Achtundzwanzigster Tag, 28. September

I’m piled up high, the morning light.
A giant silver screen.
I’m waiting for my mind to land.
Cause everything’s unreal.
FASTEN SEAT BELT (Musikgruppe)

Achtundzwanzigster Tag, 28. September

82,1 KILOGRAMM

Das Salz in der Gemüsebrühe. Unglaublich, was das an Gewicht ausmacht. Aber die Zahl 82,1 macht sich sehr gut auf der Waage. Jetzt sind es wieder fünf Kilo, die mich vom Untergewicht trennen. Das wird Gabi beruhigen. Schließlich war es ja auch ihre Suppe.

Wer bin ich? Zwei Quadratmeter Haut.

Es ist neun Uhr abends, und ich liege vollkommen erschöpft im Bett, bin aber trotzdem hellwach. Die Beats unseres Trommelauftritts wummern immer noch durch meinen Körper. Wir haben vor mehr als tausend Menschen auf der Landesgartenschau in Schleswig gespielt. Es war atemberaubend. Der erste schöne Tag seit Langem. Scharen von Reihenhausbesitzern waren zur Abschlussveranstaltung dieser Blumenausstellung geströmt.

Einige Bekannte wollten wissen, ob mit mir alles okay sei. Ich erzählte nichts vom Fasten, nuschelte etwas von Nervosität vor dem Auftritt. Ich will mir keine Belehrungen mehr anhören müssen.

Nervös war ich tatsächlich. Aber ein erfahrener Percussionist hat mir mal erzählt, dass er seine Instrumente vor dem Auftritt immer streichelt. Das würde ihn sofort beruhigen. Ich liebkoste also meine Congas und vergaß nach ein paar Sekunden vollkommen, wo ich war und zu welchem Zweck. Dann ging es plötzlich los, und ich hatte überhaupt keine Zeit mehr, nervös zu sein. Es lief alles so perfekt, dass wir uns anschließend lange in den Armen gelegen sind, und zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass wir eine Band sind und nicht zwölf Hände, die Rhythmen produzieren.

Wir leben in Bratwürstchenland. Es fällt einem erst auf, wenn man fastet – oder Vegetarier ist. Auf der Landesgartenschau gab es mindestens sechs Würstchenstände, und bei leichtem Westwind roch es auf der Bühne so verlockend, dass ich mir das Congastreicheln auch hätte sparen und einfach nur den Würstchengeruch inhalieren können. Aber dann fiel mir ein, was alles in so einem Würstchen steckt. Und da wusste ich, dass ich nie wieder eines essen werde. Ich ekelte mich regelrecht bei dem Gedanken, in einen solchen Apatschenpimmel zu beißen, wie es unser Bandleader nannte. Sollte ich also irgendwann Lust auf Würstchen bekommen, muss ich nur an Apatschenpimmel denken, und alles ist gut. Beziehungsweise schlecht. (Ich weiß, dass dieser Begriff politisch unkorrekt ist, und verwende ihn einzig und allein, um meine Abwehr gegen eigene Würstchenverzehrwünsche zu stärken. Ich habe selbstverständlich nichts gegen Apatschenpimmel, und es ist mir auch bewusst, dass dieses Wort keine angenehmen Assoziationen weckt und ein bisschen unappetitlich klingt.)

Ghrelin ist schuld! Klingt wie die Figur in einem Fantasyfilm, dabei handelt es sich aber um so etwas wie einen Hungerwirkstoff: Ghrelin ist ein Hormon, das die Nahrungsaufnahme und das Ausscheiden von Wachstumshormonen reguliert. In Hungerphasen steigt der Ghrelinspiegel im Blut stark an. Da ich nicht mehr wachse, führt dieses Hormon zu euphorischen Empfindungen. Stimmt, ich könnte mir sogar vorstellen, reihenweise Apatschen abzuknutschen.

Meine Vorsätze für die letzte Fastenwoche: kein Handy. Keine Arbeit. Keine Menschen. Ruhe und Stille suchen. Warten auf Erleuchtung. Irgendetwas Tiefgreifendes muss doch nach 40 Tagen passieren.

Mein Körper ist definitiv reiner als vorher. Aber ist es meine Seele auch? Ich habe immer noch negative Gedanken, schimpfe über andere, male mir schreckliche Dinge aus. Aber wenigstens nehme ich das verrückt gewordene Horrorkabinett zwischen meinen Ohren nicht mehr so ernst.

