Erster Tag, 1. September

Das viele Essen und besonders das Fleischessen unterdrücken die Vernunft, machen untüchtig zu scharfem Nachsinnen und erzeugen träge Gemüter, die zu jeder Dummheit und Torheit fähig sind.
THEOPHRASTUS

Erster Tag, 1. September

92,5 KILOGRAMM

6 Uhr.

Fasten beginnt immer gleich: »Glaubern« am frühen Morgen: 40 Gramm Glaubersalz mit viel Wasser möglichst ex. Sich beim Baden im Meer zu verschlucken ist dagegen ein Genuss. Glaubersalz schmeckt wie die Essenz einer verdunsteten Monsterwelle. Der Mund möchte sich am liebsten umstülpen.

Zum Glück habe ich durch diverse Trinkspiele als Jugendlicher Erfahrung in Sachen Viel- und Schnelltrinken.

Außerdem habe ich eine neue Methode entwickelt. Ich trinke Glaubersalz als konzentrierte Lösung und kippe dann erst die vorgeschriebenen anderthalb Liter Flüssigkeit hinterher. Am liebsten in Form von Apfelschorle. Vermengen kann sich das Ganze dann im Magen. Das ist weitaus angenehmer, als es nach Vorschrift zu machen und anderthalb Liter Glaubersalzwasser zu trinken.

Etwa zwei Stunden später setzt schwallartiger Durchfall ein. Der erste Klogang ist am heftigsten. Von jetzt an ist alles nur noch qualvoll und ekelhaft und widerlich.

Man verbringt die folgenden Stunden unbedingt in Toilettennähe und erträgt stoisch Hunger und Mattigkeit. Prost Mahlzeit.

So elend habe ich mich nach dem Glaubern noch nie gefühlt! Ich gehe heute auf gar keinen Fall zur Arbeit. Als freier Mitarbeiter beim NDR-Fernsehen kann ich mir diesen Luxus leisten. Ich bekomme kein Grundgehalt, sondern verdiene nur Geld, wenn ich arbeite. Das heißt: einen Fernsehbeitrag produziere.

Normalerweise gehe ich um zehn zur Konferenz, schlage dort entweder ein Thema vor oder ergattere eines, das aktuell ansteht. Wenn weder das eine noch das andere der Fall ist, habe ich frei, kann recherchieren, flurfunken oder Kaffee trinken – verdiene dann aber auch nichts. Trotzdem darf ich natürlich nicht einfach tage- oder wochenlang wegbleiben, sonst sitzt irgendwann ein anderer auf meinem Stuhl. Da fällt mir ein, dass ich meinen Kollegen noch gar nichts von meinem Fastenvorhaben erzählt habe. Dabei hätte ich noch nicht einmal einen Ruf zu ruinieren …

Wir »Freien« haben alle Freiheiten. Hauptsache, die Beiträge haben öffentlich-rechtliches Niveau, sind seriös und aktuell. Zeitgemäß sollten sie auch sein, dürfen aber den Durchschnittszuschauer des Schleswig-Holstein-Magazins – ab Mitte 60 aufwärts – nicht überfordern.

Ein durchschnittlicher Arbeitstag sieht ungefähr so aus: Vor einem Dreh schreibe ich ein Konzept, recherchiere, telefoniere, ändere das Konzept, um dann wieder alles auf den Kopf zu stellen, und bespreche mich anschließend mit dem tagesaktuellen Vorgesetzten. Der stellt dann die Fragen, die die Zuschauer interessieren: Wer hat wann, was, wie, wo, warum gemacht. Wer ist der Hauptdarsteller, welche Herausforderung hat er, was ist die Veränderung innerhalb des Films, und ich erkläre noch ein paar dramaturgische Strukturen (wenn ich wirklich gut vorbereitet bin).

Steht das Konzept, rufe ich Menschen an, die in der Öffentlichkeit stehen oder gerne stünden, vereinbare Dreh- und Interviewtermine in den nächsten Stunden, klemme meine Mappe unter die rechte Achsel und bekomme im Idealfall möglichst schnell ein Kamerateam zugeteilt.

