Dreißigster Tag, 30. September

Der Concurrenzkampf tobt auf allen Gebieten menschlichen Lebens; die Frau ist in vielen Berufsclassen zur gefürchteten Rivalin des Mannes geworden und nun haben die weiblichen Emancipations-Gelüste sogar die brotloseste aller Künste – die Hungerkunst, streitig gemacht. Frau Auguste Victoria Schenk, eine ehemalige Tragödin, ist die kühne Dame, die es unternommen hat, zu beweisen, dass auch das schwache Geschlecht unter Umständen einen starken Magen hat.
Illustriertes Wiener Extrablatt vom 23.07.1905

Dreißigster Tag, 30. September

81,0 KILOGRAMM

War viermal pinkeln letzte Nacht. Bin vollkommen gerädert. Ich hätte beim Holzhacken nicht so viel Wasser trinken dürfen. Trinken hilft gegen Hunger. Leider nur kurzfristig. Obwohl – direkt Hunger habe ich seit Wochen nicht mehr. Höchstens Lust zu essen. Aber auch diese Lust wird durch Flüssigkeit gestillt. Deshalb saufe ich abends wie eine Kuh. Ich habe die Wahl: Hunger und durchschlafen oder satt sein und Stakkatoschlafen.

Gestern sagte mir zum ersten Mal seit über vier Wochen jemand, ich würde fit und gesund aussehen. Es war die Dame beim Arzt vor dem Ergometertest, die mir das Blut abgenommen hatte. Sie wusste nicht, wie ich früher ausgesehen habe, und war daher unvoreingenommen.

Dafür fühlt sich jetzt aber wieder ein Kollege dazu berufen, mir die Gefahren des Fastens zu erläutern. Sein Hemd spannt, das Doppelkinn schwappt über den Kragen. Sein Bauch wabbelt, wenn er spricht. »Das kann nicht gesund sein. Guck dich doch mal an!« Hätte ich einen kleinen Handspiegel in der Schublade, hielte ich ihm diesen wortlos vor die Visage, um dieselbe mit dem Spiegelchen zu zerschlagen. Ich sage ihm nicht, dass er nur von seiner Maßlosigkeit und fehlenden Disziplin ablenken will. Ich sage gar nichts. Ich starre nur. »Timm?« Er weiß offenbar nichts mit meinem Starren anzufangen. Mehrere Sekunden vergehen, in denen er versucht, aus mir schlau zu werden. Ich zucke mit keinem meiner 26 Gesichtsmüskelchen. »Das ist nicht gesund, was du da machst«, meint er und geht hinaus.

Ich stelle mir vor, wie er sich draußen ängstlich noch einmal umschaut, als erwartete er einen Messerwurf, meinen Geist oder sonst etwas dieser Art.

Die meisten haben aber begriffen, dass mit mir nicht mehr gut Kirschen essen ist. Sie lassen mich in Ruhe und haben stattdessen Gabi als Opfer ihrer Ermahnungen auserkoren. An ihr prallen diese allerdings fast noch stärker ab als an mir. Sie ist inzwischen in eine Art Duldungsstarre verfallen und hofft einfach nur, dass bald alles vorbei ist und wir wieder ein ganz normales Leben führen können. Und vor allem, dass mir so schnell kein neues Projekt einfällt.

Ich trinke weiterhin drei, manchmal vier Liter Wasser am Tag. Manchmal einfach nur, um wenigstens irgendetwas aufzunehmen. Vielleicht sollte ich das aber besser lassen: Nach Meinung des österreichisch-schlesischen Naturheilkundlers Johann Schroth (genau – der mit der Kur) haben neben dem Fasten auch Trockentage eine positive Wirkung auf den Körper. Er schwört auf vollkommenen Entzug jeglichen Nahrungsmittels oder Getränks. In der Fachwelt gehen die Meinungen darüber natürlich sehr auseinander.

