Neunter Tag, 9. September

Jeder kann zaubern,
jeder kann seine Ziele erreichen,
wenn er denken kann,
wenn er warten kann,
wenn er fasten kann.
HERMANN HESSE, Siddharta

Neunter Tag, 9. September

87,8 KILOGRAMM

Hätte ich vor hundert Jahren gelebt, wäre ich Teil einer Freakshow gewesen. Neben Zwergen, Albinos, Allesfressern, Kunstfurzern, Schauschluckern, Bartfrauen und Elefantenmenschen waren Hungerkünstler die Sensation. Sie waren ganz normale Schausteller und wurden vom Eintrittsgeld der Besucher bezahlt. Da die überregionale Presse häufig über »Hungernde« berichtete, wurden einige von ihnen richtige Berühmtheiten.

Die meisten gaben sogar an, übernatürliche Kräfte zu besitzen und so den Hunger überwinden zu können. Bis ins 20. Jahrhundert ahnte ja niemand, dass Fastende nach einigen Tagen keinen Hunger mehr verspüren und der Körper Hormone ausschüttet, die einen leichten Rauschzustand erzeugen können. Moderne Fastenexperten sprechen sogar von einer Hungereuphorie.

Hungervirtuosen wie der Amerikaner Henry Tanner wurden weltweit verehrt. Während ihrer Experimente nahmen sie Geld für den Eintritt und verdienten damit Hunderttausende, erhielten Briefe, Geschenke und Heiratsanträge sowie das Angebot, bei Misslingen ausgestopft und ausgestellt zu werden. Sie wurden in Liedern besungen und auf Händen getragen.

Tanner beging, in völliger Armut lebend, mit 58 Jahren Selbstmord.

Nachdem gestern Abend meine Augäpfel erneut zu schmerzen anfingen, hatte ich heute Nacht kurz Schüttelfrost. Aber jetzt, so früh am Morgen, fühle ich mich wieder gesund. Seit zwei Stunden liege ich im Bett und genieße die Ruhe. Liege einfach nur da, bei geöffnetem Fenster und versuche, nicht zu denken. Zwischendurch lese ich wahllos in meinen Büchern herum.

Hungerkünstler waren nebenbei auch Kettenraucher – gegen den Hunger. Ein gewisser Fred Ellern rauchte während seines Käfigaufenthalts täglich 80 Zigaretten, musste dies aber am Ende der 46 Tage aus gesundheitlichen Gründen radikal einschränken.

In Berlin traten zwei Freunde gemeinsam auf: Harry und Fastello. Sie qualmten 10000 Zigaretten während ihrer achtwöchigen Fastentour, berichtet der Historiker Peter Payer in seiner Studie Hungerkünstler.

Habe gerade ein winziges »Schlöckchen« Apfelsaft pur getrunken. Plötzlich eine Stimme: Du darfst nicht, du darfst nicht. Ein kleines graues Männlein flötet seine perfide Melodie durch mein Stammhirn. Ich summe das Liedchen seit Stunden. Es ist die Melodie aus Monty Pythons Leben des Brian: Jehova, Jehova. Du darfst nicht, du darfst nicht. Drei Noten für den Wahnsinn. Ein One-Hirn-Wonder.

Ich nehme mir den Stapel Bücher, den ich über das Internet bestellt habe, jetzt systematisch vor. Gleich mehrere Bücher über dieses unglaubliche Phänomen der Lichtnahrung. Eine Australierin namens Jasmuheen ist auf großer Mission und will Lichtnahrung in der Welt verbreiten. Sie hat vor Jahren damit begonnen, »pranische« Energie zu atmen, also Lebensenergie, Lichtnahrung. Jasmuheen träumt davon, so das Welthungerproblem zu lösen. Ich frage mich, ob sie schon Lichtnahrungsseminare in den Slums von Adis Abeba oder den Armenvierteln Kalkuttas anbietet.

Wer in armen Ländern versucht, spirituelle Weisheiten zu verbreiten, wird verspottet oder gar bespuckt. Nur wir können uns den Luxus erlauben, über das Leben nachzudenken. Wer sich morgens fragt, ob er bis zum Abend etwas zu essen bekommt oder nicht, hat weder Sinn für philosophische Fragen noch Interesse zu testen, ob Lichtnahrung wirklich funktioniert.

Ein Lichtesser wird vom bloßen Atmen satt! Das muss ich ausprobieren. Im nächsten Leben.

