Sechzehnter Tag, 16. September

Wenn die gebildeten Männer der Wissenschaft eines Zeitalters die Tatsache anderer Forscher von vornherein mit der Begründung der Absurdität oder Unmöglichkeit geleugnet haben, hatten die Leugner immer unrecht.
ALFRED RUSSEL WALLACE

Sechzehnter Tag, 16. September

83,4 KILOGRAMM

»You look like a Marine!« Ein amerikanischer Freund von mir zeigt sich via Skype tief besorgt wegen meines verhärmten Äußeren. »40 days? Why?« – »It’s just a test«, wäge ich ab. »But you’re not anorexic?« Magersüchtig? Ich? Auf die Idee muss man erst einmal kommen. »Actually«, grinst er, »you look like a warrior.« Wie ein Krieger? Ich beende das Gespräch höflich, aber abrupt und blicke in den Spiegel. Wie ein Krieger – mit ein bisschen Fantasie. Stahlhelm auf. Schmutz ins Gesicht. Schon stehe ich an vorderster Front.

»Magersucht: Infolge einer tief gestörten Wahrnehmung des eigenen Körpers und einer intensiven Angst vor vermeintlichem ›Dickwerden‹ führen die Betroffenen absichtlich einen gesundheitsschädigenden, unter Umständen sogar lebensbedrohlichen Gewichtsverlust herbei durch strenge Diät, häufig begleitet von intensiver sportlicher Betätigung, manchmal kommt es auch zur Einnahme von Appetitzüglern und Abführmitteln. Rund zehn Prozent der Betroffenen hungern sich zu Tode.« So steht es im SPIEGEL-Lexikon.

Dies alles trifft auf mich zu – bis auf die Appetitzügler und die Kleinigkeit, dass ich keine gestörte Wahrnehmung meines Körpers habe. Und Angst vorm Dickwerden habe ich auch nicht. Ob ich zu den genannten zehn Prozent gehöre, werden wir in spätestens 24 Tagen wissen. Ich glaube aber nicht.

Wenn man eine gestörte Wahrnehmung hat, merkt man das überhaupt selbst? Der Gestörte empfindet sich selbst ja nicht als gestört. In der Wahrnehmung gestört ist derjenige, der die Realität verfälscht sieht oder erkennt. Demnach sind wir alle ab und zu gestört. Oder täusche ich mich in dieser Wahrnehmung der Realität? Gestört hätte es mich nicht.

Ich sitze draußen vor einem Café und versuche es mal wieder mit Tee, als sich jemand neben mich setzt und eine Zigarette anzündet. Wie bei jedem Nichtraucher steht der Wind ungünstig und bläst in meine Richtung. Ein Geruch nach Gift und Tod. Mein Körper ist so empfindlich geworden, dass ich mich wegsetzen muss.

In den 1930er-Jahren haben 90 Prozent der Männer in Deutschland geraucht. Heute ist Rauchen in Kneipen verboten. Das zeigt, dass es innerhalb von zwei Generationen einen gewaltigen Bewusstseinswandel gegeben hat. Gleichzeitig war Fasten in den 1950ern sehr populär und auch als Heilmethode anerkannt. Da wäre ich mit meinen 40 Tagen wahrscheinlich gar nicht sonderlich aufgefallen.

Im Internet bin ich auf einen Fastenexperten aus Kiel gestoßen. Er schreibt klar und nüchtern übers Fasten, ohne esoterisches Geseiere und Besserwisserei, ohne Warnungen auszusprechen und ohne Selbstbeweihräucherung. Eine Seltenheit. Also rufe ich ihn an, um ihm ein paar Fragen zu stellen. Er sagt, dass ein Gespräch 20 Euro koste. Ich ignoriere den Hinweis und frage: Wie oft sollte man abführen? Täglich, ist seine klare Antwort. Wann ist man ausgefastet? Wenn der Darm leer und die Zunge rosa sei, was – wenn überhaupt – erst nach mehreren Wochen passiere. Was er von 40 Tagen Fasten hält? Kann man machen, muss man nicht machen. Wie er denn jetzt die 20 Euro haben wolle, per Überweisung? Gar nicht, das nächste Gespräch sei dann tatsächlich kostenpflichtig. »Dann habe ich noch eine Frage: Kann Fasten Herzrhythmusstörungen auslösen?« – »Nicht dass ich wüsste«, ist seine klare Antwort. Netter Arzt.

Heute hatte ich mein zweites Belastungs-EKG und war noch leistungsfähiger als beim ersten. Ich hatte 350 Watt zu treten bei einem 140er-Puls. Das beweist doch wieder mal: Fasten macht fit. Dabei bin ich in der letzten Zeit viel seltener zur Arbeit geradelt als vor dem Fasten, bin also untrainierter. Und trotzdem erzielte ich eine bessere Leistung. Der gesunde Körper kommt demnach über einen längeren Zeitraum sehr gut ohne Nahrung zurecht. Die Frage ist nur, wie lang dieser Zeitraum sein kann. In zwei Wochen findet mein nächstes EKG statt. Und dann sind es auch nur noch zehn Tage bis zum Fastenende. Wenn man den Marathon in Etappen aufteilt, klingt er leichter.

Wenn dem Menschen das Fasten tatsächlich so gut bekommt und er problemlos zwei Wochen und länger fasten kann, dann müsste er auch jederzeit das Fasten beenden, das heißt also brechen können. Als die Steinzeitmenschen monatelang ohne Nahrung aushalten mussten, um dann endlich ein Reh zu erlegen, werden sie nicht lange gefackelt haben, sondern sofort über das Tier hergefallen sein und sich den eingefallenen Bauch vollgeschlagen haben. Und sie werden es vertragen haben, sonst wäre die Menschheit wohl inzwischen ausgestorben. Der Steinzeitler wird kaum zu seinem Kumpel gesagt haben: Hör mal, wir haben jetzt aber wirklich schon lange nichts mehr gegessen, wir sollten erst ein paar Aufbautage machen und dann nächste Woche ein kleines Stückchen Reh probieren.

Gleichwohl gibt es Geschichten von halb verhungerten Kriegsheimkehrern, die, endlich nach dem langen Heimweg zu Hause angekommen, zu schnell und zu viel gegessen haben und daran gestorben sind.

Gabi ist wieder versöhnt. Sie ruft an, fragt liebevoll, ob alles okay sei. Wir erzählen uns von unserem Tag, schicken uns Küsse durchs Telefon und schlafen mit der Gewissheit ein, uns zu lieben.

Von Luft und Liebe kann man nicht leben? Doch. Kurzfristig.

40 Tage Fasten - von einem, der mal Ballast abwerfen wollte
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