9. KAPITEL
Am nächsten Morgen wache ich früher auf als sonst und stelle fest, dass Krysia auf dem Sofa eingeschlafen ist, auf dem sie saß, als ich zu Bett ging. Ganz vorsichtig, um sie nicht zu wecken, nehme ich ihr die Stricknadeln aus der Hand und lege eine Decke über sie. Erst dann schleiche ich in die Küche, setze einen Tee auf und stelle zusammen, was ich für den Tag brauche. Dabei muss ich gegen den dringenden Wunsch ankämpfen, mich bereits in aller Frühe auf den Weg zur Arbeit zu machen. Ich darf wegen meiner Mission nicht übereifrig auftreten, ich darf nichts machen, das die Aufmerksamkeit auf mich lenkt.
Genau um acht Uhr treffe ich in der Burg ein. Der heutige Arbeitsablauf ist der gleiche wie an jedem Morgen. Ich setze mich an meinen Schreibtisch und ordne die Papiere, die über Nacht zugestellt wurden. Um genau viertel nach acht kommt der Kommandant ins Büro. Wenige Minuten darauf ruft er mich zu sich, gemeinsam gehen wir seinen Terminplan für den Tag durch und besprechen weitere Termine, die in Kürze anstehen. Ich lege ihm die Korrespondenz vor, um die er sich persönlich kümmern muss – Briefe von hochrangigen offiziellen Stellen oder Angelegenheiten, die mir nicht vertraut sind –, dann diktiert er mir die Antwortschreiben. Im Gegenzug überträgt er mir Aufgaben, die ich erledigen muss, teilt mir Termine mit, die ich im Kalender erfassen soll, und lässt mich wissen, welche Berichte er erwartet. Abhängig vom Umfang kann diese Besprechung zwischen fünfzehn Minuten und nahezu einer Stunde dauern. Inzwischen weiß ich, dass diese Routine für ihn höchste Priorität hat. Malgorzata darf in dieser Zeit weder Anrufe durchstellen noch Besucher zu ihm schicken, und eine Verlegung unserer Besprechung kommt für ihn nur infrage, wenn die Umstände es zwingend erfordern.
Heute fällt unsere Besprechung recht kurz aus. “Ich muss um neun Uhr drüben am Außenring sein”, sagt er knapp, als ich eintrete. Ich nicke bestätigend und nehme meinen gewohnten Platz auf dem Sofa nahe der Tür ein, wobei ich meinen Stift schreibbereit in der Hand halte. Der Kommandant räuspert sich und steht auf. “Schreiben Sie bitte folgende Eingabe an den Gouverneur …” Ich notiere die wenigen Sätze, die er mir diktiert. Während er redet, geht er im Zimmer auf und ab und fährt sich dabei immer wieder auf eine Weise durch sein kurz geschnittenes Haar, die auf mich wirkt, als hätte er es bis vor einer Weile noch länger getragen.
Mitten im Satz verstummt er abrupt und dreht sich um. Er sieht aus dem Fenster und wirkt abgelenkt, ja sogar verärgert. Sekundenlang frage ich mich, ob ich etwas verkehrt gemacht habe. Dabei muss ich an die Passierscheine denken. Es ist völlig unmöglich, dass er von meiner Absicht weiß, und trotzdem … Schließlich ertrage ich es nicht länger. “Herr Kommandant, stimmt etwas nicht?”
Er dreht sich zu mir um und sieht mich so verwirrt an, als hätte er mich völlig vergessen. Er zögert kurz. “Entschuldigen Sie, aber ich musste an ein Telegramm denken, das ich heute Morgen aus Berlin erhalten habe.”
Zumindest ist er nicht meinetwegen so aufgewühlt, was ich mit Erleichterung zur Kenntnis nehme. Aber das Telegramm aus Berlin … es könnte für den Widerstand wichtige Informationen enthalten. “Schlechte Neuigkeiten?”, frage ich, ohne zu interessiert zu klingen.
