2. KAPITEL

An dem Morgen, an dem Jakub verschwand und nicht wagte, mir eine Nachricht zu hinterlassen, saß ich nach dem Aufwachen minutenlang im Bett und sah mich im Schlafzimmer um. “Er kommt nicht zurück”, sagte ich zu mir selbst. Ich war so perplex, ich konnte nicht einmal weinen. Als wäre ich diesen Moment gedanklich schon tausendmal durchgegangen, stand ich auf und zog mich an. So schnell ich konnte, packte ich meinen kleinen Koffer. Es kostete mich Überwindung, den Verlobungs- und den Ehering abzustreifen, beide legte ich zusammen mit unserem Trauschein zuunterst in den Koffer.

An der Schlafzimmertür blieb ich kurz stehen. Im überladenen Regal gleich neben der Tür lag unter Jakubs Physikbüchern und politischen Abhandlungen begraben ein kleiner Stapel Romane – Ivanhoe, Stolz und Vorurteil und einige mehr, die meisten davon von ausländischen Autoren. Ich streckte die Hand aus, um über die Buchrücken zu streichen, und verlor mich für einen Augenblick in Erinnerungen. Jakub hatte mir die Romane geschenkt, kurz nachdem wir uns das erste Mal trafen. Jeden Tag besuchte er mich damals in der Bibliothek, und oft brachte er mir ein kleines Geschenk mit, mal einen Apfel oder eine Blume – oder eben ein Buch. Zunächst musste ich darüber lachen. “Du bringst Bücher in eine Bibliothek?”, zog ich ihn auf, während ich den dünnen, in Leder gebundenen Band musterte. Es war eine übersetzte Ausgabe von Charles Dickens’ Große Erwartungen.

“Ich bin mir sicher, dass du dieses noch nicht hast”, überging er meine Neckerei und hielt mir das Buch hin. In seinen braunen Augen lag ein Lächeln. Es stimmte, was er sagte: Auch wenn ich etliche Bücher gelesen hatte, so besaß ich doch kein einziges davon. Meine Eltern hatten mich zum Lernen ermutigt und mich auf eine jüdische Mädchenschule geschickt, solange sie das Geld dafür aufbringen konnten. Aber Bücher zu besitzen war – abgesehen von der Familienbibel und dem Gebetsbuch – ein Luxus, den wir uns nicht leisten konnten. Jedes der Bücher, die Jakub mir brachte, behandelte ich wie eine kleine Kostbarkeit, und ich verriet ihm niemals, dass ich fast alle bereits in der Bibliothek gelesen hatte, einige sogar oft genug, um den Inhalt auswendig zu kennen. Ich las jedes einzelne noch einmal (jetzt, da es mein eigenes Buch war, erschien mir die Geschichte irgendwie anders als zuvor), und legte es dann in die Schublade meiner Kommode, wo es sicher verwahrt war. Diese Bücher gehörten zu den wenigen Habseligkeiten, die ich mitnahm, als ich vom Haus meiner Eltern in das meiner Schwiegereltern zog.

Beim Gedanken daran, wie Jakub mir das erste Buch schenkte, brannten meine Augen. Wo bist du?, fragte ich leise und starrte das Regal an. Und wann wirst du zurückkommen? Ich wischte die Tränen fort und betrachtete die Bücher. Ich kann sie nicht alle mitnehmen, dachte ich. Sie wiegen zu viel. Dennoch würde ich sie nicht alle hier zurücklassen. Schließlich zog ich zwei Bücher aus dem Stapel und packte sie in eine Tasche.