Im Kleinbus, dem NDR-Buli, geht’s »auf Dreh«. Irgendwo in Schleswig-Holstein. Und Schleswig-Holstein ist groß. Immerhin gibt es hier eine Ost- und eine Westküste. Wie in Amerika. Kiel – Husum. New York – San Francisco.

Im Buli und später vor Ort besprechen wir, welche Bilder wir brauchen, ich führe Interviews, recherchiere weiter und informiere die Redaktion kurz über den Zwischenstand. Meist drehen wir an zwei oder drei verschiedenen Orten.

Wenn der Kameramann, der Assistent (»Assi«) und ich glauben, alles »abgedreht« zu haben, fährt uns der »Assi« zurück ins Funkhaus nach Kiel. Der Kameramann und ich schlafen dabei häufig ein. Der »Assi« bisher noch nie.

Danach schneidet der Cutter aus einigen Stunden sogenannten Rohmaterials einen zwei- bis dreiminütigen Film zusammen. Im Schnitt entscheidet sich, ob der Film gut oder schlecht wird. Dabei gibt es Cutter, die aus Scheiße Gold machen und umgekehrt.

Während der Cutter in Absprache mit mir die Bilder in der entsprechenden Reihenfolge und Länge digital aneinanderfügt, Interviewschnipsel einsetzt und Geräusche und Musik unterlegt, schreibe ich einen Text zum Film, der möglichst viele Informationen enthält, die Bilder erläutert und (hoffentlich) den richtigen Ton trifft. Nach etwa zwei bis drei Stunden rufe ich erneut den zuständigen Vorgesetzten an. Der macht ein paar Verbesserungsvorschläge, die wir möglichst zügig einbauen. Ich setze mich in die Vertonungskabine, spreche meinen Text auf die Bilder und kurz danach läuft der Beitrag im NDR-Fernsehen.

Nach solchen Tagen, vor allem unter Zeitdruck, glüht mein Gesicht, als hätte ich den ganzen Tag in der prallen Sonne gelegen, und mein Herz pocht dumpf wie eine ausgeleierte Orchestertrommel. Ich bin todmüde und aufgedreht zugleich, fühle mich wie ein Soldat, der heil und ganz von einem Erkundungsritt zurückkehrt. Heldenhaft. Und im Hinterkopf die Frage: Für wen mache ich das hier eigentlich?

Während meiner ausgedehnten Glauberphase heute brauche ich absolute Ruhe. Zum Glück sind meine Mitbewohner für ein paar Tage verreist und haben mich allein gelassen auf unserem Bauernhof. Nichts wäre mir jetzt peinlicher, als bei der Entleerung meines Körpers Ohrenzeugen zu haben.

Wir leben zu dritt auf einem Resthof, etwa 15 Kilometer außerhalb Kiels, ein alter Schulfreund und seine Frau unten, ich im oberen Stockwerk. Die Küche ist unser Gemeinschaftsraum.

Dort sitze ich jetzt gerade. 30 Quadratmeter, Holzdecke, ein alter Ofen als einzige Heizmöglichkeit. Es ist immer kalt in der Küche, vielleicht sitzen wir deshalb so selten zusammen.

Mit dem Backsteinbau aus den Dreißigerjahren haben wir uns vor zwei Jahren einen Traum erfüllt. Der Hof ist einsam gelegen und ziemlich idyllisch. Wir leben auf 250 Quadratmetern Wohnfläche, 3000 Quadratmetern Grundstück und zahlen tausend Euro warm.

Der Hof befindet sich allerdings in einem schlechten Zustand. Im Winter schlafen wir mit Pudelmütze. Im Sommer riechen unsere Klamotten muffig nach Stall, und je nach Jahreszeit wachsen uns Schwielen an den Händen von der vielen Gartenarbeit.

