26. KAPITEL

Draußen setzt allmählich die Morgendämmerung ein, und für die Bauern von Chelm beginnt soeben ein neuer Arbeitstag. Sie füttern das Vieh und kehren die Straße vor ihrem Hof wie an jedem anderen Tag auch. Einige sehen in unsere Richtung und nicken uns zu, andere nehmen gar keine Notiz von uns, wie wir die Straße entlang in Richtung Wald gehen. Niemanden scheint es zu stören, dass ich mit einem rußgeschwärzten Jungen auf dem Arm zum Wald laufe. Bislang hat auch noch niemand den Rauch bemerkt, der aus Krysias Haus dringt.

Je weiter wir vorankommen, umso weniger Häuser säumen die gewundene Straße. Vor uns ist der dichte Baumbestand zu sehen, dessen Dunkelheit uns Schutz verspricht. Schließlich geht die Straße in einen schmalen Trampelpfad über. Ich bleibe stehen und drehe mich um, damit ich einen letzten Blick auf meine Nachbarschaft werfen kann, die für mich jetzt der Vergangenheit angehört. Alles sieht so verschlafen und friedlich aus.

Genug, sage ich mir. Es führt zu nichts, über Dinge nachzudenken, die man nicht ändern kann. Mein Blick fällt auf den Boden, der von einer dünnen, mir zuvor nicht aufgefallenen Reifschicht überzogen ist. Auf einmal nehme ich die Umstände bewusst wahr, mit denen ich konfrontiert bin: die Kälte, das Gewicht des Jungen, die Strecke, die vor uns liegt … und die Tatsache, dass wir nichts haben.

Mich überkommt ein Gefühl, dass uns die Zeit davonläuft. Wir müssen weiter, wir dürfen keine Sekunde verlieren. Ich nehme Łukasz auf den anderen Arm, damit ich ihn auf meiner linken Hüfte abstützen kann, dann gehe ich weiter. Im Schutz der Bäume und damit den Blicken der Nachbarn entzogen, beschleunige ich meine Schritte, bis ich fast renne. Durch meinen Bauch und das Gewicht des Jungen auf dem Arm bewege ich mich etwas ungelenk. Durch den steiler und unebener werdenden Weg schmerzen mir bald die Beine, und an meinen Schuhen kleben große feuchte Erdklumpen. Plötzlich bleibe ich mit dem Fuß an einem Ast hängen und verliere das Gleichgewicht. Während ich vornüber falle, drücke ich den Jungen fest an mich, damit ihm nichts passiert. Noch im Fallen lasse ich mich zur Seite wegrollen, weil ich ihn sonst unter mir begrabe. Ein stechender Schmerz jagt durch meine Schulter.

Benommen liege ich ein paar Sekunden lang auf dem Boden und ringe nach Luft. “Łukasz …”, sage ich, setze mich auf und ziehe den Jungen auf meinen Schoß. Schnell sehe ich nach, ob er sich verletzt hat, doch er scheint unversehrt zu sein. Lediglich etwas Erde klebt an seiner Stirn. “Geht es dir gut?” Er nickt stumm und setzt das Gesicht auf, das er immer dann macht, wenn er Hunger hat. Um diese Zeit bekam er sonst sein Frühstück in Krysias angenehm warmer Küche. Könnte ich ihm doch wenigstens etwas Milch geben. Ich wünschte, ich hätte an den Proviant gedacht, den Krysia für uns bereitgestellt hatte. Vor mir sehe ich das vorwurfsvolle Gesicht des Rabbis. Wie werde ich bloß ohne Krysia zurechtkommen? Werde ich überhaupt in der Lage sein, mich um mein eigenes Kind zu kümmern, wenn es zur Welt gekommen ist? Ich greife in die Manteltasche und finde einen Riegel Schokolade, den mir der Kommandant einmal geschenkt hat.

Ich wickele ihn aus dem Papier und wische ihn ab, bevor ich ihn Łukasz gebe. “Hier.” Er nimmt ihn und steckt ihn schnell in den Mund, so als hätte er Angst, die Schokolade könnte sich gleich in Luft auflösen. Mit einem strahlenden Lächeln sieht er mich an. So ein Frühstück hat er auch noch nicht erlebt.