“Das weiß ich noch nicht. Man will, dass ich …” Wieder verstummt er mitten im Satz. Vermutlich ist ihm noch rechtzeitig bewusst geworden, dass er über diese Angelegenheit nicht mit mir sprechen darf. “Es ist nichts, worüber Sie sich Gedanken machen müssten.” Er kehrt zurück an seinen Schreibtisch und setzt sich. “Befassen wir uns wieder mit der Eingabe.”
Wenig später ist das Diktat fertig, und ich sehe auf. “Wäre das alles?”
“Ja.” Er hält einen Stoß Papiere hoch. “Wenn Sie die hier mitnehmen könnten …”
Ich gehe zu ihm, aus dem Augenwinkel fällt mir das gerahmte Foto auf seinem Schreibtisch auf. Es zeigt den Kommandanten und eine jüngere, dunkelhaarige Frau. Wer sie wohl ist? Als ich mich ihm nähere, fallen mir seine Augen auf, die jetzt mehr blau als grau zu sein scheinen. Meine Knie zittern. Ich greife nach den Papieren, unsere Hände berühren sich dabei kurz – so wie auf der Abendgesellschaft.
Als ich die Papiere habe, mache ich einen Satz nach hinten. Ich spüre, dass meine Ohren förmlich glühen. “D-danke, Herr Kommandant”, bringe ich heraus und will zur Tür gehen.
“Anna, warten Sie …”
Ich drehe mich zu ihm um. “Ja?”
Ich kann ihm ansehen, dass er versucht, den roten Faden in seinem Gedankengang wieder aufzugreifen. “Haben Sie sich hier gut eingelebt?”, will er von mir wissen. Seine Frage kommt so überraschend, dass mir zuerst gar keine Erwiderung einfallen will. “Ich meine, bekommen Sie von Malgorzata und den anderen alles, was Sie benötigen, um Ihre Arbeit zu erledigen?”
“O ja, Herr Kommandant. Jeder hier ist sehr hilfsbereit.”
“Gut. Und die Anfahrt zum Büro?”
Ratlos lege ich den Kopf schräg.
“Ich will damit sagen: Ist der Weg nicht zu weit und mühselig für Sie? Ich möchte nicht, dass das der Fall ist. Ich könnte meinen Fahrer …” Er sieht mich hilflos an, seine Stimme wird leiser, der Satz bleibt unvollendet. Auf einmal wird mir bewusst, dass er in meiner Gegenwart nervös ist.
“An der Fahrt hierher habe ich nichts auszusetzen, Herr Kommandant”, erwidere ich betont sachlich, während mein Herz wie wild schlägt.
“Gut”, sagt er wieder. Unsere Blicke lösen sich noch immer nicht voneinander, obwohl das Gespräch beendet ist. Bis auf das Ticken der Standuhr ist kein Geräusch zu hören.
Plötzlich dringt von der Tür her ein leises Kratzen an mein Ohr, vor Schreck wirbele ich herum. Oberst Diedrichsen steht in der Türöffnung, eine Aktentasche in der Hand. “Herr Kommandant, die Besprechung …”, beginnt er.
“Ja, natürlich.” Der Kommandant räuspert sich, steht auf und geht wortlos an mir vorbei, um dem Oberst aus dem Büro zu folgen.
Als ich allein bin, begebe ich mich in mein Vorzimmer zurück. Noch immer zittern meine Hände leicht, so wie nach jeder Begegnung mit dem Kommandanten. Doch seine Reaktion … es ist das erste Mal, seit ich für ihn arbeite, dass er um Worte verlegen ist. Ich frage mich, ob … Du hast keine Zeit für solche Gedanken, ermahne ich mich. Reiß dich zusammen! Ich höre tiefe Stimmen und schwere Schritte im Korridor. Es handelt sich um weitere Offiziere, die auf dem Weg zur gleichen Besprechung sind wie der Kommandant. Als die Unruhe sich gelegt hat und mehrere Minuten verstrichen sind, verlasse ich mein Büro und gehe mit Notizblock und einem kleinen Stoß Papiere in der Hand in den Empfangsbereich.
“Malgorzata, ich muss ein paar Dinge im Haus erledigen.” Ich versuche, meine Stimme so wie immer klingen zu lassen.
“Ich kann behilflich se…”, bietet sie sich sofort an, doch ich hebe meine Hand, um sie zu stoppen.