Wenn sich der Nahrungsaufnahmestopp so positiv auf den Körper auswirkt, warum dann nicht auch der Flüssigkeitsentzug. Vielleicht, weil beim Austrocknen des Körpers auch Gifte frei werden. Schließlich bestehen wir zu 80 Prozent aus Wasser. Altes, fauliges Wasser wird ausgeschieden und später wieder durch frisches ersetzt. Auch hier weiß man nicht, wie lange der Körper das mitmacht. Wahrscheinlich auch in diesem Fall länger, als wir denken.

Vor Kurzem wurde über den Selbstmord eines Mannes berichtet, der sich auf einen Hochsitz zurückgezogen hatte und dort nach 23 Tagen ohne flüssige oder feste Nahrung gestorben war. Man weiß das so genau, weil auch er Tagebuch geführt hatte. Das würde ich übrigens gerne mal lesen. Parallelen?

Fasten heißt auf Französisch »jeûner«. »Jeune« heißt jung. Also verjüngen oder so ähnlich. »Déjeuner« heißt frühstücken, also entfasten wie im Englischen »Breakfast«, Fasten brechen. Auf Italienisch heißt Fasten »vigilia«, was auch so viel wie »die Wache« bedeutet. Wie immer steckt in der Sprache die ganze Wahrheit.

Ein halber Liter Sauerkrautsaft ex. Der Dünndarm muss auch mal wieder gespült werden. Fast hätte ich mich allerdings übergeben. Neben Schokolade, Fleisch und Kaffee werde ich auch nie wieder Sauerkraut zu mir nehmen können.

Könnte ich nach 30 Tagen nicht mal langsam stolz auf mich sein? Aber das wird mir wohl auch nach 40 Tagen nicht gelingen. Ich kenne das Gefühl, auf etwas stolz zu sein, nicht. Wenn ich etwas erreiche, ist das für mich nicht so, als wäre das mein Verdienst, sondern als würde ich das einer höheren Instanz verdanken. Ich selbst habe nichts geleistet. Genauso wenig, wie ich mein Herz zum Schlagen bringen kann. Wenn ich die 40 Tage durchhalte, kam die Energie dazu zwar aus mir, aber nicht von mir. Das ist auch keine Frage des Willens. Mit Willensstärke allein hält man die 40 Tage nicht durch. Ich habe es einfach umgesetzt. Mehr nicht.

Außerdem ist es bei mir so, dass ich nach dem Erreichen eines Ziels keinen Stolz empfinde, sondern vielmehr Trauer darüber, dass alles vorüber ist und es kein Ziel mehr gibt.

Draußen regnet es in Strömen. Ist das Wetter zurzeit so schlecht, oder achte ich besonders darauf, weil ich jetzt so viel Zeit habe. Sollte dies allerdings ein durchschnittlicher Septembertag sein, dann leben wir wirklich in einer Region mit beschissenem Wetter.

Aber eigentlich ist mir das egal. Wir leben nämlich auch in einer Gegend, in der man sich um nichts wirklich Sorgen machen muss. Wenn man dann noch dazu frisch mit Sesamöl eingerieben ist, kann einem das Wetter eigentlich egal sein.

Manche Leute werfen mir vor, dass ich zu dünn bin. Aber das stimmt nicht. Das liegt nur daran, dass ich früher dicker war und sie mich nur so kennen. Wenn ich in den vergangenen beiden Jahrzehnten nicht so üppig gelebt hätte, wäre da kein Unterschied zu früher sichtbar, außer was die Festigkeit der Haut und meine Faltenanzahl angeht.

Mit leerem Magen trifft man keine Bauchentscheidung. Meine Gemütslage ist nüchtern und kühl. Der Bauch ist so inaktiv.

Geht auch das Bauchgefühl flöten? Ja, und sogar noch mehr. Ich habe gar keine Gefühle mehr. Ein lahmgelegter Bauch produziert keine Gefühle. Deshalb will Gabi mich im Moment auch nicht sehen. Weil ich ihr wie eine bloße Hülle vorkomme – leer, unmenschlich und kalt.

