11. KAPITEL

Fünf Tage nach der Abreise des Kommandanten stehe ich in seinem Büro und ordne die zahlreichen Dokumente und Briefe, die sich während seiner Abwesenheit angesammelt haben. In wenigen Tagen wird er zurückerwartet, auch wenn ich mich frage, ob das schlechte Wetter ihn vielleicht aufhalten wird. Aus den eingegangenen Telegrammen weiß ich, dass man im Westen noch immer mit schweren Regenfällen zu kämpfen hat. Die Schienen sind überspült, und der militärische Nachschub der Deutschen verzögert sich. Munition, Lebensmittel und Medikamente können nicht transportiert werden, was das Vorrücken der Wehrmacht erschwert. Als ich das lese, freue ich mich insgeheim über das schlechte Wetter, das ich vor wenigen Wochen noch verflucht habe.

Durch die Abwesenheit des Kommandanten war es mir möglich, ein weiteres Mal in Kirchs Büro einzudringen. Als ich diese Passierscheine jedoch letzten Dienstag im Café am Marktplatz übergab, erklärte mir Alek, ich solle keine Scheine mehr mitgehen lassen und stattdessen auf neue Anweisungen warten. Natürlich werde ich mich daran halten, und ich bin auch erleichtert, nicht noch einen dieser nervenaufreibenden Ausflüge in ein fremdes Büro machen zu müssen. Allerdings fühle ich mich jetzt auch ein wenig verloren, denn diese Mission gab meiner Arbeit einen Sinn und sorgte zudem für ein bisschen Nervenkitzel. Da nun meine Aufgabe hinfällig geworden ist und der Kommandant vorerst nicht zurückkehrt, erscheinen mir die Tage im Büro lustlos. Ich habe Mühe, meine professionelle Einstellung zu wahren, damit niemandem hier eine Veränderung auffällt.

Während ich den Stapel Papiere auf dem Schreibtisch des Kommandanten zurechtrücke, fällt mein Blick auf das Bild, der ihn mit seiner Frau zeigt. Es steht wieder da, seit die Delegation aus Berlin abgereist ist. Auf dem Foto tragen beide leichte Sommerkleidung, und es sieht aus, als würden sie irgendwo am Meer Urlaub machen. Der Kommandant präsentiert sich mit einem ausgelassenen Gesichtsausdruck. Seine Frau hat die Haare nach hinten gekämmt und ein Kopftuch umgelegt, während sie ihn verliebt anlächelt. Für eine Deutsche hat sie auffallend dunkle Augen und einen überraschend kräftigen Teint. Ich frage mich einmal mehr, was mit ihr geschehen ist. Ich nehme den Bilderrahmen in die Hand, um den Staub abzuwischen, dabei betrachte ich die Fotografie eindringlich und suche nach einem Hinweis, der mir mehr über diese Frau verrät.

“Dzień dobry, Anna”, höre ich plötzlich eine vertraute Stimme hinter mir sagen. Ich schrecke hoch und drehe mich hastig um. Der Bilderrahmen fällt mir aus der Hand und landet auf dem Teppich.

“Gu-guten Tag, Herr Kommandant”, stammele ich, hebe in aller Eile den Rahmen auf und stelle ihn zurück auf den Schreibtisch. “Ich habe nur diese Papiere sortiert, damit bei Ihrer Rückkehr alles ordentlich ist.”

Er lässt nicht erkennen, ob ihm aufgefallen ist, wie nervös ich bin. “Sehr gut. Jetzt bin ich ja wieder da.” Irgendwie sieht er anders aus, was mir auffällt, als ich ihm Platz mache, damit er sich an seinen Schreibtisch setzen kann. Sein Haar wirkt grauer, die Falten rund um seine Augen kommen mir ausgeprägter vor. Vielleicht kommt das nur durch die Strapazen der Reise, überlege ich und erkenne an seinen Bartstoppeln, dass er sich am Morgen nicht rasiert hat.

“Wir hatten Sie erst am Freitag zurückerwartet”, sage ich, während er Platz nimmt.

“Ich habe mich entschlossen, früher abzureisen. Aufgrund der Besprechungen, an denen ich teilgenommen habe, fällt jetzt viel Arbeit an. Viele Zugverbindungen wurden wegen der Regenfälle gestrichen, da wollte ich sichergehen, früh genug zurück zu sein.”

“Auf jeden Fall ist es gut, dass Sie wieder da sind.” Kaum habe ich diese Worte ausgesprochen, wird mir klar, was ich da eigentlich rede.

Der Kommandant sieht mich an. “Es ist auch gut, wieder hier zu sein”, gibt er bedächtig zurück. “Mir fehlte … nun ja, Berlin ist eine sehr anstrengende Stadt. In Kraków geht es viel ruhiger zu.”

“Ja, das stimmt.” Sekundenlang sehen wir uns an, ohne dass wir ein Wort wechseln, bis ich der betretenen Stille endlich ein Ende setze. “Möchten Sie den Terminplan jetzt mit mir durchgehen?”

Er schaut zur Standuhr, die halb vier zeigt. “Ich möchte mich erst mit dem aktuellen Stand der Dinge vertraut machen.” An der Art, wie er sich auf die Unterlippe beißt, kann ich erkennen, dass er mit seinen Gedanken woanders ist. “Würde es Ihnen etwas ausmachen, heute länger zu bleiben? Wir könnten um fünf Uhr die Papiere durchgehen.”

“Selbstverständlich.” Ich ziehe mich ins Vorzimmer zurück, wo ich mit zitternden Händen am Schreibtisch Platz nehme. Die verfrühte und nicht angekündigte Rückkehr des Kommandanten hat mich völlig überrascht. Ich höre mich im Geiste wieder sagen: Auf jeden Fall ist es gut, dass Sie wieder da sind.

Warum habe ich das gesagt? Weil Anna es sagen würde. Aber ich habe den Satz nicht für Anna gesprochen, sondern nur geäußert, was mir spontan durch den Kopf ging. Die nächsten eineinhalb Stunden verbringe ich damit, mich wieder in den Griff zu bekommen, doch so oft ich auch versuche, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren, sehe ich immer nur die Augen des Kommandanten vor mir.

Als die Glocken der Wawelkathedrale fünf Uhr läuten und ich merke, wie Malgorzata ihr Büro verlässt, greife ich nach einem weiteren Stapel Post für den Kommandanten. Ich gehe auf seine Tür zu, während ich durch die offenen Fenster die anderen Sekretärinnen auf ihren hohen Absätzen das Gelände verlassen höre.