“Danke, aber das ist nicht nötig.” Dabei verfalle ich in den bestimmenden Tonfall, der bei ihr die beste Wirkung erzielt. Als ich ihre bestürzte Miene sehe, rede ich etwas sanfter weiter: “Es ist bloß so, dass ich den ganzen Tag in diesem Zimmer verbringe, da tut es mir gut, wenn ich mir zwischendurch auch mal die Beine vertreten kann.” Sie zuckt beiläufig mit den Schultern und widmet sich wieder ihrer Arbeit.
Oberst Kirchs Büro befindet sich auf der gleichen Etage wie meines, liegt aber im hinteren Teil der Burg. Ich gehe durch den langen Korridor und nicke den Leuten zu, die mir entgegenkommen. Als ich mich dem Büro nähere, bekomme ich einen Schreck: Seine Sekretärin sitzt noch an ihrem Platz. Aleks Information muss falsch sein. Oder die Frau hat sich entschlossen, diese Woche nicht zum Friseur zu gehen. Ich bemühe mich, nicht in Panik zu geraten, und gehe an dem Büro vorbei. Im Flur überlege ich, was ich nun machen soll, und entscheide mich für einen zweiten Anlauf. Als ich in entgegengesetzter Richtung abermals das Büro passiere, macht die Sekretärin noch immer keine Anstalten, ihren Platz zu verlassen. Länger will ich mich nicht in diesem Korridor aufhalten, da ich fürchte, jemand könnte auf mich aufmerksam werden. Also beschließe ich, erst meine eigentliche Besorgung zu erledigen – ich hielt es für das Beste, meine Mission mit einer tatsächlichen Erledigung zu verbinden, falls jemand auf die Idee kommen sollte, nach meinem Verbleib zu fragen. So begebe ich mich nun ein Stockwerk tiefer in die Materialverwaltung und bitte den Mann hinter dem Schreibtisch, dass der Papiervorrat im Büro des Kommandanten aufgefüllt wird. Falls er sich wundert, warum ich dafür persönlich vorbeikomme, lässt er sich das zumindest nicht anmerken. Vielmehr nimmt er den ausgefüllten Bestellbogen entgegen und sagt weiter nichts. Das ist das Eigenartige bei den Deutschen, überlege ich auf meinem Rückweg. Hitler könnte persönlich vorbeikommen, um sich einen Radiergummi zu holen, und niemand würde sich daran stören, solange er das richtige Formular vorlegt.
Ich gehe die Treppe wieder hinauf und biege nach links ab, um zu Kirchs Büro zu gelangen. Als ich näher komme, sehe ich mich unauffällig um, damit ich Gewissheit habe, dass mich niemand beobachtet.
Die Sekretärin ist weg, wie ich feststelle, als ich einen Blick durch die Glasscheibe in der Tür werfe. Jetzt kann ich nur hoffen, dass sie ihren Friseurtermin wahrnimmt und nicht schon nach kurzer Zeit zurückkehrt. Ich öffne die Tür und trete ein. Mit einer Hand taste ich die Unterseite des Schreibtischs ab, und wie von Alek beschrieben, ist dort mit Klebeband ein Schlüssel festgemacht worden. Da ich fürchte, jemand könnte mich durch die Glasscheibe sehen, nehme ich den Schlüssel schnell an mich, öffne die Tür zu Kirchs Büro und ziehe mich in den Raum zurück.
Dort sehe ich mich in aller Eile um. Kirch steht in der Rangordnung weit unter dem Kommandanten, und das zeigt sich auch an seinem Büro. Er verfügt nicht über ein zusätzliches Vorzimmer, und der Raum ist höchstens ein Drittel so groß wie der des Kommandanten. Die Fenster bieten keinen atemberaubenden Ausblick. Ein großer Metalltresor nimmt die ganze rechte Ecke des Büros für sich ein. Ich gehe hin und sage im Flüsterton die auswendig gelernte Zahlenfolge auf: 74-39-19. Vor dem Tresor knie ich mich hin, dann drehe ich mit zitternden Händen das Kombinationsschloss nach rechts, nach links und wieder nach rechts. Gebannt halte ich den Atem an und ziehe. Nichts geschieht. Kalter Schweiß tritt mir auf die Stirn. Die Kombination muss geändert worden sein, ich kann den Tresor nicht öffnen. Versuch es noch einmal, fordert mich eine ruhige Stimme auf, die nicht meine eigene sein kann. Langsam drehe ich das Schloss noch einmal und achte peinlich genau darauf, dass die richtige Zahl eingestellt ist. Bitte, schicke ich ein Stoßgebet zum Himmel, und ziehe. Diesmal geht die Tür auf.
