Siebenundzwanzigster Tag, 27. September

Wenn ihr aber fastet, sollt ihr nicht finster dreinsehen wie die Heuchler; denn sie verstellen ihr Angesicht, um sich mit ihrem Fasten vor den Leuten sehen zu lassen.
Bergpredigt

Siebenundzwanzigster Tag, 27. September

80,5 KILOGRAMM

Finster? Finster ist es draußen. Auch tagsüber. Und damit verfinstert sich auch automatisch die Stimmung der Menschen. Ob sie fasten oder nicht.

Der 27. Fastentag. Wenn ich mir vorher über die 40 Tage Gedanken gemacht habe, dann besonders wegen des 27. Tages. Irgendwie dachte ich immer, das wäre der entscheidende. Wenn ich den schaffe, dann schaffe ich auch den 40. Schlimm würde es aber, wenn ich an diesem Tag eine Krise hätte. Aber ich habe keine Krise. Überhaupt keine. Ich habe höchstens die Nase voll. Das ist alles.

Wieder liege ich mitten in der Nacht wach. Nachdem ich um zwei Uhr Unmengen an Flüssigkeit ausgeschieden habe, ist an Schlaf nicht mehr zu denken. Ich gräme mich nicht, sondern akzeptiere, dass mein Körper offenbar kaum noch Schlaf braucht.

Es ist viel zu kalt, um aufzustehen, und viel zu dunkel. Lesen ist auch zu anstrengend. Dabei hätte ich jede Menge neuer Bücher hier liegen. Der Bücherkaufrausch hat mich immer noch im Griff. Aber irgendwie muss ich den Nahrungsmangel ja kompensieren.

Wozu das alles? Wozu das Leben? Wenn man irgendwann begriffen hat, dass wir alle kleine Nichtse sind, die irgendwo in der Unendlichkeit für einen winzigen Moment leben, dann macht das alles für unser Gehirn keinen Sinn mehr.

Diese Gedanken sind nicht suizidal. Sie sind nur nüchtern und objektiv. Es geht nicht mehr um die große Frage danach, wer ich bin. Die Frage muss vielmehr lauten: Warum bin ich?

Viele Menschen sehen das emotional: Wir leben, um unsere Lebenszeit zu teilen, Liebe zu verbreiten, um aufeinander achtzugeben. Aber global oder gar universell und infinit betrachtet, hat jeder von uns die Bedeutung eines Sandkorns. Vielleicht sind wir aber auch so etwas wie Zellen in einem noch größeren, komplexeren Wesen in einem ganz anderen Kosmos jenseits unserer Vorstellungskraft. Und so wie jede Zelle in unserem Körper Sinn macht, würde dann auch jedes Wesen, ob menschlich oder nicht, Sinn machen.

Durch das Fasten scheint der Teil von mir, der Leben ist, mehr Platz zu haben. Es fühlt sich an, als wäre der Körper eine Begrenzung, um ganz und gar in diesen alles umfassenden Kosmos einzutauchen. Aber dann macht das körperliche Leben keinen Sinn mehr.

Ich suche. Ich weiß nicht, wonach. Weiß auch nicht, wer das ist, der sucht. Aber etwas in mir sucht. Es ist eine Sucht.

Gabi meint, ich solle mir mal was gönnen. Also hat sie mir Gemüsebrühe gemacht. Mit 50 Prozent Wasser verdünnt, ist sie ungenießbar. Und Gabi beteuert, dass das Zeug sogar unverdünnt nach nichts schmecke. Als sie mein Gemüsewasser probiert, rümpft sie die Nase und fragt, ob das Geruchsempfinden beim Fasten auch so intensiv sei. Ja! Sogar noch viel schlimmer. Ich rieche eine Bratwurst über ein ganzes Fußballfeld gegen den Wind.

Wenn ich Gabi anschaue, weiß ich wieder, warum ich lebe.