Nach drei Büchern über Lichtnahrung versuche ich, ebenfalls Licht zu atmen. Es ist auf jeden Fall eine schöne Vorstellung. Aber es gelingt mir nie lange. Mein Ego, von Spirituellen auch Monkey-Mind genannt, ist zurzeit extrem aktiv. Es hüpft unablässig durch das Gestrüpp meiner Erinnerungen. Nun bin ich aber auch erst bei Tag neun und trinke täglich drei Liter Wasser. Der Weg zur Lichtnahrung ist staubig und trocken.

Es ist halb vier am Nachmittag. Was soll ich mit mir anfangen? Soziale Kontakte meide ich. Gelesen habe ich heute bereits mehrere Bücher. Fernsehen tue ich seit Jahren nicht mehr. Auf Musik habe ich keine Lust. Gabi hat Nachrichten – das bedeutet, sie ist von Montag bis Sonntag im Sender und kann mit diesem komischen Typen an ihrer Seite nichts anfangen.

Ich strotze vor Energie und weiß absolut nicht, wohin mit mir.

Nach zwei Stunden Rumlungern werde ich ganz zappelig. Ich muss raus, brauche Säfte, suche eine Erklärung für meine Unruhe. Fahre zu Aldi. Nach neun Tagen sind meine Sinne geschärft. Der Alltag wird immer merkwürdiger.

Nichts steht in den Aldi-Regalen, damit es uns gut geht oder weil es einer gut mit uns meint. Der einzige Zweck ist maximaler Profit. Die Waren sind scheinbar mängelfrei: unter »Schutzatmosphäre« verpackt inklusive Konservierungsmitteln. Dazu gibt es hübsche Bildchen und klein gedruckte Inhaltsangaben mit Sternchen. Das Fleisch sieht immer rosig aus. Man ahnt nicht im Geringsten, wie sehr die Tiere gelitten haben, wie viele Antibiotika in den Zellen stecken und, vor allem, wie ungesund das Ganze ist.

Dahinter stecken perverse Schweinemäster, ein unfassbarer Logistikaufwand an Herstellung, Lagerung, Vertrieb und so weiter. Es ist völlig egal, ob die Ware umweltfreundlich transportiert wird, Tiere leiden müssen oder Menschen davon auf Dauer todkrank werden. Es geht nur darum, dass möglichst viele Leute kaufen, kaufen, kaufen, kaufen, kaufen. Und das möglichst billig, damit sie denken, dass ihr Discounter ihnen etwas Gutes tut. Und weil sie so viel Geld gespart haben, gönnen sie sich noch drei Tafeln weiße Schokolade. Mir wird schlecht!

Wieder zu Hause führe ich ab. Erst Sauerkrautsaft, dann Duschschlauch. Es ist wirklich unglaublich, dass mein Darm immer noch nicht leer ist.

Mich überkommt Wut auf unsere Konsumgesellschaft, und ich surfe im Web: 30 Prozent unserer Nahrungsmittel landen im Müll, in den USA sind es sogar 40 Prozent. Ein Siebtel der Menschheit ist unterernährt. Zwei Milliarden haben keine ausreichende medizinische Versorgung. Eine Milliarde hat4 keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Mehr als 200 Millionen Kinder sind Soldaten, Prostituierte, Wanderarbeiter oder Teppichknüpfer. Diese Fakten hat der Wissenschaftler Harald Welzer zusammengetragen. Er spricht von der »Ikearisierung« der Welt. Also der Verwandlung langlebiger Konsumgüter in kurzlebige. »Genau so aber soll es sein in einer Wachstumswirtschaft: Sie funktioniert nur, wenn sie über die Befriedigung der vitalen Bedürfnisse hinaus pausenlos neue Bedürfnisse erfindet und Verbraucher in dumpfe Befriediger von Wünschen verwandelt, von denen sie kurz zuvor noch gar nicht wussten, dass sie sie hatten.« Siehe iProdukte, dicke Geländelimousinen oder 3D-Kino.

Morgen habe ich zehn Tage gefastet. Damit ist zwar ein Ende noch lange nicht in Sicht. Aber das stört mich nicht im Geringsten. Es fehlt mir an nichts. Ich weiß, dass ich wehmütig sein werde, wenn das Fasten beendet ist. Wie immer, wenn ich mich durch etwas hindurchgequält habe. Auf Qual folgt Bewusstwerden.