Immer noch ein wenig außer Atem betrachte ich sein Gesicht. Nicht einmal eine Stunde nach dem traumatischen Besuch durch die Gestapo macht er einen ruhigen Eindruck. Dann begleitest du mich also doch, denke ich. “Komm, mein Schatz.” Ich stehe auf, hole den blauen Pullover unter meinem Mantel hervor und ziehe ihn Łukasz über. Er liegt eng an und wirkt eigentlich schon eine Nummer zu klein. In dem Jahr, das der Junge bei uns verbracht hat, ist er so groß geworden. Allen Tragödien zum Trotz ist er richtiggehend aufgeblüht. Ich kann nicht anders, als in ihm mein Kind zu sehen, doch insgeheim frage ich mich, ob der Rabbi oder ein Verwandter eines Tages zu mir kommen wird, um ihn abzuholen. Aber für den Augenblick ist er erst einmal bei mir. Ich halte seine Finger fest, als bräuchte ich diesen Kontakt, um glauben zu können, dass Łukasz wirklich bei mir ist. Sein Lächeln bestärkt mich in meinem Glauben, dass alles gut wird.

“In Sicherheit”, sage ich laut, doch dann wird mir klar, wie wenig das der Wahrheit entspricht. Wir sind noch viele hundert Kilometer, gefahrvolle Kilometer davon entfernt, in Sicherheit zu sein. Nein, in Sicherheit sind wir nicht, aber in Freiheit. Ich weiß nicht, wohin wir gehen und wie wir das schaffen werden, und ich kann nicht einmal sagen, ob wir es überhaupt schaffen werden. Dennoch klingt das Wort sehr schön. “In Freiheit.” Ich werde mich nie wieder als jemand anders ausgeben müssen.

“Feiheit”, versucht Łukasz mir nachzusprechen. Ich schaue ihn an und bemerke, dass noch Schokolade an seinen Fingern klebt. Als ich aus meiner Manteltasche ein Tuch ziehen will, berühren meine Finger etwas … meine Heiratsurkunde und die Ringe! Marta hat sie mir auf der Brücke zurückgegeben. Einmal mehr überlege ich, ob ich sie hier im Wald vergraben soll, doch dann mache ich mir bewusst, dass das Versteckspiel ein Ende hat. Ich hole die Ringe aus der Tasche und stecke sie zurück an meine Finger.

Während wir weiter durch den Wald laufen, muss ich an diejenigen denken, die wir zurücklassen mussten. Krysia und Alek sind tot, ebenso meine Mutter. Ich weiß, ich werde um jeden von ihnen auf eine eigene Weise trauern. Und dann ist da noch der Kommandant. Im gleichen Moment sehe ich sein Gesicht vor mir, und mir stockt der Atem. “Nicht”, sage ich laut, doch es hilft nichts. Das Gesicht ist aber nicht das des Nazis, der hoch oben auf der Wawelburg thront und der seine Waffe auf mich richtet. Nein, diesen Mann gibt es nicht mehr. Stattdessen sehe ich den Mann, der am Tag der Abendgesellschaft Krysias Haus betritt, der mich in seinen Bann zieht und nicht wieder loslässt, der mich Dinge erleben lässt, die mein Körper bis dahin nicht kannte, und der mich in seinen Armen hält, während ich einschlafe. Der Mann, der um Vergebung bittet, als er im Sterben liegt. Jetzt wird mir klar, dass nicht nur er in diesem Moment gestorben ist. Der Kommandant hat Anna mitgenommen. Anna Lipowski. Die Freundin des Kommandanten. Ich frage mich, ob ich sie wohl vermissen werde.

“Es reicht”, rufe ich so laut, dass meine Stimme auf der Lichtung ein Echo wirft, auf der wir eine kurze Rast eingelegt haben. Ich kann später immer noch versuchen, all diesen Dingen einen Sinn zu geben. Im Moment müssen wir weitergehen. Ich ziehe Łukasz hoch, der sich auf der Erde niedergelassen hat, dann machen wir uns wieder auf den Weg.