Die Tür zu seinem Büro steht einen Spalt offen. Ich klopfe leise an und öffne sie etwas mehr. Das Grammofon läuft, klassische Musik erfüllt den großen Raum. Ich hatte erwartet, dass der Kommandant die Dokumente durchsieht, die ich ihm hingelegt habe, aber er sitzt auf seinem Bürostuhl vom Schreibtisch abgewandt und sieht in Richtung Podgorze aus dem Fenster. Ich habe mich schon gefragt, was er empfindet, wenn er nach draußen sieht. Hört er die verzweifelten Schreie der Juden im gleich gegenüberliegenden Ghetto? Oder ist er in Gedanken woanders, vielleicht bei seiner Frau?

Nachdem ich eine Weile gewartet habe, ohne von ihm bemerkt zu werden, räuspere ich mich schließlich. Er dreht sich um und sieht mich an, als wüsste er nicht, wer ich bin und was ich hier will. “Sie wollten mit mir ihren Terminplan durchgehen”, erkläre ich.

Sein ratloser Gesichtsausdruck verschwindet. “O ja, natürlich. Kommen Sie rein.” Ich nehme auf dem Sofa Platz, er kommt zu mir und setzt sich in den Sessel neben mir. Zunächst fasse ich zusammen, welches die wichtigsten Schreiben sind, die in seiner Abwesenheit eingetroffen sind. Dazu gehören Einladungen, Zeitungsausschnitte und andere Berichte. “In den Notizen vom Treffen letzten Dienstag am Außenring steht …” Auf einmal unterbreche ich meine Ausführungen und sehe hoch. Der Kommandant betrachtet mich eindringlich. “Stimmt etwas nicht, Herr Kommandant?”

“Nein, nein”, wehrt er mit einem Kopfschütteln ab. “Fahren Sie bitte fort.”

Ich sehe auf das Blatt vor mir, habe aber den Faden verloren. Besorgt bemerke ich, wie mir heiß wird. Ich räuspere mich. “Es gibt eine Anfrage, ob Sie nächsten Freitagabend am Direktorenbankett teilnehmen möchten”, sage ich und mache damit einen Sprung ans Ende meiner Liste. “Allerdings gibt es da eine Überschneidung mit einer bereits akzeptierten Einladung zum Abendessen bei Bürgermeister Baran und seiner Frau.” Wieder sehe ich auf, weil ich erwarte, dass er mich wissen lässt, welchen Termin er nun wahrnehmen wird, doch nach wie vor starrt er mich an, als hätte er kein Wort mitbekommen. “Herr Kommandant …”

Er blinzelt verdutzt. “Was ist?”

“Die Überschneidung zwischen dem Bankett und der Einladung bei Bürgermeister Baran. Ich muss wissen, welchen Termin Sie wahrnehmen möchten.”

“Oh.” Seiner Reaktion nach zu urteilen scheint dies eine schwierige Entscheidung zu sein. “Was meinen Sie, was ich machen sollte?”

Verdutzt nehme ich zur Kenntnis, dass er mich nach meiner Meinung fragt. “Nun”, entgegne ich bedächtig. “Ich halte das Bankett für wichtiger, auch wenn die Einladung des Bürgermeisters zuerst gekommen ist. Ich würde ihm ein Entschuldigungsschreiben schicken und vielleicht einen Blumenstrauß für die Frau Gemahlin.”

“Hervorragende Idee”, erwidert er, als hätte ich etwas unglaublich Intelligentes von mir gegeben. “Das werde ich machen.”

“Ich werde alles Notwendige veranlassen”, sage ich und stelle fest, dass ich unverändert das Objekt seiner gesamten Aufmerksamkeit bin. Mit einem Mal kommt es mir vor, als wäre es im Zimmer unerträglich schwül. “Gibt es sonst noch etwas?” Ich brenne darauf, endlich gehen zu dürfen.

Er schüttelt den Kopf. “Nein, das ist alles für heute. Vielen Dank, Anna.” Der Kommandant wendet sich wieder dem Fenster zu. Ich sammele alle Papiere ein, die ich auf dem Tisch ausgebreitet habe, und stehe auf. In diesem Moment ertönt aus dem Grammofon eine neue Melodie. Es ist ein langsames, trauriges Stück, in dem ich eines der Lieblingsstücke meines Vaters wiedererkenne. Er spielte es immer dann, wenn er ein wenig melancholisch war. Ein- oder zweimal hörte ich ihn im Ghetto diese Melodie summen. Als ich nun aufmerksam zuhöre, scheint das Cello meine Seele zu berühren. Ich spüre, wie sich in meiner Kehle ein Kloß bildet.

Der Kommandant sieht auf. “Sie mögen die Musik?” Er klingt so überrascht wie an jenem Abend bei Krysia, als ich Schiller im Original zitierte.

“Ja.” Meine Wangen beginnen zu glühen.

Er steht auf und ist nur wenige Zentimeter von mir entfernt. “Warten Sie, Anna.” Er legt seine Hand auf meinen Unterarm, woraufhin mir ein Schauer über den Rücken läuft. “Ich …” Er hält inne, mit der freien Hand rückt er seinen Kragen zurecht. “Würden Sie mich nächsten Freitag ins Konzert begleiten? Ich habe Karten.”

Verdutzt sehe ich ihn an. Der Kommandant hat mich soeben zu einem Rendezvous eingeladen. “D-das ist sehr nett von Ihnen”, bringe ich heraus und versuche Zeit zu schinden, um mir eine Antwort zu überlegen.

“Dann sagen Sie, dass Sie mitkommen”, drängt er behutsam. Unschlüssig stehe ich da. Ich kann doch nicht mit ihm ausgehen, ich bin eine verheiratete Frau. Aber Anna ist keine verheiratete Frau. Verzweifelt suche ich nach einer Ausrede, nach einem Grund, weshalb ich verhindert bin. “Wenn es Ihnen am Freitag nicht passt, dann können wir auch an einem anderen Abend gehen.”

Er ist mein Vorgesetzter, seine Einladung kann ich nicht ausschlagen. Ich muss schlucken. “Nein, Herr Kommandant. Freitag passt mir gut.”

“Dann sind wir uns also einig. Freitagabend. Ich hole Sie um sieben Uhr bei Ihrer Tante ab.” Ich nicke und verlasse in aller Eile das Büro, während mir sein Blick bis zur Tür folgt.