Das Ego anderer kann ich immer sofort erkennen und wundere mich dann, wenn sie es nicht bändigen können, warum sie auf den Kopfquatsch hören, wirres Zeug reden und absurd handeln. Unser Bandleader flippte heute zum Beispiel aus, weil ein Pförtner uns nicht durchlassen wollte und obendrein noch anpöbelte. Daraufhin der Leiter unseres Ensembles schreiend: »Ich muss mir doch so was von einem Pförtner nicht sagen lassen!« Sein Ego musste sich sofort über den überkorrekten Pförtner stellen, was ich stirnrunzelnd beobachtete. Wenig später holte ich meine Trommel aus dem Auto und ging dabei auch halb auf dem Radweg. Ein Radfahrer klingelte und wies mich zurecht, ich solle gefälligst auf dem Bürgersteig gehen. Ich schrie ihm hinterher: »Wie viel Platz brauchst’n du mit deinem Scheißrad, du Pissnelke?« Ego, Ego, Ego. Es ist schneller als der Wind, der heute komischerweise meinen Gedärmen entwich. Vielleicht rettete der mich aber vor einer bösen Reaktion des ordnungsliebenden Cyclisten.

Apropos, ordnungsliebende Menschen werden mir immer zuwiderer. Das sind auch immer diejenigen, die sich über mein Fasten so aufregen. Es passt nicht in ihre Ordnung. Ich kann das natürlich auch nicht so hinnehmen, und dann schaukelt sich das Ganze häufig hoch.

Auch wenn ich nicht faste, finden insbesondere Schaffner, Busfahrer und Zöllner allesamt in mir ein dankbares Objekt für ihre Ordnungsliebe. Und da sie meist eine kleine fiese Machtstellung bekleiden, genießen sie es immer, wenn Typen wie ich sich über sie echauffieren und sie ihre Rolle daraufhin noch weiter ausbauen können. Auch für Türsteher bin ich der liebste Feind. Vorgesetzte, Lehrer, Eltern und andere Kontrollinstanzen sollen hier ebenfalls nicht unerwähnt bleiben. Überhaupt alle Menschen, die schon mal gesagt haben: »Ich tue hier nur meine Pflicht!«, »Wenn das jeder machen würde«, oder: »Ich bin auch nur ein Mensch.«

Meine Rettung wäre, chronische Kontrolleure lieben zu lernen. Ich hänge noch mal ein paar Wochen Fasten dran. Das wird schon.

Und dann kauf ich mir aber wirklich ’ne .45er-Magnum. Wollt ich schon immer haben.

Beim Blick aus dem Fenster habe ich wieder kurz gespürt, was mir in den vergangenen Tagen immer deutlicher bewusst geworden ist: Alles ist immer da. Ich kann es nicht anders beschreiben. Jeder Baum ist alles und nichts, hat alles und nichts. Jedes Blatt, jede Zelle genauso. Und dahinter ist eine Weite, die ich atmen kann. Es ist das Gefühl der Unendlichkeit. Da liegt die Freiheit, da ist das Ziel. Aber dieses Verstehen hält nur kurze Zeit an, ist nicht zu greifen, nicht zu begreifen. Einen Hauch davon habe ich aber gerade erfahren.

Wenn diese Ahnung, dieser Augenblick wieder verflogen ist, scheint mir, als hätte ich diese Empfindung des Einsseins mit allem nie erlebt. Auch habe ich das Gefühl, etwas von mir selbst herzugeben, wenn ich darüber schreibe. So, als würde ich die Erkenntnis verraten. Es ist schließlich meine Erkenntnis, mein Gefühl. Und es stimmt auch nur für den einen Moment. Wozu also darüber schreiben? Um das Erkannte nicht zu vergessen? Um zu beweisen, dass Fasten Erkenntnisse bringt?

Manchmal stelle ich mir die Unendlichkeit vor. Dann kommt es mir wie eine ganz besondere Ehre vor, diesen Moment, genau das Jetzt, bewusst zu erleben. Diese Milliarden von Jahren, die hinter uns und noch vor uns liegen. Inmitten der Unendlichkeit gibt es diesen Millimoment des Jetzt. Es fühlt sich berauschend an und gleichzeitig gewaltig, furchterregend und unfassbar. Und das Verrückteste daran: Dieser Millimoment ereignet sich ständig.

Wer sind wir, und wohin geht die Reise? Und warum genau 40 Tage? Ist das die Zeit, die man ohne Schäden überstehen kann? Vielleicht wenn man Glück hat.

Treffen sich zwei Planeten. Sagt der eine zum anderen: Scheiße, ich habe Homo sapiens. Sagt der andere: Nicht schlimm, das vergeht wieder.

Ich kasteie mich nicht mehr so. Manchmal trinke ich puren Saft. Nur ein Schlückchen. Aus reinem Genuss. Dabei schmeckt das Ganze nach purem Zuckerwasser. Nach 28 Tagen darf ich das aber.

40 Tage Fasten - von einem, der mal Ballast abwerfen wollte
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