Mit Koffer und Taschen bepackt ging ich langsam Richtung Haustür. Mein Blick wanderte über die roséfarbenen Seidenvorhänge, die mit bronzefarbener Kordel elegant von den hohen Fenstern zurückgehalten wurden, weiter zum Porzellan mit Goldrand in der Vitrine neben dem Salon. Wenn das Haus leer stand, wer würde dann die Landstreicher oder sogar die Deutschen davon abhalten, es zu plündern? Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, doch zu bleiben. Aber Jakub hatte recht damit, dass ich hier nicht in Sicherheit war. Durchsuchungen durch die Gestapo waren an der Tagesordnung, und die jüdischen Besitzer vieler erstklassiger Wohnungen in der Innenstadt waren bereits enteignet worden. An ihrer Stelle hatten sich in den herrschaftlichen Häusern hochrangige deutsche Offiziere niedergelassen. Mir ging der Gedanke durch den Kopf, etwas von den wertvollen Gegenständen der Baus mitzunehmen, um sie in Sicherheit zu bringen, vielleicht einige kleinere Gemälde oder die silbernen Kerzenhalter. Doch selbst wenn ich sie irgendwie bis in die winzige Wohnung meiner Eltern hätte schaffen können, wären sie dort nicht sicherer aufgehoben als hier. Im Foyer blieb ich noch einmal stehen und schaute mich ein letztes Mal um, dann zog ich die Tür hinter mir zu.

Ich ging die ulica Grodzka entlang, aus dem Stadtzentrum hinaus in Richtung jüdisches Viertel. Je weiter ich kam, umso schäbiger wurden die Häuser und umso enger die Straßen. Unwillkürlich musste ich daran denken, wie ich es Jakub zum ersten Mal erlaubte, mich von der Bibliothek nach Hause zu begleiten. Über Monate hinweg hatte er es mir angeboten, doch ich lehnte jedes Mal ab. Ich fürchtete, dass er im Angesicht der krassen Gegensätze unser beider Welten für immer aus meinem Leben verschwinden würde. Als wir das jüdische Viertel schließlich erreichten, beobachtete ich sein Mienenspiel genau. So wie er die Lippen aufeinanderpresste und seinen beschützenden Arm fester um mich legte, spürte ich, dass er zutiefst betroffen war vom Anblick der allgegenwärtigen Armut, den heruntergekommenen Häusern und den schäbig gekleideten Menschen. Nie ließ er jedoch ein Wort darüber verlauten, seine Zuneigung zu mir schien von diesem Tag an nur noch stärker zu sein. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er entschlossen war, mich aus dieser Welt herauszuholen. Bis heute, bis zu diesem Augenblick, dachte ich und betrachtete die menschenleere Straße vor mir. Jetzt war er fort, und ich kehrte allein nach Kazimierz zurück. Ich merkte, wie mir erneut Tränen in die Augen stiegen.

Wenig später erreichte ich die ulica Szeroka und damit den großen Platz im Herzen des jüdischen Viertels. Ich blieb stehen und ließ meinen Blick über die Synagogen und die Geschäfte schweifen, die den Platz säumten. Etwas war anders als bei meinem letzten Besuch vor wenigen Wochen. Obwohl es ein Werktag war, hielt sich niemand auf den Straßen auf, zudem herrschte gespenstische Stille. Nirgends unterhielten sich Nachbarn von einem offenen Fenster zum anderen, vor keinem Geschäft standen hitzig debattierende Männer, und nirgendwo schleppten Frauen mit Kopftüchern Lebensmittel oder gebündeltes Brennholz. Es war so, als sei über Nacht die ganze Nachbarschaft verschwunden.

Ich beschloss, zur Bäckerei zu gehen und meinen Vater zu begrüßen, bevor ich mich in die Wohnung begab. Das winzige Geschäft mit der angeschlossenen Backstube war sein ganzer Stolz. Vor über dreißig Jahren hatte er es als junger Mann eröffnet, um sich und meine Mutter ernähren zu können, und seitdem stand er täglich hinter der Theke. Selbst nach dem Einmarsch der Deutschen war er nicht davon abzubringen, das Geschäft weiterzuführen, obwohl es an allen Zutaten mangelte und die zahlenden Kunden immer weniger wurden. Er wollte es sich einfach nicht nehmen lassen, Familie, Freunde und Nachbarn mit heimlich produzierten jüdischen Brotsorten zu versorgen – mit Challah-Laiben für den Sabbat und Matzen für das Passah-Fest, all diesen Dingen, die längst verboten waren.