Ich verdränge den Kommandanten aus meiner Erinnerung und denke an die anderen, die zurückgeblieben sind. Mein Vater. Er lebt, zumindest war das vor wenigen Stunden noch der Fall. Ich sehe das Leuchten in seinen Augen, als er mich durch die Öffnung in der Ghettomauer erkannte. Vielleicht wird er es schaffen, das zu überleben, was vor ihm liegt.

Auch Marta lebt noch, sage ich mir. Sie saß auf der Brücke, die Waffe fest umklammert, schwer verwundet, aber furchtlos. Sie hat mir das Leben gerettet. Ich wünschte nur, unsere letzte Unterhaltung vor dieser Nacht wäre nicht so von Zorn geprägt gewesen, und sie hätte nicht so schlecht von mir gedacht, weil ich mich mit dem Kommandanten eingelassen habe. Vor allem wünschte ich, unsere Freundschaft wäre nicht durch ihre Gefühle für meinen Mann getrübt worden. Ich denke zurück an den Moment, als sie mit der Waffe in der Hand auf die Brücke kam. Sie hätte mich erschießen können, um Jakub für sich allein zu haben. Doch das tat sie nicht, weil ihr unsere Freundschaft letztlich mehr bedeutete als ihre Liebe zu meinem Ehemann.

Vielleicht konnte sich Marta ja wie durch ein Wunder trotz ihrer Verletzungen doch noch in Sicherheit bringen. Vielleicht werden sie und mein Vater den Krieg überleben, und eines Tages sehen wir uns alle wieder: Jakub, mein Vater, Marta, Łukasz und ich.

Ich lege eine Hand auf meinen Bauch und muss an mein ungeborenes Kind denken. Als ich mich für einen Augenblick im Wald umsehe, überkommt mich Verzweiflung. Wie kann ich ein Kind in eine solche Welt setzen? Selbst wenn Jakub und ich fliehen können, werden wir unserem Kind nichts geben können, nicht einmal ein Dach über dem Kopf. Eine kühle Brise weht mir ins Gesicht, und ich schaue durch die Äste und Zweige nach oben zum Morgenhimmel. Es wird alles gut werden, flüstert mir eine Stimme zu. Das Kind wird stark sein. In diesem Moment weiß ich, es wird ein Junge sein, und wir werden ihm den Namen Alek geben.

Irgendwann haben wir die sanft abfallenden, freien Felder von Czernichów erreicht. Ich bleibe stehen, lockere den Griff um Łukasz’ Hand und betrachte das Panorama vor uns. Rechts von mir, nicht ganz einen Kilometer entfernt, entdecke ich das blaue Dach von Kowalczyks Bauernhof. Wenn ich blinzele, kann ich die gleich dahinter liegende Hütte ausmachen. Ich stelle mir vor, wie Jakub vor der Hütte steht und glücklich zu lächeln beginnt, sobald er uns sieht. Dann muss ich laut lachen. Ich habe mir so oft vorgestellt, wie sich unser Wiedersehen gestalten wird, dass es mir in Fleisch und Blut übergegangen ist. Jetzt kann mich nichts mehr davon abhalten, meinen Mann in die Arme zu schließen, und doch stehe ich hier und male mir nur aus, wie es wäre. Ich atme tief durch und gehe los.

Nachdem wir den Schutz der Bäume hinter uns gelassen haben, stelle ich fest, dass die Sonne wärmer ist als erwartet und mehr an Frühling als an Winter erinnert. Vögel kreisen über dem Feld und pfeifen sich gegenseitig Melodien zu. “Komm, kochany”, sage ich zu Łukasz und ziehe an seinem Ärmel. Jakub wartet auf uns.

Vor uns liegt zweifellos noch eine lange und gefährliche Reise, doch zumindest die erste Etappe haben wir bereits hinter uns gebracht. Wir haben Krysias Haus so verlassen, wie wir dort eintrafen – nur mit den Habseligkeiten, die wir am Leib trugen. Aber diesmal gehen wir gemeinsam weiter und finden unseren Weg, ohne dass uns jemand führen muss.

– ENDE –