Nur noch drei Kilo bis zum Untergewicht. Und es bleiben noch zwölf Tage. Pro Tag 400 Gramm. Wenn ich meine Aktivitäten noch weiter einschränke, dürfte ich die 77 Kilogramm nicht unterschreiten. Ich sollte nur noch dasitzen und meditieren. Alles andere ist eh Flucht.

Leben hat auch mit Sinnesfreuden zu tun. Die körperlose Seele weiß nicht, wie eine Grillparty riecht. Aber ich rieche sie. Die Grillparty bei meinem jüngeren Bruder. Die größte anzunehmende Versuchung. Es gibt alles, was Gott dem Menschen an Gaumenfreuden geschenkt hat. Fischsuppe, Rind, Lamm, Schwein vom Grill, Rosmarinkartoffeln, Pasta in allen Formen, überbackenes Gemüse, eingelegte Peperoni, die besten Käsesorten der Welt, Süßigkeiten aller Art und wunderbaren Kaffee. Ich stehe da, tue galant und gut gelaunt und erzähle allen, wie toll es sei, zu fasten und unabhängig zu sein. Witzigerweise fastet meine Exschwägerin auch gerade, sodass wir uns gegenseitig immer mehr in unsere Fastenlüge hineinsteigern können. Wir lügen uns ganze Schweinehälften in die Tasche.

Fasten ist bekloppt, qualvoll, unwürdig.

Gegen Mitternacht stehe ich draußen am Grill, wende faserige Teile eines toten Schweins und wärme mich bei fünf Grad an der Glut. Ich muss mich nicht unterhalten, da alle drin hocken, sich besaufen und rauchen.

Jetzt liege ich allein im Bett, leide unter Halsschmerzen und Kopfweh. Ich habe zwar bis halb eins durchgehalten, aber auch nur deshalb, weil ich ja allen beweisen musste, dass man auch als Fastender Spaß haben kann.

Erfreut stellte ich aber fest, dass auf der Party mal wieder ein paar Leute waren, die auch mithilfe von Alkohol keinen Spaß haben können, und fühlte mich ihnen sehr überlegen.

Jetzt habe ich Schluckauf. Wahrscheinlich hat mein Unterbewusstsein die ganze Zeit mitgegessen und verdaut nun.

Eigentlich hätte ich da gar nicht hingehen sollen. Aber das wäre meinem Bruder gegenüber unfair gewesen. Außerdem war es schön, alle Jungs von früher wiederzusehen. Am besten war, dass mir keiner von denen einen Vortrag gehalten hat, wie gefährlich mein Fasten sei. Das war schon immer das Schöne damals in Detmold. Wir haben uns nicht viel Gedanken über andere gemacht. Jeder ist, wie er ist. Und das ist heute noch so.

Früher war alles so unkompliziert: Wir riefen uns an, holten uns für 20 Mark Kippen, eine Kiste Bier und Brötchen mit Wurst, setzten uns auf eine Parkbank oder in die Natur und redeten über Wichtiges, glaube ich. Irgendwann ging die Sonne auf, wir waren glücklich, der Kassettenrekorder leer, die Zukunft war jetzt, und die Welt hat nur auf uns gewartet.

Zwanzig Jahre später bin ich der Einzige, der immer noch das Gewicht von damals hat – zumindest vorübergehend. Sonst hat sich nicht viel geändert. Es wird immer noch gesoffen, als gäbe es kein Morgen, gesessen und geredet, bis die Sonne aufgeht. Nur die Ziele haben sich in Luft aufgelöst. Fast alle haben Job und Kleinfamilie. Jetzt wird die Zeit abgesessen, bis die Kinder groß sind, die Pensionierung kommt und wir uns wieder anrufen, uns auf eine Parkbank oder in die Natur setzen und über Wichtiges reden können. Oder auch nicht. Nur das Morgengrauen erleben wir dann seltener.

40 Tage Fasten - von einem, der mal Ballast abwerfen wollte
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