Gemeinsam kümmern wir uns um unseren Hahn Otto und seine vier schnellen Brüter. Auf der Weide hinter dem Haupthaus grasen die Schafe unserer Vermieterin. Am meisten Arbeit macht der Gemüsegarten. Aber was wäre ein Hof ohne eigene landwirtschaftliche Produkte? Wir haben uns zwar unseren Traum vom Wohnen und Leben verwirklicht, müssen jedoch dafür ziemlich viel arbeiten.

Leider entwickelte sich unsere lange Freundschaft im Laufe der Zeit zur Zweckgemeinschaft. Zusammenleben ist eine Kunst, die noch erschwert wird, wenn sich eine Baustelle nach der nächsten auftut. Wir müssen Pläne entwerfen, Finanzierungen besprechen, Kompromisse eingehen, die geizige Vermieterin ertragen. Da bleibt fast keine Zeit mehr, einfach nur unseren Hof zu genießen.

Meine Mitbewohner zeigten sich sehr besorgt, als ich ihnen gestern von meinem Plan erzählte – 40 Tage Fasten! Und schließlich stellten sie natürlich auch die Frage aller Fragen: Warum machst du das? Ich traute mich nicht, ihnen darauf zu antworten. Dabei hätte ich sogar gleich mehrere Gründe nennen können:

1. Ich will mich in Disziplin üben. Wenn ich 40 Tage ohne Essen auskommen kann, dann werde ich in Zukunft auch auf vieles andere verzichten können. Die Gier nach Essen und Konsum im Allgemeinen darf gerne schrumpfen.

2. Ich will ein paar Pfunde verlieren und alten Müll loswerden. Schadet ganz bestimmt nicht.

3. Es ist auch ein Selbstbeweis. Ich kann etwas schaffen, was andere für vollkommen ausgeschlossen halten. Und:

4. Ich will Erleuchtung. Und zwar sofort. Offenbarung im Eiltempo. Erleuchtung im Sauseschritt. Was Buddha kann, packe ich auch!

Ob meine Mitbewohner das verstanden hätten? Ich glaube nicht. Sie meinten, 40 Tage Fasten wären Wahnsinn, schüttelten den Kopf und versuchten, mich zur Vernunft zu bringen. Mich stachelt so etwas eher dazu an, meinen eigenen Kopf durchzusetzen.

Unsere Toilette ist riesig, knapp 20 Quadratmeter, rot gestrichen, mit Lüster an der 3,50 Meter hohen Decke, Badewanne, extra Dusche und uralten Steinfliesen. Man fühlt sich wie in einem Schloss des Fin de Siècle. In diesem Ambiente muss einem einfach Erhabenes einfallen.

Während ich hier Glauberzeit absitze, wird mir klar, dass noch etwas eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt: Tatsächlich hatte ich schon immer einen Hang zum Extremen. Als Jugendlicher gehörte ich zur Kategorie der Unruhestifter. Mein Vater hat immer gesagt: »Wenn in Lippe eine Katze geschlachtet wird, musst du den Schwanz halten.« Als Student der Literaturwissenschaft hielt ich mich weniger in Bibliotheken und Hörsälen auf als in Kneipen und auf Partys. Ich habe zu wenig gelernt und zu viel gefeiert, bis schließlich mein Körper rebellierte. Ich war immer der letzte Gast, habe nicht einen Drink oder Joint in meinem Leben ausgelassen, und ich aß nicht, sondern fraß. Ich war rastlos, immer gehetzt und auf der Suche nach einem noch größeren, besseren, heftigeren Kick. Irgendwie landete ich so beim Journalismus. Aber das ist eine andere Geschichte.