Natürlich würde er wollen, dass ich meine Koffer in die Ecke stellte und eine der weiten Schürzen umlegte, damit ich ihm beim Backen helfen konnte. Ihm bei der Arbeit zur Hand zu gehen, fehlte mir am meisten, seit ich geheiratet und Kazimierz verlassen hatte. Stundenlang unterhielten wir uns, wenn wir die Teige einrührten und kneteten, und oft erzählte er mir Geschichten aus seiner Kindheit, Geschichten über meine Großeltern, die ich nie kennengelernt hatte, und über den großen Gemischtwarenladen, den sie einst nahe der Grenze zum Deutschen Reich besaßen. Manchmal hielt er mitten in seinen Erzählungen inne und summte leise etwas vor sich hin. Ich musste ihn nicht ansehen, um zu wissen, woran er dachte, während er dastand und lächelte, den dunklen Bart vom Mehl weiß gefärbt.

An der Ecke ulica Józefa bog ich nach links ab und blieb vor der Bäckerei stehen. Ich versuchte, die Tür zu öffnen, doch sie war verschlossen. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich mich im Wochentag geirrt hatte und das Geschäft wegen des Schabbes geschlossen war. Das letzte Mal, dass mein Vater aus einem anderen Grund als diesem nicht geöffnet hatte, war der Tag meiner Geburt gewesen. Ich spähte durch das Schaufenster, drinnen war alles dunkel. Unbehagen kam in mir auf. Vielleicht stimmte etwas nicht, womöglich war er oder meine Mutter krank. Ein Schauder lief mir über den Rücken, während ich mich in Richtung ulica Miodowa auf den Weg machte.

Nur ein paar Minuten später betrat ich den schwach beleuchteten Flur jenes Hauses, in dem ich bis zur Heirat mein ganzes Leben verbracht hatte. Die Luft war beißend und schwer vom Geruch nach Kohl und Zwiebeln. Ich ging die Treppen hinauf und stellte schließlich schwer atmend mein Gepäck ab, dann öffnete ich die Wohnungstür. “Hallo?”, rief ich und ging ins Wohnzimmer. Die Morgensonne schickte ihre Strahlen durch die zwei Fenster in den Raum. Als ich mich umsah, dachte ich daran, wie wenig es mir ausgemacht hatte, in solch beengten Verhältnissen aufzuwachsen. Seit ich aber mit Jakub verheiratet war und bei seiner Familie wohnte, kam mir das Zuhause meiner Kindheit irgendwie verändert vor. Bei meinem ersten Besuch nach unseren Flitterwochen waren mir die vergilbten Gardinen und die ausgefransten Sofakissen zuwider gewesen, so als würde mir zum ersten Mal wirklich bewusst, wie klein und unordentlich unsere Wohnung war. Ich empfand Schuldgefühle, dass ich meine Eltern hier zurückließ, während ich mit Jakub im Komfort lebte. Doch sie schien es nicht zu stören, schließlich war dies hier das einzige Zuhause, das sie kannten. Und jetzt muss ich wieder hier leben, dachte ich und wünschte, es müsste nicht so sein. Sofort schämte ich mich für meine Überheblichkeit.

“Hallo?” Diesmal hatte ich meine Stimme etwas angehoben. Keine Antwort. Ich sah zur Uhr über dem Kamin. Es war halb neun. Mein Vater sollte schon vor Stunden in die Backstube gegangen sein, wohingegen meine Mutter nie so früh aufstand wie er, also hätte sie zu Hause sein müssen. Irgendetwas stimmte nicht. Ich atmete tief durch und stellte fest, dass es nicht nach dem üblichen Frühstück meiner Mutter roch, das aus Eiern und Zwiebeln bestand. Beunruhigt lief ich ins Schlafzimmer. Einige Schubladen der Kommode standen offen, Kleidungsstücke hingen heraus. Meine Mutter hätte niemals die Wohnung verlassen, ohne zuvor Ordnung zu schaffen. Dann sah ich, dass die graue Wolldecke verschwunden war, die üblicherweise am Fußende auf dem Bett meiner Eltern lag.

“Mama?” Wieder keine Antwort. Ich spürte, wie Panik in mir aufstieg. Ich eilte durch das Wohnzimmer zurück in den Hausflur und sah die Treppe hinunter. Bis auf den Nachhall meiner Schritte war im Gebäude alles still. Ich hörte keines der sonst üblichen Geräusche, die durch die hauchdünnen Wände drangen – Menschen, die sich unterhielten, das Scheppern von Kochtöpfen, laufende Wasserhähne. Mein Puls schlug ohrenbetäubend laut. Offenbar waren alle verschwunden! Ratlos blieb ich stehen.

