Ich bin so nüchtern geworden, so emotionslos und runtergefahren, dass es mir völlig egal ist, ob ich nach 40 Tagen die Offenbarung finde oder nicht.

Wer bin ich schon, und was sollte das ändern? Wir leben, machen unsere Erfahrungen und sterben. Das war’s. Wir haben höchstens noch die Wahl, ob wir dieses Leben nach den Ängsten und Verrücktheiten unseres Unterbewusstseins gestalten oder möglichst viel Zeit im Hier und Jetzt verbringen.

40 Tage Fasten - von einem, der mal Ballast abwerfen wollte
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