Mit Anfang 30 dann schmiss ich alles hin, Job, Freundin, Zuhause, und bin um die halbe Welt gesegelt. Glücklicher wurde ich dadurch nicht. Später versuchte ich es auf spirituellem Wege, reiste monatelang durch Indien, um schließlich Vipassana zu entdecken: Eine zehntägige Schweigemeditation, bei der man von frühmorgens bis spätabends mit Ausnahme kurzer Pausen bewegungslos auf einem Kissen sitzen muss und seinen Körper spüren soll. Danach habe ich mich immerhin ein oder zwei Tage lang der Erleuchtung sehr nahe gefühlt und begann zu ahnen, dass dies ein Weg zu innerem Frieden und mehr Ruhe sein könnte. Aber der Zustand war nicht von Dauer. Nach ein paar Tagen klinkt sich regelmäßig die Sucht nach dem Extremen wieder ein. Die Hetzjagd bestimmt wieder den Alltag. Aus Eile wird Laufschritt. Aus Laufschritt Hast. Tage und Wochen vergehen, ohne dass ich ein einziges Mal bewusst zur Ruhe komme.

Jetzt sollen es 40 Tage Fasten richten. Eigentlich wieder ein Extrem. Danach aber macht vielleicht ein einfaches, normales Leben ohne Extreme glücklich und zufrieden. Im Idealfall lerne ich sogar Bescheidenheit.

Der zweite Klogang ist noch heftiger …

Was ist eigentlich Erleuchtung? Laut Buddha ist es das Ende allen Leidens. Wenn ich mich also nicht mehr über meine Eltern, Brüder und Freunde aufrege, alle Kollegen mit ihren Macken liebe, mir nichts mehr wünsche und ersehne, wenn ich Ruhe, Ausgeglichenheit und Mitgefühl empfinden kann, auch wenn mir ein Opa mit Hut die Vorfahrt nimmt – dann bin ich erleuchtet.

Bei meinen Eltern und Brüdern bin ich auf einem guten Weg. Das mit meinen Freunden und Kollegen klappt hervorragend, zumindest im Urlaub. Nur im Straßenverkehr geht mir die Gabe zum friedlichen Miteinander häufig ab.

Und wirklich erleuchtet fühle ich mich nur, wenn ich die Sportschau gucke und Gladbach gewinnt, ich ein Kohlwurstbrot esse und Gabi mir einen Kaffee Latte bringt.

Gabi ist meine Freundin. Sie arbeitet auch beim NDR und liebt mich seltsamerweise, obwohl ich zu Extremen neige. In letzter Zeit jedoch holt sie auffallend oft tief Luft. Sie wohnt mit ihrer Tochter Lilly in Kiel, sodass wir immer zwischen Land- und Stadtleben pendeln können. Bisher führen wir eine glückliche Beziehung. Aber bisher habe ich auch noch nicht 40 Tage lang gefastet.

Gabi und ich waren gestern in unserer Lieblingsbuchhandlung. Gabi grinste und nickte Richtung Eso-Ecke. Diese Abteilung wächst wöchentlich um zwei Regale. Oder mehr. Es ist das Riesenthema – neben Kochrezepten geht es jetzt um Lebensrezepte. Esoterik, Spirituelles, Ratgeber, Lebenshilfe, Selbstfindung, anders leben, anders denken, besser wünschen und so weiter. Alle wollen glücklich sein, das war ja schon immer so, nur jetzt wissen plötzlich ganz viele Leute, wie das geht. Auch ich bin ja auf der Suche nach dem Glück. Nur gehe ich es vielleicht ein bisschen anders an.

Während diese bunten Bücher noch vor ein paar Jahren in der hinterletzten Ecke versteckt wurden, begrüßen uns heute der Dalai Lama, amerikanische Power-Mental-Trainer und Lebensweisheiten-Verbreiter schon im Schaufenster, im Eingangsbereich und sogar in der Bestsellerliste. Wenn man früher mit einem spirituellen Buch erwischt worden ist, kam man sich vor, als wäre einem ein Porno aus der Tasche gefallen. Heute trägt die Kassiererin im Supermarkt Qigong-Ohrringe, Hanseaten laufen ins buddhistische Zentrum, und Aussteiger lassen sich das Gesicht des Dalai Lama auf den Unterarm tätowieren.

Spiritualität wird zur Mode, wird ausgeschlachtet wie einst Che Guevara. Jetzt ist Buddha dran, in Schaufenstern, Friseurläden, auf T-Shirts und Regenschirmen. Sogar als Marzipanfigur ist er konsumierbar.