Im Tresor liegen drei Stapel mit Blanko-Passierscheinen. Jeweils aus der Mitte des Stapels ein paar nehmen, hat Alek gesagt. Ich nehme den ersten Stapel an mich und ziehe zwei Scheine heraus. Gerade will ich den Stapel zurücklegen, da höre ich ein Geräusch aus dem Korridor. Ich zucke zusammen, stoße mit dem Arm gegen die Tresortür, und im nächsten Moment rutschen mir die Scheine aus der Hand. Mir stockt der Atem, als ich sehe, wie sie sich vor mir auf dem Boden verteilen. Hastig sammele ich sie auf und versuche mit zitternden Händen, sie in die Reihenfolge ihrer Nummerierung zu bringen. Aber das dauert zu lange, denn jeden Augenblick könnte die Sekretärin zurückkommen. Die letzten noch auf dem Boden liegenden Scheine packe ich kurzentschlossen unter den Stapel und kann nur hoffen, dass niemand etwas bemerken wird. Ich sehe zu den beiden anderen Stapeln, bei denen ich mich auch aus der Mitte bedienen sollte. Aber ich nehme jeweils nur den obersten Schein. Das muss genügen.
Leise schließe ich den Tresor und drehe das Kombinationsschloss zurück in die ursprüngliche Position. Ich stehe auf und will zur Tür gehen, doch auf halber Strecke halte ich inne. In meiner Eile hätte ich fast vergessen, meinen eigenen Dienstausweis wieder an mich zu nehmen, der auf dem Aktenschrank liegt. Ebenso gut könnte ich eine Visitenkarte hinterlassen, damit jeder weiß, dass ich hier war.
Ich laufe zurück, wobei ich fast noch ins Stolpern gerate, nehme meinen Ausweis an mich und sehe mich aufmerksam um, ob ich möglicherweise noch etwas vergessen habe, das mich verraten könnte. Aber mir fällt nichts auf, also begebe ich mich ins Nebenzimmer, wo ich den Schlüssel wieder unter den Schreibtisch klebe. Dann verlasse ich das Büro und atme tief durch.
Malgorzata sieht nur flüchtig auf, als ich ins Empfangszimmer des Kommandanten zurückkehre. “Haben Sie alles erledigt?”
“Ja, danke.” Ich gehe an ihr vorbei und bemühe mich, mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen. Zurück in meinem Büro verstecke ich die Passierscheine in einer Zeitung, die in meiner Tasche liegt. Manchmal werden die Mitarbeiter der Wawelburg beim Verlassen des Gebäudes durchsucht. Mir ist das noch nicht widerfahren, was vermutlich mit meiner Position zu tun hat. Dennoch will ich kein unnötiges Risiko eingehen. Für den Rest des Tages ist es mir einfach nicht möglich, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Die Zeiger der Uhr über meinem Schreibtisch scheinen stillzustehen. Als es dann endlich fünf Uhr ist, bin ich froh, gehen zu können. Auch nachdem ich die Wachen passiert habe, versuche ich mich ganz normal zu verhalten.
Meine Absicht war es, die Passierscheine so schnell wie möglich weiterzugeben, doch am nächsten Tag beginnt es zu regnen. Bis dahin war der Sommer so trocken gewesen, dass man fast von einer Dürre sprechen konnte. Das Gras auf der Blonia, dem weitläufigen Feld gleich vor der Stadt, ist so ausgetrocknet und zum Teil sogar verbrannt, dass die Bauern ihre Pferde dort nicht länger grasen lassen können. Der Pegelstand der Wisła ist so tief gesunken, dass Schiffe nicht mehr fahren dürfen, da sie auf Grund laufen könnten. Die Deutschen haben das Wasser rationiert, doch die Einwohner von Kraków, die wohl mehr Angst vor Hunger als vor Inhaftierung haben, bewässern ihre Gärten heimlich in der Nacht, damit das so dringend benötigte Gemüse nicht verdorrt.
