Siebter Tag, 7. September

Einen Fasten-Weltrekord hält der Königspinguin. Er ist in der Lage, bis zu sechs Monate ohne Futter zu verbringen, und das in der Kälte der Antarktis. Was soll also so schwer daran sein, ein paar Tage in einer gut beheizten Fastenklinik weniger zu futtern, als man das im Alltag gewohnt ist?
TITUS AMU, Der Sauberberg, Süddeutsche Zeitung vom 05.02.20083

Siebter Tag, 7. September

88,0 KILOGRAMM

Beim Fasten trennt man sich auch von altem seelischen Ballast. Je länger man fastet, desto mehr Müll der vergangenen Jahre tritt zutage. Meine Nächte beweisen das. Ich träume unsäglichen Unfug, peinlichen Schrott, den ich selbst in meinem Tagebuch nicht aufschreiben könnte, so sehr schäme ich mich für diesen Plunder.

Eine Woche! Wie lang eine Woche sein kann. Ich habe viel zu viel Zeit.

Wie viel Zeit verbringt man mit Nahrungsaufnahme? Drei Stunden täglich? Vier, fünf, wenn man Großeinkäufe mit einrechnet?

Schnell gegoogelt: Die Deutschen verbringen 105 Minuten täglich mit Essen, Franzosen eine halbe Stunde länger, Amerikaner jedoch noch nicht mal 60 Minuten. Wieder mal ein zutreffendes Klischee.

Ich trinke keinen Tee mehr. Ich kann Tee absolut nicht mehr sehen. Teetrinken ist Zeitverschwendung, und Tee schmeckt scheußlich.

Heute Nacht hatte ich noch mal Anfälle von Schüttelfrost.

Nun könnte ich Fastenfeinden entgegenhalten, dass ich ein böses Virus, das einige Kollegen tagelang ruhiggestellt hat, innerhalb von 24 Stunden abgeschüttelt habe. Mit links weggefastet.

Wenn ich jetzt essen dürfte … Einen Pfirsich? Eine Pflaume? Kartoffelbrei – komisch, so etwas esse ich fast nie. Gar keine Lust auf ein fettes Steak oder Schweinezeug vom Grill? Nee! Eigentlich habe ich im Moment gar keine Lust auf Essen. Wasser, wirklich, Wasser würde mir genügen. Ich muss jetzt nichts essen, nach einer Woche bin ich so weit. Fühlt sich gut an.

Manchmal überkommt mich das Gefühl, dass da eine gewaltige Macht ist, die es gut mit mir meint. Sie beschirmt, begleitet und behütet mich. Komme, was wolle. Dann weiß ich, dass alles in Ordnung ist und nach Plan läuft. Als könnten wir selbst sowieso nichts machen.

Was habe ich meinem Körper schon alles angetan?! Alkohol, Nikotin, THC, Fett, Zucker, und all dies in rauen Mengen. Wie gesagt: Maßhalten gehört nicht zu meinen Stärken. Mein Körper hat das alles locker verkraftet, es weggesteckt und ist immer noch topfit. Ein paar Generationen früher und ich wäre mit 38 ein alter Mann gewesen.

Wie sollte der gemeine Ostwestfale in seiner Höhle auch an Vitamine kommen? Monatelang war da nichts zu holen. Apfelbaumplantagen dürften rar gesät gewesen sein.

Mit 28 habe ich aufgehört zu rauchen, mit 35 zu trinken. Jetzt werde ich aber nicht aufhören zu essen, sondern mich nach den 40 Tagen einfach nur sehr viel bewusster und gesünder ernähren. Keine Cola Light mehr, keine Süßigkeiten, keine Frankfurter mit Brötchen. Zumindest nehme ich mir das jetzt vor. Und wenn ich diesen Gedanken über die nächsten 32 Tage züchte, könnte es mit meinen Vorsätzen auch klappen.