Es gelingt mir, auf der Heimfahrt ruhig zu bleiben, doch kaum habe ich das Gartentor erreicht, verliere ich die Fassung. Keuchend und mit hochrotem Kopf schleppe ich mich in den ersten Stock, wo Krysia auf dem zum Garten hin gelegenen Balkon sitzt. “Die Situation mit dem Kommandanten gerät außer Kontrolle!”, explodiere ich.

Sie legt ihr Buch beiseite. “Was ist denn los?”

Als mir einfällt, dass Łukasz bereits schläft, werde ich leiser. “Er hat mich zu einem Rendezvous eingeladen.”

Krysia zeigt auf einen Stuhl. “Setz dich zu mir und erzähl mir, was vorgefallen ist.” Wie üblich klingt sie nicht so, als würde es sie überraschen, was ich zu berichten habe.

Ich lasse mich auf den Stuhl sinken und beginne mit meiner Schilderung. “Und dann sagte er, dass er Karten für die Philharmonie hat.”

“Was höchst unwahrscheinlich ist, da er die ganze Woche außer Landes gewesen ist”, stellt Krysia fest.

“Eben! Und wenn die Karten über Berlin hergekommen wären, hätte ich sie gesehen.” Sie nickt, da sie die Bedeutung dessen versteht, was hier vorgeht.

“Georg Richwalder ist ein mächtiger Mann, zudem ein gut aussehender”, hält mir Krysia vor Augen. “Anna Lipowski sollte sich geschmeichelt fühlen.”

Ich denke über ihre Bemerkung nach. Natürlich hat sie recht. Wäre ich tatsächlich eine alleinstehende junge Polin, würde ich die Aufmerksamkeit des Kommandanten sicher genießen. “Aber ich bin verheiratet!”, kontere ich, während mir die Tränen kommen.

“Ich weiß.” Sie tätschelt meine Hand. “Du befindest dich in einer schwierigen Lage.”

“Und ich bin eine Jüdin!” Zum ersten Mal seit Monaten habe ich dieses Wort ausgesprochen, und ich muss feststellen, dass es sich fremdartig anfühlt, es über die Lippen zu bringen.

“Vielleicht kannst du so den Juden helfen”, sagt Krysia. Ich sehe sie verständnislos an. “Du musst versuchen, in größeren Zusammenhängen zu denken. Wenn du näher an den Kommandanten herankommst, könnte das für den Widerstand von Nutzen sein. Vielleicht kannst du noch viel mehr helfen, als du es bislang schon getan hast.”

Ich atme tief durch. “Aber Jakub …”

“Jakub würde es verstehen”, erwidert sie überzeugt. Ich weiß, sie hat recht. Er liebt mich, aber er selbst hat sich ganz der Bewegung verschrieben. Wenn mein Rendezvous mit einer Nazigröße dem Widerstand helfen könnte, würde er es mir nachsehen. Dennoch frage ich mich, ob ich bei vertauschten Rollen auch so verständnisvoll wäre.

“Ich weiß. Es ist nur so, dass …” Ich halte inne, da ich mich für meine egoistischen Gedanken schäme.

“Dir fehlt Jakub”, spricht sie aus, was ich nicht sagen will. An ihrem Tonfall erkenne ich, dass sie versteht, was in mir vorgeht. Krysia fehlt Marcin genauso, wie mir Jakub fehlt. Der Unterschied ist, dass ich Jakub wiedersehen werde. Ich weiß, das wird geschehen. An eine andere Möglichkeit darf ich gar nicht denken. Vor uns liegt das Versprechen einer gemeinsamen Zukunft.

“Es tut mir leid”, entgegne ich schließlich. “Ich weiß, dir fehlt Marcin auch.”

“Das ist schon in Ordnung.” Krysias Augen nehmen einen gedankenverlorenen Ausdruck an. “Es sind die kleinen Dinge, die ich vermisse. Die Art, wie er mir ein Glas Wasser brachte, wenn wir spät am Abend nach Hause kamen. Wie er mir am nächsten Morgen einen Tee brachte, ohne dass ich ihn darum bitten musste. Vor allem fehlt er mir, wenn ich mitten in der Nacht aufwache und niemanden habe, mit dem ich über meine Träume reden kann. Ihm hat es nie etwas ausgemacht. Manchmal öffne ich in der Dunkelheit meine Augen und denke, er ist noch da.”

Ich weiß nicht so recht, was ich sagen soll. Krysia hat die Augen weit aufgerissen, und ich überlege, ob sie wohl zu weinen beginnt. “Du hast ihn sehr geliebt”, erkläre ich nach einer Weile.

Lächelnd schaut sie mich an. “Das tue ich immer noch. Es wird nie aufhören. Er ist mein bester Freund.” Minutenlang schweigt sie, und ich merke, dass sie ihren Gedanken nachhängt. “Es war ein langer Tag”, meint sie schließlich. “Du solltest auch zu Bett gehen.”

“Ja”, sage ich und steige müde die Treppe hinauf. Als ich das Bad betrete, fällt mein Blick in den Spiegel. Die Frau, die mir entgegenblickt, sieht erschöpft und fast ein wenig gramgebeugt aus. Sie hat graue Ringe unter den Augen, ihre Mundwinkel sind nach unten gezogen. “Wer bist du?”, frage ich laut. Sicher nicht Emma Bau, geborene Gerschmann, Tochter eines orthodoxen Bäckers und dessen Ehefrau. Emma war jemand anders. Ich erinnere mich nur noch undeutlich an sie, so wie an eine gute Freundin aus Kindertagen, die man nahezu vergessen hat.

Warum mag mich der Kommandant überhaupt? Diese Frage stelle ich mir, als ich wenig später die Schlafzimmertür hinter mir schließe und mich auf die Bettkante sinken lasse. Ich bin in dem Glauben aufgewachsen, absolut gewöhnlich auszusehen, weder hässlich noch ausgesucht schön. Jakub und mein Vater sagten zwar immer, ich sei sehr hübsch, aber das tat ich stets als eine Nettigkeit von Männern ab, die einen lieben. Ich bin auch nicht annähernd so auffällig wie die jungen Sekretärinnen, die jeden Tag geschminkt und in engen Röcken in der Burg zur Arbeit erscheinen, und mit der Frau des Kommandanten könnte ich es erst recht nicht aufnehmen. Vielleicht fühlt er sich zu mir hingezogen, weil ich seine Sprache beherrsche und er Heimweh verspürt. Aber eine solche Erklärung ist doch eher unwahrscheinlich. Er sieht mich auf eine sonderbare Art an, und wenn er mir zuhört, geschieht dies mit einer gewissen Faszination, die mir verrät, dass da mehr sein muss.

