Zweiundzwanzigster Tag, 22. September

Louis Lecoin (1888–1971) trat in seinem 1958 begonnenen Kampf für Legalisierung der Kriegsdienstverweigerung am 1. Juni 1961 in einen Hungerstreik. Am 22. Tag brach er das Fasten aufgrund eines Einlenkens von Premierminister Georges Pompidou ab, aber erst auf Androhung eines erneuten Hungerstreiks zwei Jahre später kam es zum Nachgeben der Regierung und schließlich im Dezember 1963 zum Erlass eines Gesetzes und zur Freilassung der inhaftierten Verweigerer.
Aus: wikipedia.de

Zweiundzwanzigster Tag, 22. September

82,6 KILOGRAMM

Wieder liege ich mitten in der Nacht wach. Ich schlafe nie mehr als drei Stunden am Stück. Offenbar braucht mein Körper nicht mehr Schlaf. Ohne Verdauung und mit verringerter Hirnaktivität ist der Körper kaum gefordert.

Was wären wir ohne Internet? Ich vertreibe mir die durchwachte Nacht mit Surfen. Monsieur Lecoin würde heute belächelt werden. 22 Tage fastet doch heutzutage jede zweite Hausfrau mit Hang zur Esoterik. Dass der Kerl 82 Jahre alt geworden ist, möchte ich als Zeichen deuten, dass Fasten tatsächlich gesund ist.

Gestern traf ich mich mit ein paar Bekannten, um endlich mal wieder soziale Kontakte zu pflegen. Ich werde das nie wieder tun. Die Gespräche drehten sich ausschließlich um mein Fasten und den angeblich damit verbundenen Irrsinn. Ich konfrontiere die Menschen in meinem Umfeld mit ihrer Urangst: zu verhungern. Allein der Gedanke, einen Tag lang nichts zu essen, löst Panik aus. Fasten ist nicht Askese, es ist kein Kasteien des Körpers und erst recht kein Hungern. Fasten ist einfach nur eine Möglichkeit, den Körper zu entgiften, ein bisschen klarer zu werden und offenbar auch sein Umfeld mit bisher unhinterfragten Glaubensmustern zu konfrontieren.

Jetzt, nach mehr als drei Wochen, scheint sich meine Theorie langsam zu bestätigen: Beim Fasten gibt man dem Urbedürfnis nach Nahrung nicht nach. Wenn dies gelingt, wird es in Zukunft auch leichter sein, Bedürfnissen wie Rauchen, Saufen oder sogar Fremdgehen nicht mehr nachzugeben. Wenn ich dem Unterbewusstsein das Nichtessen abverlange, wird es von anderen Bedürfnissen, gerade von nicht lebensnotwendigen, erst recht ablassen. Fasten ist somit auch eine Erziehungsmaßnahme für das Ego.

Vor dem Fasten hatte ich manchmal Angst, einen ganzen Tag mit mir allein zu sein. Ich habe dann immer etwas unternommen, um mich nicht mit mir auseinanderzusetzen. Jetzt freue ich mich auf jede Minute mit mir. Ich habe sogar Angst, nach dem Fasten wieder rückfällig zu werden: regelmäßig zu arbeiten, mich mit Menschen zu treffen, die mir nichts bedeuten, wieder maßlos zu sein, die innere Ruhe zu verlieren, Zeit mit Einkaufen, Kaffeetrinken und – Essen zu vertrödeln.

Das Fasten zeigt mir, wie einfach das Leben sein kann. Dieses Gefühl des Einfachen gibt mir Ruhe und Kraft. Bedürfnislosigkeit, kein Müssen, kein Wollen, kein Brauchen. Die totale Unabhängigkeit.

Ich bin seit Tagen bei 83 Kilogramm stehen geblieben. Komisch. Kann der Geist den Körper so weit beeinflussen? Ich wollte ja nicht mehr abnehmen.

Wir klagen immer, wir hätten keine Zeit. Aber wollen wir denn wirklich mehr Zeit haben? Was machen wir mit der gewonnenen Zeit? Wir müssten uns früher oder später mit uns selbst beschäftigen. Ich habe im Moment viel mehr Zeit, als mir lieb ist.

Wohin mit der Zeit? Ich gehe die verbleibenden Wochen im Kopf durch. Diese Woche noch durchhalten, dann findet die Party meines jüngeren Bruders statt. Das Highlight meines Darbens – die herausragende Belastungsprobe für mein Fastenprojekt. Kein Mensch fährt so üppig auf wie mein Bruder, besorgt so leckeres Zeug. Und keiner grillt so gut. Außerdem werde ich immer nur schwer damit fertig, wenn es etwas umsonst gibt und ich nichts davon abbekomme.

Es ist früher Nachmittag, und ich überlege ernsthaft, das Fasten abzubrechen. Seit ein paar Stunden fühle ich mich schwach und ausgelaugt. Auch ein besorgter Kollege meinte, ich würde schlecht aussehen. Nein, »kaputt« sagte er. Aber das sagen meine Kollegen schon seit Wochen.

Dann jammere ich ein bisschen Gabi voll. »Jetzt hast du dich – und mich! – schon so lange gequält. Dann wäre es doch schade, jetzt abzubrechen.« Sie hat wie immer recht. Wenn man anfinge, sich zu quälen, könne man sich auch bis zum Schluss quälen. Außerdem fange doch jetzt erst die interessante Phase an. Drei Wochen packe jeder, jetzt würde es ernst!