An dem Tag, an dem ich die Scheine übergeben will, scheint es, dass der Himmel den Anblick des vom Krieg verwüsteten Polen nicht länger erträgt und seinen Tränen freien Lauf lässt. Der Regen prasselt nur so auf das Land herab. Es regnet auch am nächsten und am übernächsten Tag, bis sich in den Straßen der Morast zu türmen beginnt und die Kanalisation die Wassermengen nicht mehr fassen kann. Dreckiges Abwasser wird auf die Straßen gespült, meine Fahrt zur Arbeit und zurück entwickelt sich zu einer wahren Mühsal. Kein Schirm und kein Regenmantel können die Nässe fernhalten, und so komme ich sowohl im Büro als auch zu Hause jedes Mal bis auf die Haut durchnässt an. An meinen Schuhen klebt zentimeterdick Schlamm. Solche Verhältnisse machen natürlich ein Treffen mit Alek in einem Straßencafé unmöglich. Ich wage es nicht, die Passierscheine jeden Tag mitzunehmen, daher verstecke ich sie unter meiner Matratze. Jede Nacht liege ich wach und bin mir dieser Papiere nur allzu gut bewusst.
Als ich an einem Tag meine durchnässten Strümpfe in der Toilette nahe meinem Büro auswringe und das schlechte Wetter bestimmt schon zum hundertsten Mal verfluche, überkommt mich auf einmal ein erdrückendes Schamgefühl. Ich verbringe jeden Tag in einem bequemen Büro, nachts liege ich in einem warmen Bett. Und wo ist Jakub? Ich stelle mir vor, wie er in diesem Sturm irgendwo im Wald schläft, ohne ein Dach über dem Kopf.
Nach fast zwei Wochen lässt der Regen schließlich nach, und die Sonne kommt wieder durch. “Das Wetter ist umgeschlagen”, sagt Krysia am Dienstagmorgen, ohne von der Schüssel aufzublicken, in der sie Kartoffeln stampft. “Heute Nachmittag wird gutes Wetter für das Café.”
Ich schlucke den Bissen Brot herunter, auf dem ich herumgekaut habe. “Ja”, gebe ich nur zurück. Seit meiner letzten Begegnung mit Alek habe ich mit Krysia nicht mehr über meine Mission gesprochen.
Sie stellt die Schüssel zur Seite und verlässt wortlos die Küche, trägt aber noch ihre Schürze. Minuten später kehrt sie zurück. “Kannst du nach der Arbeit etwas für mich erledigen?”, fragt sie mich.
“Natürlich”, antworte ich sofort, ohne nachzufragen, um was es denn geht. Krysia bittet mich so selten um einen Gefallen, da ist es eine Selbstverständlichkeit, etwas für sie zu erledigen.
“Gut. Hier.” Sie greift in die Tasche ihrer Schürze und holt ein kleines, in Stoff gewickeltes Päckchen heraus. Ich nehme es entgegen und wundere mich, wie schwer es in meiner Hand liegt. Meine Finger ertasten Münzen, und dem Gewicht nach zu urteilen, dürften sie aus echtem Silber sein. “Gib das Alek”, sagt sie. “Sag ihm, er soll davon etwas Nützliches kaufen.” Verblüfft nicke ich. Ich wusste, dass Krysia mit der Widerstandsbewegung zu tun hat, mir war allerdings nicht klar, dass sie auch an deren Finanzierung beteiligt ist. Eigentlich sollte mich das gar nicht überraschen.
Der Tag im Büro scheint unendlich langsam zu vergehen, während ich dem Treffen mit Alek entgegenfiebere. Dann ist es schließlich fünf Uhr, und ich mache mich auf den Weg zum Marktplatz. Die Passierscheine und die Münzen sind in meiner Tasche versteckt. Ich versuche, ganz natürlich zu gehen, denn wenn man mich erwischt, bin ich so gut wie tot.