Gestern sprach ich mit einer Freundin übers Fasten. Sie meinte, körperliche Entbehrungen nicht ertragen zu können. Seelische Schmerzen würden ihr nichts ausmachen, aber alles, was ihr physische Pein bereite, sei für sie der reinste Horror. Schon allein von Folter oder Ähnlichem zu hören ließe sie sich übergeben. Das ist bei mir anders. Mein Körper kann leiden. Qualvoll wird es für mich erst, wenn die Seele leidet: Liebeskummer, Streit mit engen Freunden oder Verwandten, beim Lügen erwischt zu werden. Das ist für mich schlimmer als ein Beinbruch. Und ich weiß, wovon ich rede, denn ich hatte schon 13 Gipse und habe mehr als 8123987234-mal gelogen.

Heute liegt ein durchweichter Brief in unserem löchrigen Holzbriefkasten. Ein langes Schreiben von meiner alten Freundin Elisabeth. Mit ihren 78 Jahren ist sie tatsächlich eine »alte« Freundin. Ich lernte sie vor Jahren auf einem sogenannten Clarity-Seminar für angewandte Psychologie kennen.

Damals befand ich mich in einer allgemeinen Krise: Ich hatte Liebeskummer, keinen richtigen Job und kein Ziel vor Augen. Die Mutter einer Freundin gab mir den Tipp zu diesem Seminar, es könne mir aus der Krise helfen. Tatsächlich tat es das auch. Ich erkannte, dass mein Liebeskummer und all das andere Leid nichts mit dem Hier und Jetzt zu tun hatten. Auch wenn das platt klingt – die Erkenntnis schlug damals wie ein Blitz bei mir ein. Alles, was sich nicht im Hier und Jetzt ereignet, ist Illusion, reine Vorstellung, tot. Diese Vorspiegelungen, Fantasien, Einbildungen existieren nur in meinem Kopf. Hier werden sie am Leben gehalten und führen zu Leid. Für kurze Zeit war mir dieses verrückte System bewusst, und ich erlebte einen Moment vollkommener Klarheit. Wie alles andere verging aber auch dieser wieder.

Jene alte Freundin also von mir, die ich auf dem Clarity-Seminar kennengelernt hatte, schwört, dass wir uns aus einem früheren Leben kennen. Auch wenn ich an frühere Leben nicht so recht glauben will – ich habe in diesem Leben schon genug Stress –, spüre ich eine starke Verbindung zu ihr. Für viele ist es natürlich merkwürdig, dass ich eine gute Freundin habe, die 40 Jahre älter ist als ich.

Sie fastet im Geiste mit und schickt mir per Brief und Gedanken Kraft und Durchhaltevermögen. Beim Lesen ihrer Zeilen kommt plötzlich ein merkwürdiges Gefühl bei mir auf: Meine Hände sind nicht mehr meine Hände. Als würde etwas Fremdes den Brief halten. Dann weiß ich auch nicht mehr, wer da eigentlich liest. Wer guckt? Wer hält? Wer ist? Jetzt beim Schreiben komme ich langsam hinter den Sinn der uralten philosophischen Frage: Wer bin ich? Wer steckt also hinter dem, der erlebt, erfährt, macht und tut? Wer erfährt das Leben? Das ist doch derselbe, der es schon mit zehn oder 20 erfahren hat. Der Erfahrende verändert sich nicht. Er ist immer der, der das Leben erfährt. Ohne Wertung, ohne Beurteilung. Alles andere ist Kopfkino, wie schon gesagt.

Immerhin nähere ich mich dem, was mich bewegt. Von der Antwort auf das »Wer bin ich« bin ich allerdings noch Meilen entfernt. Ich bin. Ohne Antwort, mehr ist gerade nicht drin. Aber ich habe ja noch 31 Tage!

Seit zwei Tagen leide ich an einer Art Harnstottern, pinkle wie ein alter Mann in Strahlschüben. Allerdings nur beim Urinieren im Sitzen. Im Stehen läuft’s zum Glück noch wie aus einem Gartenschlauch. Aber was ist beim Sitzpinkeln los? Wächst die Prostata beim Fasten und drückt auf die Harnröhre? Oder übten sonst die überfüllten Eingeweide Druck auf die Blase aus, sodass diese besser abfließen konnte?

In meinen Fastenbüchern findet sich nichts darüber. Im Internet auch nicht. Aber wieso fasten eigentlich fast immer nur Menschen, die an Saturnenergie, Fernheilung oder Schuld, Sühne und Sünde glauben?

Heute fühle ich mich sauber, rein. Noch nicht einmal schmutzige Gedanken habe ich.

40 Tage Fasten - von einem, der mal Ballast abwerfen wollte
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