Wie lange könnten wir leben, wenn wir uns wirklich gesund ernähren würden? Selbst für Menschen mit ganz wenig Geld gibt es immer noch mehr gute Nahrungsmittel als für den breiten Bevölkerungsdurchschnitt vor 100 Jahren. Wie viele Obstsorten gibt es in den Regalen? Dazu unendlich viel Gemüse! Sämtliche Vollkornprodukte des Globus. Aber nein: Ich vertilge seit Jahrzehnten täglich Fleisch, Konserven, Zucker, Kaffee und so weiter.

Aber mit der gesunden Ernährung ist das gar nicht so einfach, wie der ZEIT Wissen Ratgeber zum Thema verrät. Die gerissenen Hunde der Junkfood-Industrie haben jetzt das »Crunchometer« erfunden. Mit diesem Gerät tüfteln Lebensmitteldesigner Knuspergeräusch, Krümelgröße, Kaueigenschaften und den würzigen Nachgeschmack von Chips aus. Diese Leute bezeichnen sich stolz als Spezialisten der Sinnesmanipulation. Im Auftrag der Lebensmittelindustrie erforschen sie, wie sinnliche Reize auf Körper und Seele wirken. Daraus leiten sie die Eigenschaften ab, die ein Produkt haben sollte, um möglichst vielen Menschen zu schmecken. Zu diesem Zweck verkabeln sie Probanden, messen Hirnströmungen, Atemfrequenz und Hautwiderstand und beobachten Veränderungen der Gesichtsmuskulatur, des Speichelflusses und des Blutvolumens.

Die meisten Hundertjährigen gibt es in den wohlhabenderen Ländern der Karibik, des Mittelmeeres und in Japan. Meer, Sonne und gute Ernährung. Das reicht anscheinend.

Einem britischen Bioinformatiker reicht das aber immer noch nicht. Er möchte Menschen erschaffen, die tausend Jahre alt werden. Sein Ziel ist es nicht, das Rätsel des Lebens zu lösen, sondern dem Verfall des Menschen durch regelmäßige Wartungsarbeiten vorzubeugen. Alte, rotte Zellen sollen durch neue aus dem Labor ersetzt werden.

Draußen regnet es wie immer. Wie aus schwarzen Kübeln überschwemmen Unmengen an Wasser Norddeutschland.

Ein Tag mit halber Kraft. Gerüche manifestieren sich unterhalb meiner Stirn. Als hätte sich eine Bratwurst in meinen Nebenhöhlen verirrt. Pure Säfte schmecken so intensiv, als würde ich Konzentrat trinken.

Nach einer Woche ist Fasten nichts Besonderes mehr. Es macht mir auch nichts mehr aus, wenn Menschen neben mir essen. Ganz im Gegenteil: Die Leute scheinen sich eher durch mich unwohl oder gestört zu fühlen. Als hätten sie ein schlechtes Gewissen. Als würden sie Ratzinger ihre Lieblingsstellung erklären müssen.

Ich habe mich als Kind immer gefragt, warum meine Mutter uns Essensmanieren beigebracht hat. Jetzt weiß ich’s. Es hat etwas zu tun mit dem Respekt vor den Mitmenschen, vor der Nahrung und den vielen Händen, die sie hergestellt haben.

Manchmal denke ich, dass ich nie wieder zu essen brauche. Ich fühle mich so wohl ohne Nahrung. Klar. Unbestechlich. Wer keine Nahrung braucht, vermisst sonst auch nichts. Ich brauche höchstens ein Dach über dem Kopf und Kleidung. Alles andere ist Luxus!

Ich vertrage anscheinend keine Buttermilch. War gerade auf der Toilette, und es fühlte sich an, als hätte ich verklumpte Milch ausgeschieden. Etwas anderes kann eigentlich nicht mehr in meinen Därmen sein.

Morgen werde ich nicht zur Arbeit gehen. Ich mache mir endlich »meinen« freien Tag hier auf dem Hof. Mit Meditation, Büchern, Musik und – gutem Essen, hätte ich fast geschrieben.

40 Tage Fasten - von einem, der mal Ballast abwerfen wollte
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