Vierter Tag, 4. September

Wenn Rebhuhn, dann Rebhuhn – wenn Fasten, dann Fasten.
TERESA VON ÁVILA, Kirchenlehrerin

Vierter Tag, 4. September

88,6 KILOGRAMM

Es wird tatsächlich leichter, auch wenn mir das Aufstehen immer noch schwerfällt. Aber ich fühle mich gut! Der Magen grummelt nicht mehr. Kein Hunger. Allerdings hatte ich morgens um fünf auch noch nie Hunger.

Ich habe vom Fastenbrechen geträumt. Auch als ich zu rauchen aufhörte, hatte ich jede Nacht im Schlaf eine Zigarette im Mund.

Ich genieße das Essen nicht wirklich, ich schlinge wie ein Süchtiger. Und ich bin mir ziemlich sicher, das trifft auf eine ganze Reihe von Menschen in unseren Breiten zu. Nur sehr selten stille ich echten Hunger, ernähre mich wirklich bewusst. Wann frage ich mich schon mal, woher die Nahrung kommt? Wann bin ich ehrlich dankbar für mein Essen? Weiß ich überhaupt dieses unerschöpfliche Angebot zu schätzen?

Die Essensaufnahme ist das Erste, womit sich ein Mensch beschäftigt. Wir kommen auf die Welt und wollen zwei Dinge: Liebe und Nahrung – beides brauchen wir zum Überleben. Es geht um die ständige Angst, nicht genug davon zu bekommen. Und diese Urangst steckt immer noch in uns. Das Gefühl des Mangels begleitet unsere Emotionen. Aus dieser Ecke kommen wahrscheinlich auch die ganzen Warnungen der Leute, wenn ich ihnen erzähle, dass ich einfach mal ein bisschen länger fasten will.

Ohne Liebe halten es viele Menschen jahrelang aus, ohne Nahrung aber geht es nicht.

Gestern erzählte mir der Herzchirurg, dass Fasten zu Herzrhythmusstörungen führen könne. Dem Körper fehlten nach einiger Zeit Elektrolyte, um einen regelmäßigen Herzschlag zu produzieren. Das ist zweifellos möglich, passiert aber sicher sehr selten. Sonst wäre die Menschheit doch längst ausgestorben. Die Wahrscheinlichkeit, dass das bei einem 38-jährigen gesunden Mann auftritt, tendiert gegen null – was aber natürlich kein einziger Schulmediziner unterschreiben würde.

Mein Blutdruck ist total im Keller. Ich brauche mich nur leicht zu bücken, und sofort wird mir beim Aufrichten schwarz vor Augen. Trotzdem fühle ich mich nicht schlecht. Eigentlich geht es mir sogar ganz gut. Ich darf mich eben nur nicht bücken.

Schon nach zwei Tagen sinkt die Produktion des Stresshormons Kortisol, dafür wird das Gute-Laune-Hormon Serotonin ausgeschüttet. In fast allen Büchern schwärmen Experten von diesem Serotonin.

Ich bin high.

Könnte man nicht wenigstens aus Serotonin Tee produzieren? Sanddorn, Hagebutte, Brennnessel, Roibusch, Fenchel, Rhabarber, Entspannungstee, Tee für Schwangere, Karamell- und Blasentee – alles ekelhaft! Ich probiere es trotzdem weiter. Was soll ich sonst auch machen. Alles andere ist ja verboten.

Nichts schmeckt so gut wie Latte macchiato.

Wenn man nichts isst, erhält das Essen plötzlich einen extrem hohen Stellenwert im Leben. Einen viel höheren als sonst. Und man beschäftigt sich mit allerlei Fragen rund ums Thema »Was essen wir Deutschen eigentlich?«. Laut Statistischem Bundesamt hat Fleisch im vergangenen Jahr in Deutschland 21 Prozent des Gesamtumsatzes der Ernährungsindustrie ausgemacht. Milch und Milchprodukte 17 Prozent. Und was liegt auf Platz drei? Nein, nicht Obst und Gemüse! Auch nicht Süßigkeiten! Sondern Alkohol! Mit neun Prozent.

