Neunzehn Tag, 19. September

Fasten ist Humbug. Hokuspokus. Zu sich selbst kommen kann man auch anders, indem man sich einfach mal ein Buch nimmt und in den Wald setzt. Das ist eine sehr viel gesündere Methode.
SVEN-DAVID MÜLLER, Vorsitzender des Deutschen Kompetenzzentrums Gesundheitsförderung und Diätetik

Neunzehn Tag, 19. September

83,2 KILOGRAMM

»Du siehst kaputt aus«, sagte gerade eine Kollegin zu mir. Kein Wunder! Ich musste ja auch schon um fünf Uhr auf Dreh, um einen Sonnenaufgang festzuhalten, der dann doch höchst durchschnittlich war. Aber einer unserer Vorgesetzten hatte in den vergangenen Tagen immer so schöne Aufgänge beobachtet und hätte so einen gern in der Sendung gehabt. Und was war? Grau in Grau. Das hatten sich alle ganz anders vorgestellt. Höchste Zeit, dass die Sonne nach des Menschen Pfeife tanzt. Wenn wir könnten, würden wir das Wetter den Anforderungen des Fernsehens anpassen.

Und wieder eine andere Kollegin: »Es gibt doch auch Menschen, die nicht fasten und trotzdem gesund sind. Wir laufen doch nicht alle mit Schlackestoffen rum!« Was soll man dazu sagen …

Da ich einfach keinen Tee mehr sehen kann, habe ich zum letzten Mittel gegriffen und alle Teesorten in der Küche zusammengeschüttet. Jetzt trinke ich eine Mischung aus Salbei-, Minze-, Blasen-, Roibusch-, Vanille-, Sanddorn- und Hagebuttentee. Ja, diese Mischung schmeckt siebenmal schlechter als eine Sorte alleine.

Ich habe gebadet und mich komplett mit Sesamöl eingerieben. Dies empfehlen die großen Fastenpublizisten. Und tatsächlich: Ich fühle mich unglaublich gut. Nun liege ich im Bett und erfreue mich am Gedanken, wie gut es uns doch geht. Dass wir einfach einen Hahn aufdrehen können und heißes Wasser heraussprudelt, dass wir unser nasses Handtuch über eine Heizung hängen können, wo es im Handumdrehen trocken und warm wird, dass es das alles gibt: Wasserklosett, Hauspuschen, Heizkissen, elektrisches Licht. Diesen ganzen Luxus hatten früher selbst die größten und mächtigsten Herrscher nicht annähernd. Und bei uns sitzt ein Obdachloser vor der Haustür und guckt gerade heimlich auf sein Handy. Wir leben in einer sehr, sehr guten Zeit.

Einmal die Woche treffe ich mich mit »Cosambo«, einer Handvoll Geräuschemacher, die rhythmisch auf verschiedene Gegenstände schlagen und dabei eine erstaunliche Ton- und Klangenergie erzeugen – und das ganz ohne Eso-Getue und Spiri-Geklöppel. Dass diese Virtuosen der Rhythmen mich unterdurchschnittlichen Teppichklopfer bei sich dulden, liegt nur daran, dass alle guten Conga-Spieler in Kiel schon in anderen Bands spielen.

Congas bestehen aus einem Ensemble aus zwei oder drei verschieden klingenden Trommeln, die jeweils ungefähr einen Meter hoch sind. Man schlägt sie vorwiegend mit den Händen. Auch große Musiker wie Cat Stevens (jetzt: Yusuf Islam) oder Santana nutzen sie als Hintergrundinstrumente. Seit drei Jahren spiele ich Conga und kann es immer noch nicht fassen, dass ich damit schon öffentlich aufgetreten bin. Wobei ich bei »Cosambo« so was wie die sechste Geige bin.

Bei einem der Treffen mit dieser Gruppe erreicht mich die nächste Horrorbotschaft: Ich werde meine Haare verlieren. Wenn ich nicht bestimmte Nahrungsergänzungsmittel einnehme, ist die Glatze vorprogrammiert – und zwar für immer! Unsere Paukenschlägerin hat nämlich auch schon mal gefastet. Mir fällt auf, dass sie selbst eher wenig Haare hat. Als ich sie frage, ob sie früher sehr viel gefastet habe, ist sie beleidigt.