Aus purer Langeweile habe ich mir Lillys Wollmütze übergezogen, eine alte Sonnenbrille aufgesetzt und einen filzigen Karnevalsbart aufs Kinn geklebt, mich lumpenbekleidet in der Fußgängerzone niedergelassen und bitte nun um eine milde Gabe. Die original indische Klangschale füllt sich klimpernd, allerdings trotz meines ausgemergelten Äußeren nur sehr langsam. Ich sitze etwas abseits, damit mir möglichst kein Bekannter oder gar Kollege über den Weg läuft. Mein Standort hat den Nachteil, dass mir nur die Leute Geld geben, die wirklich etwas Gutes tun wollen, und nicht diejenigen, die andere mit ihrer Gabe beeindrucken möchten. Denn hier hinten sieht man mich fast nicht. Es gibt aber auch Passanten, denen es peinlich zu sein scheint, zu spenden.

Betteln ist eine hochinteressante neue Perspektive. Ich bin tatsächlich am Boden, »mache Platte« und schaue zu den anderen auf. Man begibt sich in die Haltung des Nehmenden und hat somit keinen Raum zu geben.

Die meisten Passanten gucken absichtlich weg, wollen weder angebettelt noch mit Elend konfrontiert werden.

Wenn ich Leute beobachte und mir ausmale, dass sie alle unglücklich und gehetzt aussehen, sind sie das auch. Wenn ich mir aber vorstelle, dass es in unserer Gesellschaft viele zufriedene, glückliche Menschen gibt, dann stimmt das ebenfalls. Wir sehen die Welt, wie wir sie sehen wollen. Jeder hat die Wahl: Entweder ich finde die Welt zum Kotzen oder ich bin davon überzeugt, dass wir im Paradies wohnen. Oder – in Kiel. Das liegt irgendwo dazwischen.

Alte Frauen geben, sonst kaum jemand. Es regnet leicht, und ich sehe zu meiner großen Verwunderung einen Punker mit Regenschirm. Das darf es nicht geben. So wie es keine schwarze Milch, dreibeinigen Menschen oder schwangeren Männer geben kann. Die Welt hat sich verändert …

Scheiße!! Scheiße. Scheiße. Ein Kollege kommt auf mich zu. Mustert mich mit zusammengekniffenen Augen. »Timm?« Ich glaube, im Boden zu versinken, und stammle etwas von einem soziologischen Test, habe das Gefühl, dass selbst mein Filzbart rot wird. »Ist alles okay mit dir? Du siehst so anders aus.« – »Ist der Bart.« Der Kollege, einer der hellsten Köpfe unseres Hauses, ahnt, dass da was im Busch ist. Er besitzt aber auch den Anstand, sich schnell und höflich zu verabschieden und mich in der Gosse zurückzulassen. Ich schnappe mir meine Klangschale, verschwinde um die Ecke, reiße mir den Bart vom Kinn und schäme mich.

Ich bin nicht besser als ein Günter Wallraff. Sie erinnern sich? Er ist seinerzeit als Schwarzer verkleidet in sächsische Fußballstadien gegangen, um Rassismus zu beweisen. Ich tauche ja auch nicht auf den Meeresboden, um zu beweisen, dass man da unten nicht atmen kann.

Um ein bisschen zu Kräften zu kommen, den Sinnen mal wieder etwas zu bieten und meine Laune zu bessern, habe ich mir von meinen erbettelten Kröten Molke gekauft. Fastenpapst Dr. Otto Buchinger schreibt, das würde gerade beim Langzeitfasten sehr guttun und außerdem »köstlich schmecken«.

Dann setze ich mich auf einen Mauervorsprung in der Fußgängerzone und öffne ganz langsam den Plastikbecher mit Molke. Es riecht – nach was eigentlich? Vergammeltem Joghurt? Wenn man 22 Tage nichts gegessen hat, miesen Tee geschlürft und alle Säfte dieser Welt satthat, versteht man, wie sehr ich mich auf die Molke gefreut hatte. Und dann das. Molke schmeckt beschissen! Schrecklich! Ekelhaft!

Ich schleppe mich zu Gabi. Fühle mich gerädert. Meine Stimmung ist auf dem Tiefpunkt. So sollte ich mich eigentlich nicht bei ihr blicken lassen. Aber sie erträgt mich. Meine Rettung ist ein Tässchen Gemüsebrühe, das sie mir schnell kocht. Mit Fettaugen! Natürlich habe ich gleich ein schlechtes Gewissen. Aber köstlich schmeckt das!

An Einschlafen vor ein Uhr ist wie immer nicht zu denken. Auch nicht bei Gabi. Also liege ich still da und lasse mir diesen seltsamen Tag noch einmal durch den Kopf gehen. Die Bettelei hat mir noch einmal verdeutlicht, auf welch hohem Niveau die sogenannte Upper Class in Deutschland (ich gehöre wohl auch dazu) lebt: Unser Lebensstandard umfasst mehrere Urlaubsreisen pro Jahr, zwei Autos pro Familie, mindestens 100 Quadratmeter Wohnraum, das tägliche Wegwerfen von Lebensmitteln, Internet überall rund um die Uhr, ein Konto oder eine Familie, die wir ständig anzapfen könnten, Energie im Überfluss und das Grundrecht auf gesundheitliche Versorgung. Wehe, einer von uns kommt da noch mal auf die Idee zu jammern.

40 Tage Fasten - von einem, der mal Ballast abwerfen wollte
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