Fünfundzwanzigster Tag, 25. September

Das Fasten ist die Nahrung der Seele, es zügelt die Unmäßigkeit der Sprache und schließt die Lippen, es zähmt die Wollust und besänftigt das cholerische Temperament, es weckt das Urteil, macht den Körper geschmeidig, verjagt nächtliche Träumereien, heilt Kopfschmerzen und stärkt die Augen.
JOHANNES CHRYSOSTOMUS

Fünfundzwanzigster Tag, 25. September

81,0 KILOGRAMM

Von wegen Fasten verjagt nächtliche Träumereien: Ein Bach aus Steinen donnert in einem blutigen Bett einen Hang hinunter. Die Steine sehen aus wie gegrillte Lammhaxen oder -köpfe. Der tierische Bach riecht – nach nichts. Ich schwimme zwischen Lammteilen und kriege keine Luft mehr. Ich wache auf, muss wie immer aufs Klo. Es ist gerade erst halb eins. Wie soll ich diese Nacht rumkriegen?

Wieso stirbt man in Träumen nie? Ebenso habe ich in Träumen nie einen Orgasmus. Tod und Zeugung lassen sich nicht träumen. Für das Unterbewusstsein gibt es kein nach dem Tod und kein vor der Geburt.

Nach einer Durchfallattacke überkommt mich bleierne Müdigkeit. Ich schlafe durch bis acht Uhr früh und wache endlich mal entspannt auf. Kann in aller Ruhe meditieren und fühle mich ausgeglichen. Vielleicht brauchte mein Unterbewusstsein diesen Tag gestern, den anschließenden Traum und die Entleerung. Nach der Hyperaktivität tritt Stille ein.

Man muss nur ein bisschen im Internet surfen und schon findet man den wissenschaftlichen Beleg fürs Fastenglück: »Obwohl Fasten für den Körper physiologisch dieselben Auswirkungen hat wie Hungern, entfällt in diesem Fall der psychische Stress, da der Nahrungsverzicht freiwillig und geplant erfolgt. Das führt dazu, dass wesentlich mehr Endorphine als Stresshormone gebildet werden, die aufgrund des verlangsamten Stoffwechsels lange im Blut bleiben. Diese wirken als körpereigene Opioide und können einen leichten Rauschzustand erzeugen, der bis zu euphorischen Zuständen reichen kann. Längerem Fasten wird von Medizinern daher auch ein Suchtpotenzial zugesprochen.« Nachzulesen bei Wikipedia.

Ich bin berauscht, hänge an der Nadel und treffe mich jeden Abend mit verschiedenen Blutkörpern in der Opioidenhöhle.

Die Tage werden mir lang. Dass ich im Moment so gut wie gar keine sozialen Kontakte habe, stört mich eigentlich nicht. Ich merke, wie mich das Gespräch mit Kollegen ermüdet. Ich falle in alte Rollenmuster zurück, aus denen ich schon längst hinausgewachsen war, anstatt vollkommen authentisch zu sein und auf meinen Körper zu hören, der häufig einfach nur wegwill und Ruhe sucht. Aber noch hält mich ein Rest Höflichkeit davon ab, einfach mitten in Gesprächen auszusteigen. Obwohl es ehrlicher wäre.

Was müssen wir uns alles von anderen anhören. Aber das geht jedem so, nur das eigene Geschwätz stört uns nicht.

Meine Freunde lassen mich instinktiv in Ruhe. Sie wissen, dass mit mir im Moment nicht viel anzufangen ist.

Nach 25 Tagen muss ich feststellen, dass mein Ego noch lange nicht geschrumpft ist. Es ist immer noch präsent, plustert sich auf, ärgert sich über andere, macht sich Sorgen, kramt in alten Schubladen und stöbert in Vergangenheit und Zukunft herum. Nur die Gegenwart ist ihm zuwider. Es kann in diesem Moment einfach nichts mit sich anfangen und sucht ununterbrochen Ablenkung.

Was soll es auch mit der ganzen Zeit machen? Ich habe heute schon meine Lohnsteuererklärung gemacht, den Dielenboden geschrubbt, die Küche geputzt und länger als eine halbe Stunde mit meiner Mutter telefoniert.

Alles ist sauber. Alles ist erleuchtet.

»Wegen Schikanen gegen Gefängnisinsassen befanden sich seit dem 1. August mehr als 550 Häftlinge aus insgesamt 49 bundesdeutschen Gefängnissen in einem einwöchigen Hungerstreik. Aus Solidarität mit ihnen verweigerten auch einige wenige Gefängnisinsassen aus Belgien, Frankreich, den Niederlanden, der Schweiz und Spanien für eine Woche die Nahrung« (Neue Westfälische).

Eine Woche? Liebe Häftlinge: Zeigt dieses Buch nicht euren Wärtern.

Aber immerhin haben jetzt 550 weitere Menschen in Deutschland mal gefastet, und ich fühle mich nicht mehr so allein.

Gabi wird jetzt häufiger von Kollegen angesprochen, die meinen, sie darauf hinweisen zu müssen, wie gefährlich mein Unterfangen sei. Aber an Gabi prallt das ab. Vielleicht glaubt sie mittlerweile selbst an meine anstehende Erleuchtung? Ich rufe sie schnell an: »Hä? Nee.« Verstehe.

Vollkommen erschöpft liege ich jetzt, kurz vor Mitternacht, im Bett. Hinter mir liegen vier Stunden Trommelprobe für Sonntag. Wir werden vor mehreren Hundert Leuten auf der Landesgartenschau spielen. Noch nie waren wir so gut wie heute. Selbst Gartenschau-Besucher hätten heute zu unseren Samba-Rhythmen gezappelt. Was für eine Generalprobe! Gutes oder schlechtes Omen? Es gibt keine Omen!

40 Tage Fasten - von einem, der mal Ballast abwerfen wollte
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