Dreiundzwanzigster Tag, 23. September

Fasten ist ein Ausdruck des Grams angesichts von Unheil und Gefahr oder der Zerknirschung über vergangene Sünden, die Gottes Missfallen erregt haben.
P. WALTER TRAUTENBERGER, Missionarspriester der Diözese Linz in Brasilien

Dreiundzwanzigster Tag, 23. September

81,6 KILOGRAMM

Es muss an der Zahl »23« liegen, dass es mir heute so gut geht. Es ist die Zahl der sogenannten »Illuminaten«, der »Erleuchteten«. Dabei handelt es sich um die Mitglieder eines uralten Geheimbundes, der sich dagegen wendet, dass Menschen andere Menschen beherrschen. Wenn jeder erleuchtet wäre, gäbe es für jeden die vollkommene Freiheit. Vielleicht ist es aber auch eine Sekte, die die Menschen unmündig macht, indem sie ihnen suggeriert, sie seien erleuchtet. Ich habe zwar keine Ahnung, was es bedeutet, erleuchtet zu sein. Dafür aber eine umso klarere Vorstellung davon, was es heißt, nicht erleuchtet zu sein. Und trotzdem hatte ich mir insgeheim für heute schon ein wenig Erleuchtung vorgenommen.

Ich berste heute vor Energie, bin zum ersten Mal seit Ewigkeiten ausgeschlafen. Nach einem heißen Bad, Einölen und Meditation bin ich wieder zur Konferenz geradelt, drücke mich erfolgreich um Themen und mache mich unsichtbar hinter Kollegenköpfen, leihe mir vier klassische CDs im NDR Schall-Archiv aus und rase blitzschnell zurück auf den Bauernhof. Welch ein Unterschied zu gestern. Alles nur wegen Gabis Gemüsebrühe?

Auf dem Heimweg mach ich kurz Halt bei Rewe. Mein Gott. Es verblüfft mich immer wieder: Wir leben im Paradies. Es gibt alles. Wirklich alles! Immer und in allen Variationen. Und alles ist auch noch erschwinglich. Ein richtig gutes Brot kostet zwei Euro noch was. Da muss selbst jemand, der schlecht verdient, gerade mal 20 Minuten dafür arbeiten. Ein Ei 20 Cent, ein Liter Vollmilch 69 Cent. Ein Glas Honig keine drei Euro. Und wir jammern immer noch. So gut ging es uns doch noch nie! Fast jeder, der in diesem Rewe einkauft, könnte 100 Liter Milch und 30 Gläser Honig kaufen und daraus einen kleinen Bach aus paradiesischen Köstlichkeiten plätschern lassen. In welch reichem Land leben wir! Keiner von uns musste jemals hungern. Und selbst wenn! Man kann 23 Tage nichts essen, und es geht einem trotzdem blendend.

Ich verspüre plötzlich eine solche Dankbarkeit, dass ich minutenlang dümmlich grinsend im Rewe stehe und mich freue. Wenn wir Menschen nicht so maßlos wären, könnten diese guten Zeiten ewig andauern.

Ich wiege heute Abend 85 Kilogramm. Zwei Kilo mehr als gestern Morgen. Abends scheidet mein Körper offenbar tatsächlich keine Flüssigkeit aus. Und nachts geht dann das Gerenne wieder los!

Nur die eigene Erfahrung zählt. Das ureigene Erleben wiegt schwerer, ist lebendiger als alles Angelesene und Errechnete und im Internet Recherchierte – apropos:

In den 1540er-Jahren gab es eine jungfräuliche Hungerkünstlerin namens Margarethe Ulmer. Abgesehen davon, dass sie angeblich jahrelang weder Speis noch Trank zu sich genommen haben soll, behauptete sie, Würmer und Schlangen in ihren Gedärmen zu beherbergen. Der städtische Magistrat der Stadt Esslingen ließ den Leib des Mädchens aufschneiden. Da man darin Essensreste fand, warf man das elende Ding in einen Kerker, durchbohrte seine Wangen mit glühenden Eisen und folterte und verbrannte obendrein seine Mutter als Mittäterin.

Das Orakel von Delphi konnte erst befragt werden, wenn sich Pythia, die weissagende Priesterin, einer 24-stündigen Fastenreinigung unterzogen hatte. Die Normannen zogen erst in die Schlacht, wenn sie gefastet hatten. Spartaner, Perser, Ägypter fasteten. Die alten Mexikaner, Griechen und Römer fasteten. Inder, Chinesen und alle möglichen Götter taten’s der Sage nach auch. Jede Hochkultur hatte ihre Fastenriten. Was schließen wir daraus? Genau …

Morgen habe ich nichts vor. Keinen Termin, keine Verabredung. Nichts. Einfach nur ein Tag für mich. Ich liebe dieses Leben.

40 Tage Fasten - von einem, der mal Ballast abwerfen wollte
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