Plötzlich muss ich an Krysia denken. Obwohl wir uns oft unterhalten, redet sie nur selten über sich – bis zum heutigen Abend. Es war, als würde das makellose Bild, das ich von ihr habe, für ein paar Minuten Risse bekommen, durch die ich die Liebe und den Schmerz in ihrem Inneren sehen konnte. Ich muss über das nachdenken, was sie über Marcin gesagt hat. Ihr bester Freund. Ob ich das wohl auch von Jakub behaupten kann? Ich liebe ihn zutiefst, und trotz all meiner Ängste weiß ich, er empfindet genauso für mich. Doch als er fortging, kannten wir uns noch nicht lange. Alles war noch ungewohnt und neu, und es gibt so vieles, was wir bis heute nicht übereinander wissen. Es muss ein Leben dauern, um so zu empfinden wie Krysia und Marcin, sage ich mir erleichtert, als ich das Licht lösche.

Bis zum Ende der Woche sehe ich den Kommandanten nur selten. Seit seiner Rückkehr aus Berlin muss er eine Besprechung nach der anderen abhalten, während ich mit einer Fülle von Aufgaben eingedeckt werde. Am Freitagnachmittag mache ich einige Stunden früher Feierabend als üblich und beeile mich, nach Hause zu kommen, um mich für den Abend herzurichten. Łukasz sieht uns zu, wie Krysia mein Haar zu einem lockeren Knoten frisiert und mir hilft, Gesichtspuder und Lippenstift aufzulegen. Ich ziehe das dunkelblaue Kleid mit den kurzen Ärmeln an, das mir Krysia herausgelegt hat. “Ganz reizend”, urteilt sie, als ich im Ankleidezimmer vor dem bis zum Boden reichenden Spiegel stehe.

“Ich danke dir so sehr.” Ich drehe mich ein wenig zur Seite und bin wie gebannt von der Verwandlung, die ich durchgemacht habe. Das letzte Mal, dass ich mich so fein angezogen habe, war anlässlich der Abendgesellschaft nur wenige Wochen nach meiner Flucht aus dem Ghetto. Damals war ich noch blass und mager gewesen, doch durch Krysias gutes Essen, das ich jetzt schon über Monate hinweg genießen darf, haben mein Busen und meine Hüften wieder zu ihrer ursprünglichen vollen Form zurückgefunden. Würde ich mir all die Mühe doch bloß für einen erfreulicheren Anlass machen. Mit Schrecken denke ich an den bevorstehenden Abend, den ich für ein paar Augenblicke tatsächlich verdrängt habe.

Im selben Moment, in dem die Uhr in der Diele siebenmal schlägt, klingelt es an der Tür. Krysia nimmt Łukasz auf den Arm und geht zur Treppe. “Du wartest hier”, weist sie mich an, und ich betrachte mich noch eine Weile im Spiegel. Etwas Kurzärmeliges habe ich bis heute nur ein paar Mal getragen, daher bin ich nicht daran gewöhnt, meine blassen Arme und knochigen Ellbogen unbedeckt zu sehen. Ich werfe einen prüfenden Blick auf meine Hände. Erst vor einer Stunde hat Krysia mir gezeigt, wie man Fingernägel richtig feilt. Jetzt sind sie gleichmäßig rund und glatt und lassen meine Hände wirken, als würden sie einer anderen Frau gehören.

Ich höre, wie Krysia die Treppe hinuntergeht und die Haustür öffnet. Was sie und der Kommandant reden, kann ich nicht verstehen, ich nehme nur den Klang ihrer Stimmen wahr – sein Tonfall ist tief und höflich, sie klingt sanft und einladend. Ich nehme die kleine, kunstvoll geschliffene Glasflasche mit dem Rosenwasserparfüm, das Krysia mir geliehen hat, und drücke einmal auf den Zerstäuber. Ein kühler Nebel streicht über meinen Hals, dann steigt mir der zarte Blütenduft in die Nase. Ich stelle das Parfüm zurück, wappne mich mit einem abschließenden Blick in den Spiegel für das Unausweichliche, und gehe die Treppe hinunter.

“Guten Abend, Herr Kommandant.” Er dreht sich zu mir um, und ich sehe, wie seine Augen zu leuchten beginnen, als er mein verändertes Äußeres bemerkt. Ich erwarte, dass er mir in sanftem Tonfall erklärt, wie reizend ich aussehe, doch er schweigt. Erst als ich seinen hilflosen Gesichtsausdruck erkenne, wird mir klar, dass ich ihn sprachlos gemacht habe.

“Nun, Sie sollten sich auf den Weg machen”, beendet Krysia die betretene Stille. “Hier, nimm das noch mit.” Sie gibt mir einen dünnen grauen Mantel, den ich bei ihr noch nicht gesehen habe. “Es könnte nachher kühl werden.”

“Danke.” Ich küsse sie leicht auf die Wange, dann folge ich dem Kommandanten zur Haustür. Draußen wartet bereits Stanislaw und hält uns die Wagentür auf. Er nickt mir höflich zu, als wir uns nähern, und bietet mir seine Hand an, um mir beim Einsteigen zu helfen. Das alles geschieht mit einer Selbstverständlichkeit, als würde der Kommandant jeden Freitagabend mit einer seiner Untergebenen ins Konzert gehen.

Der Kommandant steigt auf der anderen Seite ein und setzt sich zu mir auf die Rückbank. Wir sitzen verkrampft da und sehen nach vorn, während Stanislaw zurück zur Hauptstraße fährt. “Dann ist Ihre Reise nach Berlin gut verlaufen?”, frage ich schließlich und bemühe mich um einen beiläufigen Tonfall.

“Ja, es ist sehr gut gelaufen.” Nach einer kurzen Pause dreht er den Kopf zu mir. “Anna, ich möchte offen zu Ihnen sein. Es waren nicht nur dienstliche Gründe, die mich nach Berlin führten.”

“Nicht?” Ich gebe mir Mühe, nicht zu neugierig oder zu überrascht zu klingen.

“Nein, es hatte auch mit meiner Frau Margot zu tun. Sie haben die Fotos gesehen”, erklärt er. Ich hebe den Kopf und sehe ihm in die Augen. “Sie müssen wissen, letzten Monat war ihr zweiter Todestag.” Ich merke, wie seine Stimme beinahe versagt.

Ich zögere mit einer Antwort, da ich nicht weiß, warum er mir das erzählt. Verzweifelt wünschte ich, er würde noch etwas sagen. “Das tut mir leid.”