Plötzlich kam ein leises Knarren aus dem oberen Teil des Treppenhauses. “Hallo?”, rief ich und ging einige Stufen hinauf. Durch das Geländer konnte ich ein Stück blauen Stoffs erkennen. “Ich bin Emma Gerschmann”, sagte ich und benutzte meinen Mädchennamen. “Wer ist da?” Ich kam gar nicht erst auf den Gedanken, Angst zu empfinden. Ich hörte einen Schritt, dann noch einen. Ein Junge, nicht viel älter als zwölf, kam zögernd die Treppe herunter. Ich erkannte ihn als eines der vielen Kinder des Ehepaars Rosenkrantz aus dem dritten Stock. “Du bist Jonas, stimmt’s?”, fragte ich. Er nickte. “Wo sind alle?”

Fast eine Minute lang schwieg er, und als er endlich antwortete, war seine Stimme so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte. “Ich habe auf dem Hof gespielt, als sie kamen.”

“Wer kam, Jonas?”, fragte ich und fürchtete mich bereits jetzt vor der Antwort.

“Männer in Uniformen. Ganz viele.”

“Deutsche?” Wieder nickte er. Meine Beine wollten mir wegsacken, und ich musste mich am Geländer festhalten. “Wann?”

“Vor zwei Tagen. Alle mussten gehen. Meine Familie auch, und Ihre.”

Mir drehte sich der Magen um. “Wohin sind sie gegangen?”

Er zuckte mit den Schultern. “Nach Süden zum Fluss. Alle trugen Koffer und Taschen.”

Nach Süden? Ins Ghetto, dachte ich und ließ mich auf den Treppenabsatz sinken. Die Nazis hatten begonnen, eine Mauer um ein ganzes Viertel im südlichen Stadtteil Podgorze zu errichten. Alle Juden aus den umliegenden Dörfern mussten dorthin umziehen. Mir war aber nie der Gedanke gekommen, dass man meine Familie ebenfalls umsiedeln könnte, schließlich lebten wir bereits in einem jüdischen Viertel. “Ich habe mich versteckt, bis sie weg waren”, fügte Jonas leise hinzu. Ich sprang auf und lief zurück zu unserer Wohnung. An der Tür blieb ich stehen. Die Mezuzah war nicht mehr da, jemand hatte sie aus dem Türrahmen gerissen. Ich berührte die Stelle, wo der kleine metallene Behälter über Jahrzehnte hinweg gehangen hatte. Mein Vater musste ihn entfernt haben, bevor sie gingen. Er hatte gewusst, sie würden nicht mehr wieder herkommen.

Ich musste sie finden. Nachdem ich die Wohnungstür zugezogen und mein Gepäck an mich genommen hatte, wandte ich mich an Jonas, der mir nach unten gefolgt war. “Jonas, du kannst nicht hierbleiben. Du bist hier nicht in Sicherheit”, sagte ich zu ihm. “Hast du irgendjemanden, zu dem du gehen kannst?” Er schüttelte den Kopf. Ich konnte ihn unmöglich mitnehmen. “Hier.” Ich kramte ein paar von den Münzen hervor, die Jakub für mich zurückgelassen hatte, und drückte sie dem Jungen in die Hand. “Kauf dir davon etwas zu essen.”

Er steckte das Geld in seine Hosentasche. “Wohin gehen Sie?”

Ich zögerte. “Ich versuche, meine Eltern zu finden.”

“Gehen Sie ins Ghetto?”

Überrascht schaute ich ihn an. Mir war nicht klar gewesen, dass er wusste, wohin man die Leute gebracht hatte. “Ja.”

“Die werden Sie nicht wieder weggehen lassen!”, rief Jonas ängstlich. Wieder zögerte ich. In meiner Eile war mir gar nicht eingefallen, dass man mich im Ghetto ebenfalls festhalten könnte.

“Ich muss jetzt gehen. Pass du gut auf dich auf und halt dich versteckt.” Ich legte eine Hand auf die Schulter des Jungen. “Wenn ich deine Mutter sehe, werde ich ihr ausrichten, dass du wohlauf bist.” Ohne auf eine Antwort zu warten, machte ich kehrt und rannte die Treppen hinunter, so schnell ich konnte.