Als ich den Marktplatz überquere und mich dem Café nähere, warten nur Alek und Marek auf mich. Marta ist nicht bei ihnen, und ich überlege, ob sie mir wohl wegen unseres Gesprächs über Jakub aus dem Weg geht. Vielleicht, überlege ich mit einem Anflug von Eifersucht, ist sie ja auch mit ihm zusammen auf irgendeiner Mission. “Die hätten wir vor Tagen nötig gehabt”, herrscht Marek mich an und reißt mir die Tasche aus der Hand, noch bevor ich mich hingesetzt habe. Ich sehe, wie Alek über meine Schulter schaut. Er ist besorgt, Mareks schroffe Reaktion könnte andere auf uns aufmerksam gemacht haben.
Ich reagiere verblüfft auf seine Grobheit. “Der Regen war ja wohl kaum meine Schuld”, entgegne ich und nehme Platz.
“Natürlich nicht. Du hast das großartig gemacht.” Aleks tiefe Stimme wirkt beruhigend. “Es ist nur so, dass es eine akcja gab, und wir hatten gehofft, zuvor noch einige Leute mit diesen Papieren herauszuholen.”
“Eine akcja”, wiederhole ich im Flüsterton. Eine Aktion. Als ich noch im Ghetto war, hörte ich Gerüchte aus anderen Städten. Die Deutschen würden das Ghetto stürmen und allen Bewohnern befehlen, ihre Wohnungen zu verlassen und sich auf den Straßen zu versammeln. Hunderte von Juden würden willkürlich ausgewählt, abgeführt und in ein Arbeitslager gebracht. Wer sich der Deportation widersetzt, den erschießt man auf der Stelle. “Ich habe davon im Büro des Kommandanten nichts mitbekommen.”
“Das ist kein Wunder”, erwidert Alek. “Solche Dinge werden über das Staatssekretariat am Außenring abgewickelt. Die wenigen Papiere, die an den Kommandanten geschickt wurden, waren höchstwahrscheinlich als vertraulich gekennzeichnet.”
“Oh.”
“Wenn du das nächste Mal in Kirchs Büro gehst …”, beginnt Marek, aber Alek unterbricht ihn, da er meine nachdenkliche Miene bemerkt.
“Was macht dir Sorgen?”, fragt er mich.
Ich zögere einen Moment lang. “Alek, bitte, meine Eltern sind noch im Ghetto.” Mir kommt der Gedanke, dass das nach der Aktion vielleicht gar nicht mehr der Fall ist. “Könnt ihr nicht etwas für sie tun?”
Alek atmet tief durch, ehe er antwortet. “Du musst verstehen …”
“Wir alle hatten Eltern”, wirft Marek mitleidlos ein. Ich erinnere mich, gehört zu haben, dass sein Vater zu Beginn des Krieges in Nowy Sacz erschossen wurde.
Alek nimmt meine Hand. “Emma”, sagt er mit sanfter Stimme. Emma. Mein wahrer Name erscheint mir längst so fremd. “Die Situation im Ghetto hat sich sehr verändert, seit du dort gewesen bist. Alle Lücken in den Mauern sind geschlossen worden, und alles wird schwer bewacht. Heraus kommt man nur mit einem Transitschein, einer Arbeitskarte oder einem Botenausweis. Darum war es so wichtig, dass du uns diese Blanko-Passierscheine besorgst.”
“Können meine Eltern nicht zwei von diesen Scheinen bekommen?”, will ich wissen und staune über meine Kühnheit.
“Es ist so”, erklärt Alek widerstrebend. “Nachdem du aus dem Ghetto gebracht wurdest, bat mich Jakub, von Zeit zu Zeit nach deinen Eltern zu sehen. Ich habe … nun, Emma, deine Mutter ist krank.”
“Krank?” Vor Schreck werde ich lauter. “Was ist denn mit ihr?”