Sein Blick wandert nach unten, dann zupft er einen Fussel von seiner Uniform. “Ich musste ihre Angelegenheiten regeln.”

“Das muss sehr schwierig gewesen sein”, sage ich verständnisvoll.

“Das war es tatsächlich”, räumt er ein. “Ich habe es eine Weile vor mir hergeschoben. Ich wollte nicht akzeptieren …” Er hält inne und sieht aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft. Plötzlich fährt der Wagen durch ein Schlagloch und schüttelt uns so heftig durch, dass ich gegen den Kommandanten falle und er mich festhalten muss. Sein Gesicht ist nur wenige Zentimeter von meinem entfernt, ich spüre seinen warmen Atem auf meiner Wange. Sekundenlang bewegt sich keiner von uns. “Alles in Ordnung?”, fragt er besorgt.

“Ja, danke.” Ich halte mich am Vordersitz fest, um mich wieder gerade hinzusetzen. Meine Wangen glühen. “Wo waren wir stehen geblieben?”

“Ich sprach davon, dass es Zeit war, den Nachlass meiner Frau zu regeln. Zeit, nach vorn zu schauen.” Er räuspert sich. “Natürlich habe ich auch an den Besprechungen teilgenommen. Aus dienstlicher Sicht war die Reise ein voller Erfolg.”

“Es freut mich, das zu hören”, gebe ich zurück. Seinem Tonfall entnehme ich, dass er nicht weiter über seine Frau reden möchte.

Ich sehe wieder nach vorn, und einige Minuten lang schweigen wir beide. Als wir uns dem Stadtzentrum nähern, holt der Kommandant eine Taschenuhr hervor. “Wir sind etwas zu früh”, bemerkt er. “Das Konzert beginnt erst um acht Uhr. Wir könnten uns am Marktplatz noch in ein Café setzen oder einen Spaziergang durch die Planty unternehmen.”

Ich zögere. Würde das Konzert um halb acht anfangen, wie ich es erwartet habe, könnten wir uns ohne weitere Unterhaltung direkt zu unseren Plätzen begeben. “E-ein Spaziergang wäre angenehm”, erwidere ich. Mir macht der Gedanke Angst, diesem Mann an einem Tisch gegenübersitzen und ihm in die Augen sehen zu müssen. Bei einem Spaziergang lässt sich das vermeiden. Außerdem muss ich dann nichts trinken, was es mir leichter macht, mein Verhalten zu kontrollieren.

“Einverstanden.” Er beugt sich vor und sagt etwas zu Stanislaw, der daraufhin an der Planty hält. Der Kommandant steigt aus und kommt um den Wagen herum, um mir die Tür zu öffnen. Seine Hand an meinem Rücken fühlt sich groß und warm an, während er mich zum Bürgersteig führt. “Wo entlang?”, will er wissen.

Mit dem Kopf deute ich nach links. Eigentlich ist der nach rechts verlaufende Weg viel schöner, da er an den alten Universitätsgebäuden entlangführt. Aber dort will ich nicht spazieren gehen, da ich zum einen fürchte, jemandem zu begegnen, der mich kennt, und der Weg zum anderen mit zu vielen Erinnerungen an Jakub verbunden ist.

Während wir nebeneinander hergehen, atme ich tief durch. Die warme Abendluft ist schwer vom süßen Duft des Geißblatts. Ich sehe nach oben, wo die Kronen der Ahornbäume zu beiden Seiten des Weges ein dichtes Laubdach bilden. Vereinzelt dringt noch ein sanfter Sonnenstrahl zwischen den Ästen hindurch. Aus dem Augenwinkel beobachte ich den Kommandanten, der so wie ich nach oben schaut und dabei leise summt. So entspannt wie in diesem Moment habe ich ihn in all den Monaten nicht erlebt.

Er wendet sich zu mir. “Es ist wunderschön hier, nicht wahr?”

“Ja”, erwidere ich rasch. Ich schaue nach vorn und merke, wie ich einmal mehr erröte.

“Es fehlt mir sehr, mich in der freien Natur aufzuhalten”, redet er weiter und streckt seine Arme in die Luft. “Als Margot und ich frisch verheiratet waren, unternahmen wir ausgedehnte Reisen in die Berge. Wir wanderten tagelang und übernachteten sogar unter freiem Himmel. Aber das war, bevor …” Seine Stimme wird leiser, und ich drehe mich zu ihm um. Der entspannte Ausdruck ist der vertraut verschlossenen Miene gewichen. In mir regt sich der Wunsch, irgendetwas zu sagen, das ihn wieder glücklich dreinschauen lässt.

“Ich wandere auch gern”, erwidere ich.

“Tatsächlich?”, fragt er überrascht.

“O ja.” In Wahrheit habe ich während meiner Kindheit nur selten die Stadt verlassen. “Unsere Eltern fuhren mit uns im Urlaub zu den Seen, wo wir wundervolle Wanderungen unternahmen”, kommt mir meine Lüge mühelos über die Lippen.

“Vielleicht …”, setzt der Kommandant an, doch dann bemerkt er ein Paar mittleren Alters, das ein Stück vor uns auf einer Parkbank sitzt. Vor den beiden hat sich ein großer Hund auf den Weg gelegt. Ohne ein weiteres Wort eilt der Kommandant auf das Paar zu. Verwirrt folge ich ihm und sehe, wie der Mann schützend einen Arm um die Frau legt und ihr etwas zuflüstert. Ein entsetzter Ausdruck huscht über sein Gesicht. Beide müssen fast zu Tode erschrecken, wie dieser große Mann in Nazi-Uniform auf sie zugestürmt kommt.

“Was für ein schönes Tier!”, ruft der Kommandant, als er das Paar erreicht. Er kniet nieder und beginnt den Hund zu streicheln. “Als ich klein war, hatte ich einen Hund, der ganz ähnlich aussah”, erzählt er, ohne aufzublicken, so sehr ist er damit beschäftigt, das Tier zwischen den Ohren zu kraulen. Mit einer solchen Begeisterung habe ich den Kommandanten bislang noch nie reden hören. “Sein Name war Max. Ein prachtvolles Tier.”

In dem Moment ertönt in der Ferne eine Glocke. “Herr Kommandant”, bemerke ich leise. “Es ist viertel vor acht. Wir sollten uns auf den Weg machen.”

