Zwölfter Tag, 12. September

Die Gewebe haben nämlich die Fähigkeit, nicht ausscheidbare Stoffe zu magazinieren, d. h. aufzuspeichern und dadurch vorläufig unschädlich zu machen. Diese Fremdstoffe werden nun durch den Fastenprozess aufgerüttelt und in die Säftebahnen gebracht.
DR. MED. GUSTAV RIEDLIN, Faste Dich rein und iß Dich gesund (1927)

Zwölfter Tag, 12. September

85,8 KILOGRAMM

Ich esse eine Scheibe billiges geschnittenes Aldi-Brot, belegt mit Käse. Schmeckt ganz normal. Sitze in der Küche mit Leuten aus meiner Studienzeit. Habe die Scheibe Brot halb aufgegessen, bis mir einfällt, dass ich ja faste. Ich renne aufs Klo, stecke mir die Finger in den Hals und würge und würge, bis ich aufwache.

Auf meiner Zunge der Geschmack nach verfaultem Käse.

Ich habe Albträume. Immer wieder dieses Mich-selbst-Erwischen, dieses »O Gott, ich darf nicht wieder anfangen«.

Offenbar geht es meinem Unterbewusstsein mit der Nahrungsaufnahme genauso. Da ist ein Verbot, das nicht übertreten werden darf. Meine Angst vor dem eigenen Wortbruch ist so stark, dass sie mich bis in meine Träume verfolgt.

Hinter meinen absurden 40 Tagen Fasten steckt der simple Wunsch nach Veränderung. Trendforscher Matthias Horx nennt diesen Wunsch ein Haupttopos der Moderne. Wir leben im Zeitalter des »Selfness«, das gekennzeichnet sei durch eine Selbstveränderungskultur. Nichts ist schlimmer als Stagnation, wer unflexibel ist, ist out!

Mich quält nicht, dass die Anzahl der mir verbleibenden Lebensjahre ständig schrumpft, sondern die Angst, diese Jahre belanglos zu verplempern.

Kann es sein, dass Männer im Allgemeinen früher sterben als Frauen, weil sie sich schlechter ernähren? Weil sie maßloser sind? Weil viel Futtern und Saufen zu einem richtigen Kerl gehören?

Wir haben schon als Kinder Wettessen veranstaltet. Und wir waren nur Jungs zu Hause. Wer schafft am meisten Pickert? Ein beliebtes Spiel in meiner lippischen Heimat, wo Pickert, eine Art Kartoffelpuffer, zu den Nationalgerichten gehört. Pickert gehört genau wie Hermann der Cherusker zu den wenigen Dingen, mit denen sich die Lipper identifizieren oder gar rühmen können. Keine Region in Deutschland hat so wenig zu bieten und bringt daher so viele Lokalpatrioten hervor. Pickert essen ist für alle Lipper ein Stück Identität, Heimat in ihrer leckersten Form. Pickert versetzt jeden Lipper zurück an die Orte seiner Kindheit. Pickert macht nicht nur satt, sondern auch glücklich.

Vor großen Mahlzeiten wird in Lippe gerne folgender Spruch zum Besten gegeben: »Hermann der Cheruskerkönig fraß zu viel und schiss zu wenig, darum starb er nicht im Kampf, sondern an ’nem Magenkrampf. Alle Mann haut ran!«

»Alle Mann haut ran« war dann auch der Leitspruch meiner Jugend. Gemeinsam Vollgas geben, so habe ich diesen Spruch interpretiert. Meinen Brüdern und Freunden ging es nicht anders. Mein jüngerer Bruder erntete Ruhm mit dem Verdrücken dreier Pizzen, mein bester Freund damit, 17 Weizen »wegzudübeln«, und Amerika schaffte es, mehrere Pershing II in der Nachbarschaft aufzustellen. »Alle Mann haut ran!«

Dieses ganze Mackergehabe gab es zumindest damals bei Frauen nicht. Bierbäuche, Komasaufen und Herrengedeck waren Männerdomänen. Frauen mit Bierbauch sind immer noch eine höchst absurde und zuweilen niedliche Ausnahme von der Regel. Manchmal erblickt man sie, die Ikonen der Trunksucht: 50-Jährige, die von Weitem schwanger aussehen. Beim Näherkommen dann nicht mehr.

Saufen war in meiner Jugend Ehrensache. Wer etwas auf sich hielt, soff. Und zwar bis zum Erbrechen. Dies ward gern gesehen und brachte Lob und Beifall ein. Bis heute erzählen wir beim gemütlichen »Bierchen« Geschichten von früher. Als M. im Vollrausch auf ein Kneipensofa schiss, T. völlig besoffen heimlich onanierend unterm Himmelszelt am Lagerfeuer saß, mein jüngerer Bruder von seinen Mediziner-Kumpanen in die sichere Seitenlage gebracht werden musste, R. mit einem Döner in der Jeanstasche aufwachte oder ich ohnmächtig im Park lag und von meinen Kumpels unter leeren Aldi-Bierdosen verbuddelt wurde.

Wir waren Kinder der Konsumgesellschaft, die Anführer bei diesen Aktionen kamen immer aus »gutem Hause«. Jeder von uns hat im Laufe seiner Säuferkarriere einen Swimmingpool voll Bier getrunken, eine Doppelgarage voll Leergut an Weinflaschen und Spirituosen-Buddeln produziert und mehrere Zehntausend Mark in Kneipen gelassen. Wozu das alles?

Zwischen meinem 18. und 35. Lebensjahr gab es sehr wenige Wochen, in denen ich nicht betrunken gewesen bin. Ich habe auch meine Freunde nach ihrer Maßlosigkeit ausgesucht. Ich hielt uns damals tatsächlich für Genussmenschen.

Genuss ist es, einen Apfel eine halbe Stunde lang zu essen.

Auch das muss aber nicht sein.

Aus der Ärzte Zeitung: Ein chinesischer Arzt will den Weltrekord im Fasten brechen. Dieser liege bei 44 Tagen und werde von dem US-Magier David Blaine gehalten, der den Rekord erst im vergangenen Oktober aufgestellt habe.

Durch seine Hungerkur wolle er für die traditionelle chinesische Medizin werben, erzählt der chinesische Arzt. Das eher konservative Ärzteblatt setzt sich herablassend mit dem Thema auseinander, anstatt sich mit alternativer Medizin ernsthaft zu beschäftigen. Sonst wüssten die Verfasser vielleicht auch, dass 44 Tage Fasten schon x-fach überboten worden sind.

Es gibt Ärzte, es gibt Mediziner, und es gibt Menschen, die andere heilen möchten.

Nach zwölf Tagen Fasten bin ich immer entschlossener, anschließend meine Ernährung umzustellen. Mehr Vollkorn, viel Obst und Gemüse. Bis ich allerdings auf ein schönes gegrilltes Stück Schwein verzichten will, muss ich noch ein bisschen fasten. Restzeit: 28 Tage.

40 Tage Fasten - von einem, der mal Ballast abwerfen wollte
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