Das lässt wiederum mich kalt.

Man stelle sich einen Motor vor, der mit Benzin, Super, Diesel, Öl, Holz, Kohle und Butter betrieben würde. Und wenn dieser Motor keinen Treibstoff mehr in den Tank bekommt, fängt er an, sich selbst aufzufressen. Verzehrt erst altes Öl, dann Schmierreste, geht dann an die Nockenwelle, nagt die Zylinder an und nimmt sich den Vergaser vor. Wenn er dann auf Hochtouren laufen soll, bringt er mehr Leistung als vorher. Sobald er wieder Sprit kriegt, baut er die angegriffenen Teile einfach neu auf. Ich glaube, so ungefähr funktioniert der menschliche Körper. Fasten ist so etwas wie ein Ölwechsel mit Vollreinigung.

Da hör ich sie schon, unsere Experten: 40 Tage Fasten – Ölwechsel mit Vollreinigung? Dem haben sie wohl ins Gehirn geschissen! Na ja, so etwas werden sie wohl nicht sagen. Eher schon: »Ohne ärztliche Aufsicht! Unverantwortlich!« Schimpft nur, ihr Scheinheiligen und Besserwisser. Denn das ist nach unseren Marktgesetzen die beste Werbung fürs Fasten. Schimpft!

Wer will eigentlich heutzutage noch eine Expertenmeinung hören? Die Fachleute sind so verrannt in ihre Theorien und versuchen nur, ihre Annahmen zu beweisen, sodass man bei ihnen nicht mit Unvoreingenommenheit rechnen kann. Zeigen Sie mir einen einzigen objektiven Experten. »Fasten ist gut!«, so der eine. Der nächste sagt: »Fasten ist schlecht!« Dabei wäre es so wichtig, zu differenzieren: Fasten kann gut sein, aber auch schlecht. Es kommt ganz drauf an.

Es gibt Experten, die dies tun. Sie werden aber von den Medien weitgehend ignoriert, da sie für Streitgespräche völlig untauglich sind. Nur wer polarisiert und möglichst lautstark seine Meinung vertritt, bekommt Sendezeit.

Ich empfinde es als unwürdig und lächerlich, wenn sich Menschen in Talkshows anbrüllen und nicht mal ausreden lassen.

Es haben immer beide recht. Oder keiner. Je nachdem.

Die Grauzone ist tabu. Wer will schon grau sein? Dann doch lieber polarisieren, dramatisieren. Und wenn das nicht weiterhilft: onanieren. Aber das traut sich nur Nina Hagen im Fernsehen. Unwürdig und lächerlich ist ihr Verhalten damit trotzdem.

Aus der nächsten Verwandtschaft wurde ich vorwurfsvoll gefragt: »Was suchst du eigentlich?« – »Nichts! Ich faste nur«, war meine Antwort. Ich verzichte auf Nahrung. Das ist alles. Aber Verzicht kennt man von mir nicht. So will man mich offenbar auch nicht sehen.

Der heimliche Vorwurf, der in dieser Frage mitschwingt, lautet: Es gehört sich nicht, zu suchen. Dabei suchen wir doch alle! Glück, Frieden, Harmonie, Liebe und so weiter. Die meisten tun das, indem sie die gesellschaftlich vorgeschriebenen Stationen durchlaufen: Ehepartner, Haus, zwei oder drei Kinder, Kombi (gerne A6) und dann noch einen Hund. Das ist Glück. Wenn aber jemand von diesem vorgestanzten Weg nicht sehr viel hält, sondern anders lebt, wird ihm vorgeworfen, er sei ein Sucher, unruhig, entwurzelt, im Grunde gefährlich – ein vom Wege Abgekommener.

Auch der gemeine Hausbesitzer ist so ein Sucher, nur weiß er es nicht.

Ich verzichte auf die Erleuchtung. Soll ich mir jetzt eine Stulle schmieren?

40 Tage Fasten - von einem, der mal Ballast abwerfen wollte
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