“Ja, natürlich”, stimmt er mir zu, streichelt den Hund noch einmal, steht dann auf und klopft den Schmutz von seiner Hose. Wir wünschen dem sprachlosen Paar einen schönen Abend und gehen zur Philharmonie. Dutzende Menschen stehen vor dem großen Konzertgebäude, rauchen eine Zigarette oder unterhalten sich. Viele Männer, die eine deutsche Uniform tragen, werden von einer jungen Polin begleitet. Die Besatzer und ihre einheimischen Liebschaften. Wie sehr ich es hasse, nun auch diesem Klischee zu entsprechen, selbst wenn es in meinem Fall nur gespielt ist. Beim Kommandanten untergehakt, lasse ich mich die Stufen hinaufführen. Mehrere Uniformierte salutieren, als wir an ihnen vorbeigehen.

Drinnen muss ich mich erst einmal an die Umgebung gewöhnen. Zwar bin ich schon oft an der Philharmonie vorbeigekommen, doch noch nie habe ich einen Fuß in das Gebäude gesetzt. Die verschwenderische Pracht trifft mich völlig unvorbereitet. Das Foyer besitzt gigantische Dimensionen, Fußboden und Säulen sind aus feinstem Marmor, und der kristallene Kronleuchter hat in etwa die Ausmaße eines Automobils. Diese Schönheit wird allerdings ganz erheblich dadurch verunstaltet, dass man zwei riesige Hakenkreuzfahnen aufgehängt hat.

Kaum haben wir das Foyer betreten, wird abermals die Glocke geläutet. Von Krysia weiß ich, dass das bedeutet, dass man sich zu seinem Platz begeben soll. Wir gehen zu einer Treppe an der rechten Seite des Foyers, ein Platzanweiser bringt uns zu einer Privatloge nahe der Bühne. Bevor der Anweiser sich zurückzieht, entschuldigt er sich noch, dass wegen der momentanen Papierknappheit keine gedruckten Programme verteilt werden können. Er lässt uns wissen, dass das Orchester Wagner und Mozart spielen wird. Ein anderer hochrangiger deutscher Offizier und eine mir unbekannte korpulente Frau sitzen bereits in der Loge und nicken uns zu, als wir uns zu ihnen setzen.

Das Orchester beginnt sich einzuspielen, wobei mir auffällt, dass es aus weniger Musikern besteht, als ich erwartet habe. Während der Dirigent die Bühne betritt und die Musik einsetzt, erinnere ich mich an Krysias Bemerkung, das Orchester sei durch den Verlust seiner jüdischen Musiker schwer getroffen worden. Sie sind entweder geflohen oder wurden inhaftiert. Mit Tränen in den Augen berichtete sie mir von Viktor Lisznoff, einem Cellisten, den sie schon seit Jahrzehnten kannte. Ihn hat man ins Arbeitslager Plaszow gleich vor den Toren der Stadt gebracht, wo er tagsüber schwere körperliche Arbeit leisten und am Abend vor den Leitern des Lagers aufspielen musste.

Während das Orchester spielt, merke ich, wie ich langsam in eine Art meditative Trance versinke. Ich denke an meinen Vater, der nie die Gelegenheit bekommen hat, die Philharmonie zu besuchen. Er hätte es geliebt, hier zu sein und zuzuhören, wie ein Orchester die Musik zum Leben erweckt. Nicht ich sollte heute Abend hier sein, sondern er. Einmal hatte Jakub davon gesprochen, mit Vater ein Konzert zu besuchen, aber an ihn will ich jetzt nicht denken, wenn ich mich in der Begleitung eines anderen Mannes befinde.

Mir wird bewusst, dass ich den Kommandanten aus dem Augenwinkel beobachte. Du solltest ihn eigentlich hassen, ermahne ich mich sicher zum tausendsten Mal. Er ist ein Nazi, er und seinesgleichen tragen die Schuld an dem Leid, das über uns gekommen ist. Aber ich hasse ihn nicht. Ich kann ihn nicht hassen. Doch wenn es kein Hass ist, den ich für ihn empfinde, was ist es dann? Dankbarkeit? Bewunderung? Anziehung? Keines der Wörter, die mir durch den Kopf gehen, erscheint mir passend. Schließlich sage ich mir, dass er mir gleichgültig ist. Ich erledige nur die Arbeit, die mir aufgetragen wurde. Aber diese Schlussfolgerung widerstrebt mir fast noch mehr.

In der Pause mischen wir uns unter die Menge im Foyer. Der Kommandant lässt mich für einen Moment allein und kehrt mit zwei Gläsern Champagner zurück. Während wir unter dem Kronleuchter stehen, an unseren Gläsern nippen und die schier endlose Parade an wunderschönen Abendkleidern bewundern, fällt es mir schwer zu glauben, dass wir uns mitten im Krieg befinden.

“Gefällt Ihnen das Konzert?”, fragt der Kommandant.

“Ja”, antworte ich ehrlich. Zwar bin ich mit Musik aufgewachsen, aber nie zuvor habe ich ein Konzert erlebt. Was mich vor allem fasziniert, ist die Komplexität der Stücke, die wir bislang zu hören bekamen.

“Es ist ein gutes Programm”, meint der Kommandant und trinkt sein Glas aus. “Allerdings fand ich den zweiten Satz etwas zu langsam.” Was er weiter sagt, bekomme ich nicht mit, weil ich auf eine junge Frau mit wundervoll langem, lockigem Haar aufmerksam werde. Sie sieht mich nachdenklich an, so als würde sie versuchen, sich an mich zu erinnern. Von Krysia und Jakubs Eltern abgesehen, kenne ich niemanden, der ein Konzert besucht. Aber die Frau sieht mich weiter an und scheint noch angestrengter zu grübeln. Dann auf einmal legt sie eine Hand an ihre Wange, und bei dieser Geste wird meine Erinnerung geweckt. Es ist Eliana Szef, eine wohlhabende, christliche Studentin, die ich noch von der Universität her kenne. Ich sehe, wie ihr Verstand arbeitet: Ist das tatsächlich Emma Gerschmann? Und wenn ja, was macht eine Jüdin in der Philharmonie? Ich weiß, ihrer Verwirrung wird bald die Erkenntnis folgen, dass ich wirklich diejenige bin, für die sie mich hält. Nur noch ein paar Sekunden, dann wird sie sich ganz sicher sein.

“Herr Kommandant, ich muss mich kurz frisch machen”, sage ich rasch, als sich Eliana bereits in unsere Richtung bewegt.

“Ich werde hier auf Sie warten.” Da ertönt die Glocke und ruft uns zurück zu unseren Plätzen.