Draußen blieb ich stehen und sah in beide Richtungen die verlassene Straße entlang. Ich begriff, dass die Deutschen das ganze Viertel geräumt haben mussten. Reglos stand ich da und überlegte, was ich tun sollte. Natürlich hatte Jonas recht. Wenn ich erst einmal im Ghetto war, würde man mich von dort nicht wieder weglassen. Doch welche andere Wahl blieb mir? In unserer Wohnung konnte ich nicht bleiben. Vermutlich war es sogar gefährlich, hier auf der Straße zu stehen. Verzweifelt wünschte ich mir, Jakub wäre hier. Er wüsste, was zu tun war. Aber wenn er hier gewesen wäre, hätte ich gar nicht erst das Haus seiner Familie verlassen müssen, und alles wäre noch in Ordnung. So jedoch stand ich allein auf der Straße, ohne zu wissen, an wen ich mich wenden sollte. Ich fragte mich, wie weit Jakub inzwischen gekommen war. Ob er mich allein gelassen hätte, wenn ihm klar gewesen wäre, was mir so kurz nach seiner Flucht zustoßen würde?

Ich werde ins Ghetto gehen, beschloss ich. Ich musste einfach wissen, ob meine Eltern dort waren und wie es ihnen ging. Wieder nahm ich Koffer und Taschen auf, dann machte ich mich zügig auf den Weg in Richtung Süden. Meine Schritte und das gelegentliche Schleifen des Koffers auf dem Pflaster waren die einzigen Geräusche, die die frühmorgendliche Stille störten. Ich begann zu schwitzen, und meine Arme taten mir weh, während ich mich an diesem trüben Herbstmorgen mit dem viel zu schweren Gepäck abmühte.

Wenig später erreichte ich das Ufer der Wisła, die unsere alte Welt von unserer neuen trennte. Am Fuß der Eisenbahnbrücke blieb ich stehen und sah zum gegenüberliegenden Ufer hinüber. Podgorze war für mich ein fremder Stadtteil, der vom Handel lebte und überlaufen war. Als mein Blick über die schmutzigen, heruntergekommenen Gebäude wanderte, konnte ich eben die Oberkante der Ghettomauer ausmachen. Ein eisiger Schauer lief mir über den Rücken. Du wirst nur in einem anderen Teil der Stadt wohnen, sagte ich mir, doch dieser Gedanke konnte mich nicht trösten. Das Ghetto war nicht Kazimierz, es war nicht unser Zuhause. Ebenso gut hätte ich auf einem anderen Planeten leben können.

Einen Moment lang überlegte ich, ob ich kehrtmachen und davonlaufen sollte. Aber wohin? Ich atmete tief durch und machte mich daran, die Brücke zu überqueren. Meine Beine waren schwer wie Blei. Während ich mühsam einen Fuß vor den anderen setzte, schlug mir der Gestank von schmutzigem Wasser zwischen den Latten der Brücke hindurch entgegen. Dreh dich nicht um, ermahnte ich mich. Doch kaum hatte ich das gegenüberliegende Ufer erreicht, wandte ich mich fast gegen meinen Willen doch noch einmal um. Ich sah die Wawelburg, wie sie sich am Ufer mit ihren Dächern und Türmen majestätisch zum Himmel emporreckte und von der Sonne in ein goldenes Licht getaucht wurde. Ihre Erhabenheit erschien mir wie ein Verrat. Mein ganzes Leben lang hatte ich in ihrem Schatten gespielt und gearbeitet, war in ihm aufgewachsen. Diese Festung, über Jahrhunderte hinweg Sitz der polnischen Monarchie, hatte mir ein Gefühl von Sicherheit gegeben. Und jetzt kam es mir vor, als würde ich ausgestoßen. Ich war auf dem Weg ins Gefängnis, doch die Burg schien von meiner Misere nichts wahrzunehmen. Kraków, die Stadt der Könige, war nicht länger meine Stadt. An einem Ort, den ich immer als mein Zuhause betrachtet hatte, war ich zu einer Fremden geworden.