“Schhht”, macht er. “Sie hat eine von diesen Krankheiten, die sich im Ghetto in Windeseile verbreiten. Ich weiß nicht, ob es Typhus ist.” Ich muss an Martas Mutter denken. “Oder eine schwere Grippe. Aber sie hat hohes Fieber, das einfach nicht sinken will. Außerdem ist sie bettlägerig. Darum können wir ihr keine Arbeitskarte ausstellen. Selbst wenn sie gehen könnte, wirkt sie nicht kräftig genug, um als Arbeiterin eingesetzt zu werden. Die Nazis würden den Trick sofort durchschauen, und dann würde sie ein noch viel schlimmeres Schicksal erwarten.”
Ich antworte nicht, da ich überlege, ob ich um Hilfe für meinen Vater bitten soll, doch ich weiß, er würde niemals ohne meine Mutter das Ghetto verlassen. “Dann sollte ich zu ihnen zurückkehren”, sage ich laut.
“Zurück?”, platzt Marek so laut heraus, dass das Paar am Tisch hinter uns zu uns herübersieht. Erst als sie sich wieder ihrem Gespräch widmen, redet er weiter, nun deutlich leiser, doch immer noch voller Wut. “Hast du irgendeine Vorstellung davon, wie schrecklich es da zugeht? Und wie schwierig es war, dich überhaupt erst rauszuholen?”
“Es ist unmöglich”, stimmt Alek ihm zu. Niedergeschlagen sinke ich auf meinem Platz zusammen.
“Und wenn sich ihr Zustand bessert?”, hake ich nach.
“Wenn es ihr wieder besser geht, werden wir tun, was wir können. Das ist das einzige Versprechen, das ich dir geben kann. Im Ghetto herrschen verheerende Verhältnisse, und es wird von Tag zu Tag schlimmer. Darum ist unsere Arbeit so extrem wichtig, und darum musst du weiterhin tun, worum wir dich bitten. Nur so kann all unseren Familien geholfen werden. Verstehst du das?” Ich ziehe meine Hand zurück und schweige. “Nächste Woche um die gleiche Zeit?”
Ich nicke nur und stehe auf. Er hat kein Wort über Jakub gesagt, und dabei würde ich so gern wissen, ob er in Sicherheit ist und ob es irgendeine Nachricht von ihm gibt. Doch ich sehe den beiden an, dass sie nichts weiter sagen werden. Das Gespräch ist beendet, ich kann gehen. “Ja”, antworte ich schließlich.
“Gut.” Alek erhebt sich und bleibt stehen, bis ich gegangen bin.
Als ich die gegenüberliegende Seite des Marktplatzes erreiche, kann ich meine Tränen nicht länger zurückhalten. Ich denke an Mama und sehe wieder vor mir, wie sie und mein Vater in der Nacht schlafend im Bett lagen, als ich aus dem Ghetto entkam. Ich hätte sie niemals verlassen dürfen. Jetzt ist meine Mutter krank, und meine Eltern könnten jede Minute deportiert werden. Ich kann nichts für sie tun, und der Widerstand will ihnen nicht helfen. Welchen Sinn haben diese Spionagespiele, wenn wir nicht einmal unseren eigenen Familien helfen können? Zum ersten Mal zweifle ich an denen, in die ich so großes Vertrauen gesetzt habe: Alek, Krysia und sogar Jakub.
Einen Moment lang denke ich an den Kommandanten, stelle mir seine Augen vor und die nette Art, wie er mich ansieht. Vielleicht kann er mir helfen … Das ist ja lächerlich, ermahne ich mich. Dieser Mann ist ein Nazi. Wenn er ahnt, dass ich auch nur einen Tropfen jüdisches Blut in meinen Adern habe, dann wird sich seine Zuneigung in Abscheu verwandeln. Im nächsten Augenblick werde ich tot sein, genauso wie meine ganze Familie und jeder, der mir geholfen hat. Alle Menschen, die ich liebe.
Mit dem Handrücken wische ich meine Tränen weg und schäme mich, dass ich auch nur eine Sekunde lang vergessen habe, wer der Kommandant ist.