Auch ich komme mittlerweile nicht mehr mit leeren Händen aus der Esoterikabteilung. Heimlich lese ich Osho, Eckhart Tolle und Jeru Kabbal. »Würden Sie es bitte als Geschenk verpacken? Is’ für ’ne Freundin.« Gabi schüttelt den Kopf. Ich stecke den frisch verpackten spirituellen Fastenratgeber in eine kleine blaue Plastiktüte und gucke Gabi mit hochgezogenen Brauen an: »Is’ was?«

Ich mache mit. Auf meine Art. Andere besuchen New-Age-Seminare, Meditationsgruppen oder üben sich im Mantrasingen – ich faste. 40 Tage lang. Vielleicht finde ich ja in einem dieser Bücher den Weg zum Glück. Eigentlich verspreche ich mir von jedem Buch, das ich kaufe, die Erleuchtung. Bisher wurde ich aber enttäuscht.

Suchen wir nicht alle dasselbe? Wünschen wir uns nicht alle die Befreiung von alten Mustern, Programmen und Strukturen? Oder eine Alternative zum westlichen Lebensstil? Ist die spirituelle Welle mehr als der Ausdruck von Unzufriedenheit und Übersättigung? Wir haben alles im Überfluss, können machen, was wir wollen, der Expansion sind scheinbar keine Grenzen gesetzt. Und trotzdem sind wir immer noch nicht glücklich. Wo ist das Glück also zu finden? Genau das will ich wissen. Deswegen will ich die Erfahrung des Mangels machen, mir Entbehrungen auferlegen. Vielleicht entsteht daraus die ersehnte Erleuchtung.

Der dritte Stuhlgang. Ich bin leer. Vollkommen leer.

Jeder gesunde und nicht schwangere Mensch darf fasten. Von Natur aus sind wir sogar für langes Fasten ausgestattet. Bis vor ein paar Tausend Jahren lebten die Menschen noch in Höhlen oder Zelten aus Fell. Spätestens mit Frühjahrsbeginn war der Wintervorrat verbraucht. Dann gab’s noch Rinden und Wurzeln. Und bis zur ersten genießbaren Brombeere würden noch ein paar Wochen vergehen. Also wurde gefastet. Allerdings nicht freiwillig, das ist ein Riesenunterschied. Ich weiß, dass es nach 40 Tagen vorbei ist und wenn ich wollte, könnte ich auch jederzeit früher aufhören. Aber damals mussten sie selbst nach 40 Tagen noch ausreichend Kraft haben, um einen Hirsch zu erlegen. Und dann hatte die Verdauung sofort anzuspringen.Heute verwendet man 30 Prozent seiner Fastenzeit für Aufbautage. Ich werde mir nach 40 Tagen einen schönen saftigen Hirschbraten gönnen. So wie meine lippischen Vorfahren.

Von wegen Leere in meinen Eingeweiden. Ich glaube, jetzt leeren sich die Räume zwischen den Zotten.

Das Ego ist das Hauptproblem. Man kann es auch Unterbewusstsein, Verstand, Mind, Schweinehund, inneres Kind oder sonst wie nennen. Jeder dieser Begriffe meint etwas ganz Bestimmtes und beschäftigt zu Recht jeweils darin ausgebildete Experten. Es ist der Teil in uns, der nie zufrieden ist, der immer mehr will und der sich über andere erhebt. Es geht ums eigene Selbst und um alles, was das Ich ausmacht. Die Amis schreiben »I« ja nicht umsonst groß.

Dem Ich geht es immer nur um sich selbst. Es ist der Anteil von uns, der zum Beispiel lästert, sich ständig mit dunklen Gedanken plagt, an sich selbst zweifelt, andere runtermacht, nicht mit Lob umgehen kann, an Kritik zerbricht, übertreibt, Angst hat. Es ist die berühmte Axt im Walde. Diese Axt trägt jeder von uns mit sich herum. Sie lauert im Gepäck und wartet nur auf ihren Einsatz. Diese Axt kann unvorstellbare Schäden in einem Wald anrichten, den das Ich vorher noch selbst aufgeforstet hat.

