Zehnter Tag, 10. September

Es begann am 13. Februar, jenem Tag, an dem der Deutsche Jolly in Berlin auftrat, wo er einen neuen Hungerweltrekord von 44 Tagen aufzustellen gedachte. Die erfolgreiche Beendigung seines Vorhabens wurde zur ungeheuren Sensation, bei der eine Hysterie ausbrach und sich die Menschen im Getümmel die Kleider vom Leibe rissen. Insgesamt zählte man bei der Veranstaltung 350000 Besucher, der Reingewinn Jollys soll rund 130000 Mark betragen haben.
PETER PAYER, Hungerkünstler in Wien. Eine verschwundene Attraktion

Zehnter Tag, 10. September

86,7 KILOGRAMM

Liegen ist sehr wichtig. Deshalb liege ich auch schon wieder im Bett. In den vergangenen zehn Tagen habe ich drei Viertel meiner Zeit unter Daunen zugebracht. Mein Zimmer ist der gemütlichste Ort der Welt: 40 Quadratmeter, Dielenboden, Fachwerkausbau mit Schornstein mitten im Zimmer. Mein Bett steht unter einer Schräge, es ist umgeben von Literatur, Musik und kleinen Fenstern, durch die ich die Welt draußen bewundern kann.

Bei der Arbeit gibt es gerade nichts zu tun. Ich sitze einem Außerirdischen gleich in der Themenkonferenz und warte, ob ich etwas ergattern kann. Aber alle Themen sind vergeben oder passen nicht zu mir – also alles Politische, Kulturelle, Seriöse. Ich bin der Mann fürs Schnelle oder Bunte. Und schnell und bunt war heute nichts. Ich am wenigsten.

Nach dem Fasten – also in etwas über einem Monat (!) – will ich wieder Gas geben und mich von meiner besten Reporterseite zeigen. Augenblicklich erlaubt mein Kontostand den Leerlauf. In den vergangenen Wochen war viel schnelles Geld mit bunten Filmchen zu machen.

Nach der Konferenz gehe ich dummerweise in die Kantine, um mal zu gucken, wer so da ist und was es zu essen gibt. Die Kantine des NDR in Kiel ist ziemlich überschaubar. Es gibt zehn Sechsertische, eine große Salatbar, einen Tresen mit Essensausgabe. Dazu so etwas wie eine Kaffeeecke. Das Essen ist gut, und man kann dabei sogar auf die Kieler Förde schauen.

Es sitzen immer ein paar Leute gemütlich in der Kantine herum und reden Schlechtes über diejenigen, mit denen sie gestern hier gesessen haben. Fast alle kennen sich untereinander. Fast alle mögen sich auf öffentlich-rechtliche Art und Weise – also sachlich und unaufgeregt. Und fast alle haben dieselben Feinde: Mal ist es der Chef, mal sein Stellvertreter und mal der Kollege, der sich gerade den neuesten Porsche gekauft hat. Die Menschen hier verbindet nicht das, was sie mögen, sondern das, was sie nicht mögen.

Natürlich winken mich die Kollegen zu sich. Dabei sollte ich mich besser alleine unter einen Baum setzen, ohne eine Menschenseele zu sehen beziehungsweise zu hören. Aber schon sitze ich bei den anderen. Ich sei unverantwortlich, magersüchtig und suizidal, so die fachkundigen Kommentare. Ich kontere: Wenn ich mir fünf Handys kaufte, drei Sportwagen und jede Menge Uhren und Sonnenbrillen für Zigtausend Euro, würdet ihr mich sicher in Ruhe lassen – höchstens als Angeber abstempeln und über mich lästern. Wenn ich dreimal am Tag in den Puff ginge, ein Pornostar wäre oder ständig schmutzige Witze erzählen würde, würdet ihr das akzeptieren, wenn nicht sogar heimlich bewundern. Aber 40 Tage Fasten – das geht nicht, oder was?

In meinem Kopf geht’s weiter: Journalisten sind allesamt Sarkasten, hinterher wissen sie immer alles am besten und hacken dann auf denjenigen herum, die es vorher leider nicht gut genug gewusst haben. Jeder Fernsehjournalist ist eitel, meint, der Welt seine Einstellung verkünden zu müssen, und hält sich für etwas Besonderes – man steht ja in der Öffentlichkeit – in Kiel leider nur in der schleswig-holsteinischen Öffentlichkeit, was das Geltungsbedürfnis daher nicht im Geringsten befriedigt. Die meisten hier gehören nämlich mindestens zur Tagesschau, wenn nicht sogar nach Hollywood. Bin ich sauer!