“Nein, gehen Sie schon rein.” Der Kommandant sieht mich verblüfft an. Vor Nervosität habe ich in einem überraschend scharfen Tonfall gesprochen. “Ich möchte nicht, dass Sie meinetwegen den ersten Satz verpassen.” Ich tätschele beschwichtigend seinen Arm. “In ein paar Minuten bin ich wieder bei Ihnen.”

Schon tauche ich in der Menge unter, wobei ich nur zwei oder drei Meter Vorsprung vor Eliana habe. So schnell es mir in dem langen Kleid möglich ist, haste ich die Marmortreppe hinab und stürme in den Toilettenraum. Vor dem Spiegel bleibe ich stehen und betrachte mich. Meine Gesichtszüge wirken reifer als damals, die Sommersonne hat mein Haar gebleicht, dennoch könnte Eliana mich wiedererkennen. Schnell verstecke ich mich in einer der Kabinen, als die Tür zu den Toiletten hinter mir aufgeht. Durch den Türspalt erspähe ich einen Lockenkopf. Eliana ist mir gefolgt, und jetzt wird sie warten, bis ich zum Vorschein komme.

Einige Minuten lang verharre ich in der Hoffnung, dass sie doch wieder geht, bis mir klar wird, dass ich keine andere Wahl habe, als ihr gegenüberzutreten. Wenn ich noch länger hier bleibe, wird sich der Kommandant fragen, wo ich bin. Ich atme tief durch, dann ziehe ich die Tür auf. Eliana dreht sich zu mir um und lächelt mich freundlich an. “Emma …” Als sie meine ausdruckslose Miene bemerkt, stutzt sie und hält inne. “Sind Sie nicht …? Oh, das tut mir leid”, sagt sie. “Ich habe Sie mit jemandem verwechselt.” Ich nicke nur, da ich mich nicht durch meine Stimme verraten will, gehe mit erhobenem Haupt an ihr vorbei und verlasse den Raum.

Draußen eile ich die Treppe hinauf, muss aber vor der Logentür eine kurze Pause einlegen und mich beruhigen. Als ich mich auf meinen Platz neben den Kommandanten setze, versuche ich, mein verräterisches Zittern zu unterdrücken.

Eliana Szef. Ausgerechnet sie! Seit Monaten bin ich jedem aus meiner Vergangenheit erfolgreich aus dem Weg gegangen. Dort unten im Waschraum musste ich mich zwingen, sie nicht zur Rede zu stellen. Wusste sie, dass man mir die Stelle in der Bibliothek gekündigt hat? Dass ich im Ghetto gelebt habe? Interessierte es sie überhaupt? Plötzlich erfasst mich eine unbändige Wut auf Eliana und auf alle anderen ihrer Art. Auf alle Menschen, die ganz normal ihr Leben leben und sogar ins Konzert gehen, während die Juden, die jahrelang ihre Kollegen und Nachbarn gewesen sind, wie Tiere behandelt werden. Ich hasse diese Leute. Eliana. Vor Wut bohre ich die Fingernägel in meine Handflächen. Ich hätte ihr jede Locke einzeln vom Kopf reißen sollen.

Ich zwinge mich zur Ruhe. Atme tief durch, ermahne ich mich und umklammere die Armlehnen meines Stuhls. Plötzlich spüre ich etwas Warmes auf meiner rechten Hand. Mein Herz rast, und mein ganzer Körper versteift sich. Der Kommandant hat meine Unruhe bemerkt und seine Hand auf meine gelegt, von wo er sie für die nächsten Minuten nicht wieder wegnimmt. Beide sehen wir weiter zum Orchester. Ich überlege, was hier gerade geschieht. Offensichtlich fühlt sich der Kommandant zu mir hingezogen, vielleicht ist es sogar mehr als nur Anziehung. Aber was immer er empfindet, seine Gefühle gelten nicht mir, sondern Anna. Und Anna gibt es nicht.

Eine Stunde später ist das Konzert vorüber, und wir durchqueren das Foyer in Richtung Ausgang. “Möchten Sie noch irgendwo eine Kleinigkeit essen?”, fragt mich der Kommandant, als er mir in den dünnen Mantel hilft.

Ich zögere. Mir ist bewusst, dass ich das Angebot annehmen sollte, weil die Chance besteht, dass er nach ein paar Gläsern etwas Wichtiges ausplaudert. Doch dieser Abend hat mich etwas zu sehr angestrengt, und ich glaube nicht, dass ich noch die Kraft für eine Unterhaltung bei einem Abendessen habe. “Das ist sehr nett von Ihnen, Herr Kommandant, aber ich muss Ihr Angebot leider ausschlagen. Es ist bereits spät, und Łukasz wird mich bei Sonnenaufgang schon wieder wecken.”

“Ich verstehe.” Er ist sichtlich enttäuscht. Wir gehen nach draußen, wo Stanislaw bereits mit dem Wagen auf uns wartet. Auf der Heimfahrt reden wir nur wenig. Während ich schweigend neben ihm sitze, wird mir auf einmal bewusst, dass ein Teil von mir diesen Abend genossen hat und das frühe Ende bedauert.

Stanislaw hält vor Krysias Haus, im ersten Stock brennt ein einzelnes Licht. Sie scheint auf mich zu warten. “Nochmals vielen Dank”, sage ich und wende mich in der Hoffnung auf einen schnellen Rückzug der Wagentür zu.

“Anna, warten Sie.” Widerstrebend sehe ich zu ihm. “Das hätte ich fast vergessen …” Verwundert beobachte ich, wie der Kommandant in seine Jackentasche greift und eine kleine rechteckige Schachtel zum Vorschein kommt, die er zwischen uns auf den Sitz legt. “Das habe ich Ihnen aus Berlin mitgebracht.”

“Herr Kommandant …”, setze ich an, bin aber zu überrascht, um weiterzureden. Er schiebt mir die Schachtel zu. Langsam greife ich danach und öffne sie. Der Inhalt macht mich sprachlos: eine zarte silberne Halskette mit einem hellblauen Edelstein daran. Ich nehme die Kette behutsam heraus und betrachte ungläubig den schönsten Schmuck, den ich je in den Händen hielt.

“Ein kleines Dankeschön für Ihren unermüdlichen Einsatz.” Er sieht mir nicht in die Augen, als er das sagt, und ich bin davon überzeugt, dass seine Erklärung eine Lüge ist. Für Malgorzata hat er ganz bestimmt kein solches Geschenk mitgebracht, und auch nichts Entsprechendes für Oberst Diedrichsen. “Kommen Sie, ich helfe Ihnen.” Er nimmt mir die Halskette aus der Hand, und ich drehe mich ein wenig zur Seite, damit er sie mir umlegen kann. Während er sich mit dem Verschluss abmüht, spüre ich seinen warmen Atem auf meiner Haut und die leichte Berührung seiner Finger am Hals.

