Neununddreißigster Tag, 9. Oktober

Ein Mensch von 1,70 m Größe und 70 kg Gewicht verfügt rechnerisch über 10 kg Fett. Diese Reserven reichen bei einem täglichen Verbrauch von 2500 kcal etwa 42 Tage. Das decke sich mit der Faustregel, nach der ein Mensch in Extremsituationen etwa 40 Tage ohne Nahrung überleben kann.
PATER KILIAN SAUM, Fasten nach der Klosterheilkunde12

Neununddreißigster Tag, 9. Oktober

77,7 KILOGRAMM

Mein letzter ganzer Fastentag. Fazit? Noch liegt ein ganzer Tag vor mir. Außerdem sind die Schmerzen weiterhin da. Gerade im Liegen tut mein Bauch sehr weh. Auch im Sitzen zieht es. Aber ich bin überzeugt, dass es aufhören wird, wenn ich wieder esse. Kein Interesse, Panik zu schieben.

Wieder habe ich nur ein paar Stunden geschlafen. Sitze seit fünf Uhr früh auf meinem Kissen vor dem offenen Fenster und freue mich über die dunkle Welt da draußen.

Durch das Fasten ist mir die unglaubliche Allmacht des großen Ganzen nähergekommen. Wie konnte ich je daran zweifeln, Teil von allem zu sein?

Die wichtigste Einsicht: Für Kummer gibt es nur zwei Ursachen: Entweder wir bekommen nicht, was wir wollen, oder wir bekommen, was wir nicht wollen. Ohne Wollen gäbe es keinen Kummer. Wunschlos glücklich zu sein ist also doppelt gemoppelt. Glück gibt es nur ohne Wünsche.

Auch nicht ganz unwichtig: Fasten ist auf Dauer tödlich. Keine Nahrung zu sich zu nehmen bedeutet für den Organismus früher oder später das Ende. Irgendwann würde auch ich mich so zu Tode bringen. Obwohl das mit Säften, Buttermilch und Gemüsebrühe noch Monate dauern würde. Da bin ich mir ganz sicher. Trotzdem sind diese 40 Tage eine absolute Grenzerfahrung. Erst jetzt erscheinen mir unser Leben und unsere Welt als absolutes Paradies. Es ist eine Gnade, dies alles erleben zu dürfen. Und der Tod? Eine Transformation. Mehr nicht.

Da ist dieser Zellhaufen Mensch, der wundersamerweise Sinnesorgane hat, über die er die Welt erleben darf. Dazu kommt, dass er auch noch über sich selbst nachdenken kann. Er kann reflektieren. Das ist es, was wir den Tieren voraushaben. Und es ist diese Fähigkeit, die uns leiden lässt.

In diesem Moment bin ich der festen Überzeugung, dass ich nie wieder jammern oder mich beschweren werde. Alles Klagen ist künstlich, ist rein subjektiv, ohne Grund und ohne Boden. Und alles Geheul, Geschrei und Gewinsel geht vorbei. Das finde ich sehr, sehr tröstlich.

Wer bei der Fülle, die diese Welt bietet, jammert, ist selbst schuld. Vielleicht jammere ich aber schon morgen darüber, dass das Fasten vorbei ist, und habe dann das Gefühl der Dankbarkeit längst vergessen.

Ich wollte Erleuchtung, wollte das Leiden abschütteln. Im Grunde war ich auf der Suche nach dem Paradies. Ich glaube, ich habe es gefunden. Es ist direkt vor meiner Haustür, und ich habe es nie gesehen.

Das Wetter ist gut. Draußen wartet Gott oder sonst etwas. Aber ich bleibe in meinem Zimmer, habe das Telefon abgestellt, will den letzten Tag in Ruhe und Stille verbringen. Neben dem Paradies draußen gibt es das Paradies in mir. Seitdem ich dieses Paradies sehe, kann ich es auch draußen erkennen. Die Welt ist, wie wir sie sehen.

Es ist mehr ein Gefühl, ganz subtil und scheinbar flüchtig. Eindrücke davon signalisieren dem Verstand, dass es mehr gibt, als er zu erkennen vermeint. Es ist das Feinstoffliche, das sich erst in einem sensibilisierten Körper bemerkbar macht. Ich spüre dieses Feinstoffliche nur, weil mein Körper durch Fasten durchlässig ist, rein ist. Dadurch kann ich immer mehr mein wahres Ich von meinem Körper trennen. Das Gefühl des Einsseins gleicht Sonnenstrahlen, die auf die Haut treffen, durch den Körper flirren und direkt auf die Seele scheinen.

Das wahre Ich ist rein feinstofflicher Natur. Es ist das, was lebt. Wenn zwei am Boden liegen, einer tot und einer lebendig, ist der Hauptunterschied natürlich das Leben. Dieses undefinierbare Etwas, der Puls Gottes. Es wiegt nichts, ist wissenschaftlich, soweit ich weiß, nicht zu messen oder gar festzuhalten. Deshalb glauben wir auch nicht richtig daran. Unser Denken ist zu sehr von der Wissenschaft bestimmt.

Da Gedanken auch feinstofflich sind, schieben sie sich vor die Feinstofflichkeit des wahren Ichs, des Wesenskerns. Nur ohne Gedanken kommt das Ich zum Vorschein. Und das Ich ist alles und nichts.

Ich traue mich kaum, es zu schreiben. Aber nun habe ich einen Zustand erreicht, in dem ich Dinge erkenne, die ich vorher nicht erkannt habe. Und es macht mir nicht mehr so viel aus, wenn andere diese Dinge anzweifeln: Es gibt keinen Gedanken, der wahr wäre. Gedanken mögen zu Wahrheit führen. Der Gedanke an sich ist aber nicht wahr. Er existiert nur im Kopf. Er formt sich durch unsere Sinne und Lebenserfahrung zu einem rein künstlichen Konstrukt. Und wenn ich meine Gedanken verfolge, erkenne ich, dass die Wurzel aller Gedanken – ausnahmslos – die Angst vor dem Tod ist. Es ist erschütternd, einfach, genial, banal.

Während ich dies schreibe, wird mir klar, dass auch das alles nur Gedanken sind und sie daher auch nicht wahr sein können. Schade.

Gedanken unterliegen der Erdanziehungskraft. Wir können nicht gegen sie ankämpfen, sie weghaben wollen. Wir können sie akzeptieren, sie durchrauschen lassen und auf die lichten Momente der Gedankenlosigkeit warten.

Die Schmerzen im Bauch werden immer schlimmer. Eben hatte ich noch geglaubt, dass das nichts Schlimmes ist. Aber irgendetwas stimmt doch nicht!

Braucht Gott jemanden, der seine Schöpfung anerkennt?

Musste Widerliches beobachten. Die angestammten Hühner hacken auf die neuen ein. Schlimm. Selbst Hühner haben ein Ego! Leider können sie es aber nicht bewusst abstellen. Blöde Hühner. Ich werde sie fasten lassen!

Der letzte Abend. Ich habe angefangen, alles ins Reine zu schreiben. Habe mein Tagebuch sozusagen selbst eingeholt.

40 Tage Fasten - von einem, der mal Ballast abwerfen wollte
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