Mein Ego – so nenne ich diese Axt jetzt mal – ist schnell gelangweilt. Es braucht immer etwas zu tun. Wenn ich Hunger habe, freut es sich aufs Essen, wenn ich esse, freut es sich auf die Sportschau, wenn ich die Sportschau gucke, freut es sich auf Gabi, wenn ich mit Gabi zusammen bin, freut es sich auf den nächsten Morgen, weil da der Kaffee am besten schmeckt. Und nach drei Tassen Kaffee ist mein Ego schlecht drauf, weil es nicht mehr weiß, worauf es sich noch freuen soll. Jetzt freue ich mich auf den Gang zur Toilette.

Immerhin habe ich genügend Klopapier. In weiser Voraussicht habe ich mir gestern eine Zehnerportion dreilagiges Supersamt zugelegt. Alles Gute für Ihre Komfortzone.

Mittlerweile ist mein Darm leer, und ich würde gerne zurück ins Bett gehen, um vor den Fastenstrapazen in den Schlaf zu flüchten. Aber leider muss ich jetzt zum Belastungs-EKG.

Bei unserem Hausarzt am südlichen Stadtrand Kiels erwartet man mich schon. Bilde ich es mir nur ein oder werde ich tatsächlich beäugt? Verrückte Unterfangen haben eine hohe Funkfrequenz. Ich entblöße meinen Oberkörper, steige auf ein weißes Fahrrad, werde verkabelt und muss jetzt so lange strampeln, bis mein Puls über 140 steigt. Alle zwei Minuten wird das Treten um 50 Watt schwerer. Es ist, als fahre man bergauf, und der Berg wird immer steiler.

Nach 20 Minuten erstrample ich 300 Watt und befinde mich somit nach Auskunft des Arztes in ziemlich guter Form. Ich bin extra mit dem Auto die 15 Kilometer in die Stadt gefahren, um nur ja nicht frühzeitig schlappzumachen.

Auch meine Blutwerte sind in Ordnung, werden aber zur genaueren Diagnose ins Labor geschickt. Dass ich 40 Tage fasten will, hält der Doktor zwar für »bekloppt«, das solle mich aber nicht schrecken. Spannend sei es allemal. Er fragt, was ich mir denn beweisen wolle? »Nichts«, lüge ich und frage mich, ob ich den Kaumuskel rechts an meinem Kiefer kratzen darf. Ich wolle nur eines wissen: Was an diesen biblischen 40 Tagen dran sei. Er schüttelt den Kopf und meint, 40 Tage Fasten sei Hungern! Von Erleuchtung erwähne ich lieber nichts.

Ich werde alle 14 Tage EKG und Blutwerte überprüfen lassen. Außerdem pinkel ich täglich dreimal auf einen Lackmus-Streifen, um zu ermitteln, wie sauer ich bin. Wenn ich schon so einen Versuch durchführe, soll wenigstens etwas Messbares dabei herausspringen.

Nach dem Arztbesuch plagt mich zu Hause der Hunger. Beim Fasten fällt mir der Anfang immer schrecklich schwer. Ich beschließe spontan, doch zur Arbeit zu gehen. Wenn ich mich beschäftige, spüre ich wenigstens den Hunger nicht so sehr. Es ist 14 Uhr. Ich hole mein Rennrad aus dem Schuppen und genieße die Fahrt, die geschwungene Landschaft und die kurzen sonnigen Momente zwischen dicken Wolkenbatzen. Die 15 Kilometer haben allerdings meinen Hunger nicht gerade gestillt.