“Danke”, murmele ich und drehe mich wieder zu ihm. Ich berühre den Stein, der nun auf dem Kreuz liegt, das ich bereits trage. Zusammen fühlen sich beide Ketten an wie eine schwere Schlinge. “Sie ist wunderschön, aber viel zu kostbar.”

“Unsinn, Sie sind diejenige, durch die diese Kette erst kostbar wird …” Er hält abrupt inne, offenbar aus Verlegenheit über seine eigenen Worten. Ich nicke nur. In meiner Kehle sitzt ein Kloß, der mich daran hindert, einen Ton herauszubringen. Wieder drehe ich mich vom Kommandanten weg, weil ich aussteigen will. “Nein, warten Sie”, sagt er, steigt auf seiner Seite aus und kommt um den Wagen herum. Er öffnet die Tür und hält mir den Arm hin, den ich nur widerwillig ergreife, dann lasse ich mir von ihm beim Aussteigen helfen. Als ich mich aufrichte, bin ich dem Kommandanten so nah, dass meine Nase fast seinen Wollmantel berührt.

Verlegen trete ich einen Schritt zurück. “Nochmals vielen Dank.”

“Es war mir ein Vergnügen”, erwidert er sanft. Er beugt sich zu mir vor, und ich gerate in Panik. Was hat er vor? Will er mir einen Gutenachtkuss geben? Bevor ich reagieren kann, hebt er meinen linken Arm an und zeigt auf den Ärmel meines Mantels. Der Riemen rund ums Handgelenk hat sich gelöst und hängt herab. “Einen Augenblick.”

Er schiebt den Riemen zurück durch die Schlaufe und knöpft ihn zu. Ich spüre seinen Atem auf meiner Stirn, keiner von uns spricht ein Wort.

“Gute Nacht”, sage ich und ziehe den Arm zurück. “Bis Montag.” Zügig gehe ich zur Tür, bevor er mir anbieten kann, mich dorthin zu begleiten.

Im Haus angekommen, lehne ich mich mit dem Rücken gegen die Tür und merke, wie mein Herz rast. Aus dem ersten Stock höre ich Musik von Chopin. Darum bemüht, einen gefassten Eindruck zu machen, gehe ich die Treppe hinauf. Krysia sitzt auf dem Sofa, das Grammofon läuft, sie liest ein Buch, auf dem Tisch neben ihr steht ein Glas Tee. “Wie ist es gelaufen?”

“Großartig.”

Mein sarkastischer Tonfall entgeht ihr nicht, und sie hebt den Kopf. “Geht es dir nicht gut? Du bist so rot im Gesicht …” Ich erwidere nichts, während ihr Blick auf die Halskette fällt. “Was ist denn das?”

“Dreimal darfst du raten”, gebe ich zurück.

“Er hat dir ein Geschenk gemacht?”

Ich nicke. “Aus Berlin mitgebracht.”

Ihre Augen werden größer. “Nicht zu fassen.”

“Und das ist nicht mal das Schlimmste.” Ich lasse mich neben Krysia aufs Sofa fallen und berichte von meiner Begegnung mit Eliana Szef.

“Das muss ja völlig nervenaufreibend gewesen sein”, sagt sie mitfühlend. “Aber das da macht mir weitaus mehr Sorgen.” Sie deutet auf den Edelstein an meiner Halskette. “Das ist ein Topas. Der ist sehr teuer. Was hat er gesagt, als er ihn dir gab?”

“Dass es ein Zeichen seiner Dankbarkeit ist.”

Sie nickt nachdenklich. “Hat er noch etwas Wichtiges gesagt?”

“Er sprach davon, dass seine Frau vor zwei Jahren starb und dass er sich in Berlin um ihren Nachlass gekümmert hat.” Ein merkwürdiger Ausdruck zeichnet sich auf Krysias Gesicht ab. “Was ist?”, frage ich.

“Nichts, gar nichts”, erwidert sie, doch es überzeugt mich nicht. Ihre Miene verrät mir, dass sie mir etwas verschweigt, doch ich frage nicht weiter nach. “Und was ist mit dir?”, will sie wissen.

Verständnislos lege ich den Kopf schräg. “Ich verstehe deine Frage nicht.”

“Was empfindest du bei diesem Werben des Kommandanten um dich?”

“Natürlich hasse ich es”, antworte ich viel zu schnell. “Ich meine, ich bin schließlich mit Jakub verheiratet.” Sie entgegnet nichts, und ich rutsche unbehaglich auf meinem Platz hin und her. “Ich vermute, ein Teil von mir fühlt sich geschmeichelt …”

“Ja, selbstverständlich. Der Kommandant ist ein gut aussehender Mann, zudem ist er mächtig.” Sie greift nach meiner Hand und hält sie fest. “Ich will nicht neugierig sein. Es ist nur eben so, dass du und der Kommandant … dass es zwischen euch eine gewisse gegenseitige Anziehung gibt.”

“Aber …”, will ich protestieren.

Krysia hebt ihre Hand. “Es ist schon in Ordnung, Anna. Ich weiß, du liebst meinen Neffen. Ich erwähne es auch nur, um dir zu sagen, dass es in Ordnung ist. Manchmal fühlen sich zwei Menschen ungewollt zueinander hingezogen. Und manchmal empfindet man für mehr als nur einen Menschen tiefe Gefühle. Aber es ist besser, sich diese Gefühle einzugestehen und Vorsicht walten zu lassen.”

Ich kann nur nicken. Ihre Worte verschlagen mir die Sprache.

“Aber egal”, fährt sie fort. “Ich erhielt heute eine Nachricht von Alek.”

“So?” Mein Abend im Konzert und die beunruhigende Unterhaltung sind sofort vergessen. “Was gibt es Neues?”

“Er muss mit dir sprechen. Du sollst dich zur üblichen Zeit am üblichen Ort mit ihm treffen.” Ich bin froh, wieder von Alek zu hören, aber es ist ungewöhnlich, dass er mich zu sich bestellt, zumal ich momentan für die Bewegung keinen Nutzen bringe. Was er wohl von mir will? Ich vermute, diesmal wird es etwas Schwierigeres sein als das Stehlen einiger Passierscheine. Ich spiele mit der Halskette und werfe Krysia einen Blick zu, der mein Unbehagen vermitteln soll, während ich mich frage, wie weit dieses Schauspiel noch gehen wird.