Ich langweile mich. Was soll man auch den ganzen Tag lang machen, wenn man nicht essen kann? Alle Freunde arbeiten. Gabi auch. Also fahre ich in die Stadt – und finde mich plötzlich an meinem Schreibtisch wieder. Wenn ich wenigstens müde oder erschöpft wäre. Aber ich fühle mich sogar extrem energiegeladen. Wohin mit der ganzen Energie? Gleichzeitig bin ich merkwürdig ruhig. Als könne mich nichts erschüttern. Vorboten der Erleuchtung? Ich nehme Aufträge für Freitag, Samstag und Sonntag an, verspreche mir aber hoch und heilig, nächste Woche faul zu sein und mindestens einen ganzen Tag im Wald zu verbringen.

Fasten polarisiert. Fast jeder hat mir etwas zu dem Thema mitzuteilen. Eine stark übergewichtige Kollegin meint, sie halte gar nichts vom Fasten, sie »kriege zu viel, wenn Leute fasten«. Die meisten Menschen würden das ja völlig falsch machen. Gar nicht richtig entgiften. Ich frage die Wuchtbrumme, ob sie wüsste, wie man richtig entgifte und ob sie selbst Fasten- und damit Entgiftungserfahrung gesammelt habe. »Nein.«

Zum Glück schaffe ich es gerade noch, mich zusammenzureißen, und beschreibe ihr nicht, wie ich jeden Morgen den Brausekopf unserer Dusche abschraube, mir das Schlauchende an den Anus halte und damit Wasser in meinen Darm leite. Mein Ein-Lauf zu mir selbst. So entgiften nämlich Fortgeschrittene!

Vielleicht hätte ich es ihr doch erzählen sollen.

Heute findet die zweite Fotosession statt. Schöner werde ich nicht gerade. Aber die Bilder dokumentieren trotzdem ganz gut, wie sich der Körper in den 40 Tagen Fasten verändert. Im Moment sehe ich aus wie der fehlgeschlagene Tierversuch eines drogensüchtigen Gottes. Meine Schultern sind schief. Die Wangenknochen stechen hervor. Und meine Beine sehen krumm aus. Bin ich das?

Ich habe im Internet die Deutsche Fastenakademie entdeckt. Was es alles gibt. Über 40-tägiges Fasten haben die aber auch nichts auf ihrer Homepage. Ob das mit den Elektrolyten fürs Herz vielleicht doch stimmt, ließ sich also dort nicht nachprüfen.

Wer sich noch nicht mit Fasten beschäftigt hat, kann sich gar nicht vorstellen, wie unüberschaubar groß dieses Feld ist. In jeder Region gibt es Fastenkliniken, in jeder Stadt Mediziner, die sich darauf spezialisiert haben, und auf der Straße tummeln sich Hunderttausende, die schon mal gefastet haben oder zumindest einen nahen Verwandten mit Fastenerfahrung haben.

Mein Hochgefühl ist weg. Auch Serotonin baut sich ab oder fastet sich weg. Am liebsten würde ich mich den ganzen Tag über im Bett aufhalten. Vielleicht denkt dann der Körper, es wäre Nacht und verlangt deshalb nicht nach Nahrung. Wer isst schon im Liegen?

Ich habe so viel Zeit. Und würde so gerne über tiefgründige Dinge schreiben. Mit einem Tagebuch soll die Normalität an Bedeutung gewinnen. Selbst wenn nichts geschieht, durchsuche ich dieses Nichts nach etwas, was das Nichts nicht hergeben kann.

Es ist Mitternacht. Und es war doch ein guter Tag. Ich habe alles, was ich brauche: ein Dach über dem Kopf, Kleidung, Wasser, sogar Buttermilch und Säfte. Weshalb sollte ich jemals wieder essen? Besser als mir jetzt kann es einem Menschen nicht gehen. Ich fühle mich befreit, als wäre eine Last von mir abgefallen, brauche kaum Schlaf. Ich liege einfach nur hier und bin glücklich. Vielleicht fühle ich mich aber auch gerade so gut, weil ich hier keine Menschen um mich habe. Werde ich zum Eigenbrötler durch das Fasten?

Wenn es mir so geht wie heute, werde ich die 40 Tage locker schaffen. Und selbst wenn es mir nur halb so gut geht, packe ich es. Und auch wenn noch weniger drin ist, halte ich durch.

40 Tage Fasten - von einem, der mal Ballast abwerfen wollte
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