Wie soll ich mit den Warnungen der Leute umgehen? Haarausfall, Darmplatzen, Magersucht? Ich glaube nur noch, was ich am eigenen Leib erfahren habe. Ich erzähle nichts weiter, was nicht unbedingt gesagt werden muss oder meiner ureigenen Wahrheit entspricht und was andere im Grunde gar nicht betrifft.

Schweigen ist angesagt. Ich habe seit dem Trommelabend gestern mit keinem Menschen mehr geredet. Und es ist herrlich. Ich werde immer menschenscheuer. Nicht weil ich mich vor ihnen verstecke oder ihr Gerede nicht mehr hören kann. Wohl eher, um Energie zu sparen. Außerdem will ich mir nicht ständig sagen lassen, wie beschissen ich aussehe.

Die Frau meines Fotografen Olaf sagt, ich würde im Profil Gregory Peck ähneln. Ich rase mit dem Rennrad nach Hause, um sofort zu googeln. Das wäre ja was. Aber Peck und ich haben so viel Ähnlichkeit miteinander wie manche Herrchen mit ihren Hunden.

Ich mache weiterhin täglich Einläufe, scheide aus, scheide aus und scheide aus. Ist man wirklich dann ausgefastet, wenn der Darm komplett sauber ist und die Zunge rosa? Bei Erwachsenen geht das gar nicht, denke ich.

Nichts essen kommt mir heute vor wie eine Strafe. Eine Strafe für alle meine alten Sünden: Fressorgien, Rausch- und Rauchexzesse, Maßlosigkeiten aller Art, Prassereien.

Aber kann ich all das in 40 Tagen Fasten wieder loswerden? Zurzeit fühlt es sich so an. Vielleicht werden die alten Sünden auch durchs Fasten ausgeschieden. Kann ich Körper und Geist so reinigen, als wäre nichts gewesen?

Das Unterbewusstsein hält sich eine Hintertür offen. Ich könnte wieder maßlos werden und danach einfach erneut alles wieder wegfasten. Beim Fasten wird man doch alles los. Der Verstand ist findig, und die Gedanken sind frei und wandern dorthin, wo es ihnen passt. Und doch schrumpft das Ego langsam. Ich bin milde gestimmt und nicht mehr so wütend wie in den vergangenen Tagen.

Mein Unterbewusstsein fördert Neues zutage. Es hat eine ausgesprochen überhebliche Einstellung Toten gegenüber. Ganz merkwürdig. Tote sind wertlos, weg, nicht mehr von dieser Welt. Sie zählen nicht mehr. Nicht hier. Nicht jetzt. Mag beispielsweise Goethe auch der größte Dichter aller Zeiten gewesen sein, so ist er doch tot. Was hat er also von seiner Dichtkunst? Nichts! Ich jedoch lebe! Und das ohne Nahrung. Da werde ich demütig und glücklich und platt und schwülstig. Wen stört’s. Mich nicht.

Vom Verstand her weiß ich natürlich, dass Goethe in seinen Schriften weiterlebt. Und dass auch ich einmal sterben werde. Deshalb sucht mein Ego Trost in fernen Religionen. Weise Männer behaupten, ich wäre nicht mein Körper. Diese Idee ist so tröstlich: Ich bin am Leben, ich bin Leben. Und Leben ist immer. Ich bin Sein. Und Sein ist überall. Der nächste Schritt wäre: Ich bin Gott. Manchmal meine ich einen Hauch dieser Göttlichkeit zu spüren. Aber diese Göttlichkeit bin nicht ich. Die ist höchstens in mir. In allem.

Nicht sterben zu wollen ist purer Egoismus. Ohne den Tod würde die Erde aus allen Nähten platzen. Nur weil die Generationen vor uns abgetreten sind, ist Raum für uns.

Hunde, wollt ihr ewig leben? Nee, es ist gut, irgendwann zu gehen.

40 Tage Fasten - von einem, der mal Ballast abwerfen wollte
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