Gerade will ich entnervt das Haus verlassen, als ein Kollege äußert, das sei nicht Timm Kruse, der vor ihm stünde, dieser Typ ohne Arsch in der Hose. Ich frage ihn, ob es nicht doch mehr sei, was einen Menschen ausmache, als nur sein Arsch in der Hose. »Doch, natürlich, aber irgendwie bist du das nicht …« Dann geht alles ganz schnell und meine Fantasie mit mir durch. Ich sehe mich meine .45er-Magnum ziehen, sie ihm an die Stirn halten und abdrücken. Das Blut spritzt durch das gesamte Foyer. 62,5 Prozent der Anwesenden schmeißen sich kreischend, der Rest wimmernd auf den Boden.

»Keinen Arsch in der Hose zu haben ist übrigens der Traum eines Großteils der Bevölkerung«, sage ich zu dem mit dem Leben davongekommenen Kollegen, schieße die Kaffeemaschine kaputt und gehe. Langsam. Hinaus.

Wieder liefert die Post zuverlässig Bücher ins Haus: Dr. Buchinger, der Fastenpapst, bestätigt meine Erfahrungen. Der Darm scheidet weiterhin jeglichen Müll aus, den er sich aus dem Körper »holt«. Daher habe ich auch nach zehn Tagen ohne Nahrung immer noch teils festen Stuhlgang. Ich staune. Dafür habe ich heute gemerkt, dass meine Nerven blank liegen. Hätte ich wirklich eine .45er-Magnum gehabt …

Buchinger führt in seiner Fastenbibel Das Heilfasten neben Jesus, Moses und Buddha auch gerne die Arier an, die »gewöhnlich einen Tag in der Woche fasteten«. Dass er auch mit dem Wort »Führer« recht sorglos umgeht, könnte daran liegen, dass sein Werk 1935 erschienen ist – zu jener Zeit, als ein Vegetarier in Deutschland und später auch kurzfristig in anderen Ländern ziemlich viel zu sagen hatte.

Ich habe weiterhin keine Lust auf Sex. Sex ist das Erste, was eingestellt wird, wenn es ums Überleben geht. Unsere Gesellschaft ist vermutlich so absurd sexsüchtig, weil es bei uns schon lange nicht mehr ums Überleben geht. Wir sind so satt, dass wir gar nicht mehr wissen, wohin mit der ganzen Energie. Und da ist Sex ein tolles Ventil. Ich bin nur froh, dass Gabi nicht mault wegen meiner Lustlosigkeit.

Wieso mault sie eigentlich nicht?

Manchmal habe ich das Gefühl, Buße zu tun, wenn ich faste. Buße für Maßlosigkeit, für fünf Stücke Fleisch beim Grillen, sieben Milchkaffee zum Frühstück und für die Unmengen an Alkohol, Zucker und Fett, die ich mir früher einverleibt habe.

Da es heute endlich mal nicht regnet, mache ich eine Radtour durch den Wald. Nur ein paar Kilometer von unserem Bauernhof entfernt befindet sich ein wunderschöner uralter Laubwald. Keine Menschen, kein Verkehr, keine Medien. Nur die Vögel, ein paar Rehe und viel Grün. Ich entdecke eine alte Eiche, sie muss Hunderte von Jahren auf dem Buckel haben. Ich klettere hinauf, sitze in einer Astgabel – nein, ich hänge in einer Astgabel und fühle mich frei und leicht. Manchmal gibt es die großen Momente des Glücks. Aber dann schläft mein Hintern ein, und ich stürze fast auf den Boden. Glück und Unglück liegen manchmal nahe beieinander.

Während der Radtour habe ich fast das Gefühl, mehr Kraft in den Beinen zu haben als vorher. Kann das sein? In drei Tagen steht das nächste Belastungs-EKG an.

Das Schöne am Fasten ist, dass ich nichts aktiv machen muss. Der Körper macht alles von selbst. Ich muss nur die Zeit auf mich regnen lassen und abwarten.

40 Tage Fasten - von einem, der mal Ballast abwerfen wollte
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