»Du stirbst! 40 Tage überlebt man nicht. Gerade bei den Aufbautagen sind schon mehrere Menschen qualvoll verendet. Der Darm verklebt, dann platzt er, und die Scheiße dann aus dem Bauchraum zu kramen ist ziemlich übel!« Ein durchaus fachkundiger Kommentar. Der leicht übergewichtige Kollege mit dem schmalzigen Haar hat Erfahrung mit Scheiße auf allen Gebieten. Er war mal so etwas wie der Polizeireporter der Redaktion und ist somit Spezialist für Blut, Tränen und sonstige Körpersekrete.

Die Kollegen sind für ihre Direktheit bekannt. Ihre Fürsorge ist mir allerdings neu. Ich radle also nach einem Kurzbesuch besser wieder nach Hause.

Vom Fahrrad aus entdecke ich plötzlich riesige Brombeeren. Ich lege elegant eine Vollbremsung hin, pflücke eine und – nein! Fast hätte ich es vergessen. Erst mal keine Nahrung.

Schneller Stopp bei Olaf, dem Fotografen. Mein Verfall soll schließlich dokumentiert werden, wenn Hüftspeck Hüftknochen weicht. Er lichtet zusammen mit seiner Frau die Veränderung meines Körpers in allen möglichen Posen ab, mal mit, mal ohne Klamotten.

Es ist mir peinlich, fotografiert zu werden. Noch dazu in einem Profistudio. Da sollten sich fotogenere Menschen tummeln. Außerdem hasse ich es, auf Kommando in eine Kamera zu lächeln, und tue es deshalb auch nicht.

Die beiden zeigen mir nach gut 30 Minuten Knipsen das digitale Ergebnis. Ich bin nicht mein Körper, so heißt es im Buddhismus – nur wissen das leider nicht alle.

Wir werden jetzt alle drei Tage solche Aufnahmen machen. Ich muss mich also daran gewöhnen.

Ich erlebe aufdringlich, dass Nahrungsaufnahme fast eine Sucht ist, ein Vertilgen, reiner Automatismus. Essen dient der Befriedigung einer Gier und ist selten Lust oder Genuss. Es verkommt zum unbewussten In-sich-Reinstopfen. Ich esse beim Lesen, beim Autofahren, Fernsehen und auch beim Musikhören. Nach einem einzigen Tag Fasten schwöre ich mir, in Zukunft nur noch bewusst zu essen und jeden einzelnen Bissen zu genießen. Und auch nie wieder so viel zu essen, dass mir danach schlecht ist. Allerdings sind 40 Tage Fasten auch irgendwie maßlos.

Meine Füße sind eiskalt, und ich habe alle meine Wollsocken bei Gabi. Verdammt!

Hunger verspüre ich heute merkwürdigerweise nur selten. Dafür habe ich großen Appetit. Allein beim Schreiben über die Möglichkeit der Nahrungsaufnahme läuft mir die Spucke im Munde zusammen. Bloß nicht daran denken. Ich blättere lieber in den Fastenbüchern, die ich mir bestellt habe. Fasten ist so alt wie die Menschheit … Mussten Paradiesianer auch fasten?

Fasten hat etwas Heiliges, steht in meinen Büchern. Im Vergleich zu den Sadhus in Indien betreibe ich hier eher Kuschelfasten. Die trinken tatsächlich nur Wasser, 40 Tage lang. Dagegen ist mein Fasten mit Säften, Buttermilch und allem häuslichen Luxus das reinste Vergnügen. Gandhi, der berühmteste Inder und Fastende, wollte durch Fasten die Einheit Indiens erreichen. Vergeblich, wie wir heute wissen. Und was will ich erreichen? Erleuchtung – mehr nicht.

Fasten hat auch etwas Gemütliches. Ich würde sonst nie um diese Uhrzeit – halb acht abends – bei Kerzenschein zu Hause auf dem Teppich liegen und Tagebuch führen. Die Gedankenspiralen hören auf, wenn ich mich aufs Schreiben konzentriere. Ich schreibe mir alten Ballast von der Seele.

Jetzt will ich schlafen. Nur noch 39 Tage – morgen.

40 Tage Fasten - von einem, der mal Ballast abwerfen wollte
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