Durch die Gartenpforte stürme ich auf Krysias Grundstück. Sie ist mit Łukasz dabei, Unkraut zu jäten. Beim Blick in meine geröteten Augen legt sie ihren kleinen Spaten zur Seite, nimmt den Jungen auf den Arm und führt mich ins Haus. “Was ist los?”, fragt sie, als sie die Tür hinter mir schließt. Während wir nach oben gehen, erzähle ich ihr von meiner Unterhaltung mit Alek und von der Erkrankung meiner Mutter. “Oh, du Ärmste”, sagt sie und schließt mich in ihre Arme, um mich sanft zu wiegen. Łukasz ist zwischen uns eingezwängt und schaut fragend hin und her.
“Alek sagt, sie können nichts tun”, füge ich hinzu.
“Ich bin mir sicher, dass er helfen würde, wenn es nur möglich wäre”, antwortet sie ruhig. So wie Marta vertraut auch Krysia bedingungslos den Mitgliedern des Widerstands und ihren Entscheidungen. Sie bringt mich zum Sofa. “Du musst es einmal von seiner Seite aus betrachten. Für den Widerstand gestalten sich die Dinge sehr schwierig, und Alek und die anderen müssen das Wohl von tausenden Menschen abwägen. Sie können nicht alles aufs Spiel setzen, um eine einzelne Person zu retten.”
Ich denke an Martas Mutter. Marta ist schon viel länger für den Widerstand tätig, aber als ihre Mutter krank wurde, hat man ihr nicht geholfen. “Ich hätte sie nie verlassen sollen”, schluchze ich.
“Ist das dein Ernst?” Krysia hebt mein Kinn an. “Emma, hör mir zu. Das ist nicht deine Schuld. Du konntest nicht verhindern, dass deine Mutter krank wird. Wärst du dort gewesen, hättest du dich vielleicht auch noch angesteckt.” Ich erwidere nichts, und sie fügt hinzu: “Ich werde sehen, was ich tun kann.” Überrascht sehe ich sie an. Was sie tun kann? Wenn Alek mit seinen Kontakten, mit seinen Verbindungen ins Ghetto meinen Eltern nicht helfen kann, was will dann Krysia ausrichten?
Einige Tage später kommt sie abends zu mir, als ich Łukasz bade, und bleibt in der Tür zum Badezimmer stehen. “Pankiewicz ist ein alter Freund von mir”, erklärt sie. Ich halte inne. Fast hätte ich den mutigen Apotheker vergessen, der kein Jude ist, aber trotzdem beschlossen hat, seine Apotheke in Podgorze weiter zu betreiben und den Menschen zu helfen. “Er hat heute Morgen nach deiner Mutter gesehen. Sie ist sehr krank, und seine Medikamentenvorräte sind nur noch spärlich. Aber er wird wieder nach ihr sehen und sich nach Kräften um sie kümmern.”
“Oh, ich danke dir so sehr!” Ich schlinge meine Arme um ihren Hals. “Danke, danke!” Pankiewicz kann vielleicht nicht viel bewirken, aber wenigstens gibt es jemanden, der helfen will.
“Dank!”, versucht Łukasz meine Worte nachzusprechen, gleichzeitig tobt er ausgelassen herum und genießt sichtlich die übermütige Stimmung. Krysia und ich lösen uns voneinander, drehen uns zu dem Jungen um und können es kaum fassen. Seit man Łukasz herbrachte, ist dies das erste Mal, dass er ein Wort gesagt hat.
Zwanzig Minuten später trockne ich den Jungen ab, der immer noch vor sich hin plappert. Es ist ein nicht enden wollender Schwall aus sinnlosen Worten und Silben, die sich über Monate hinweg in ihm angestaut haben müssen. Während ich ihm den Schlafanzug anziehe, muss ich wieder an meine Mutter denken. Meine Hoffnung beginnt zu schwinden, und ein unangenehmes Gefühl nagt hartnäckig an mir. Krysias Nachforschungen und Pankiewicz’s Fürsorge sind wohlmeinend, aber sie sind nichts angesichts der Hungers, der Krankheiten und der Verzweiflung, denen meine Eltern ausgesetzt sind – ganz zu schweigen davon, dass jederzeit eine weitere Aktion durchgeführt werden könnte. Ich verbanne diese Gedanken aus meinem Kopf. Wem das Wasser bis zum Hals steht, der greift nach jedem Strohhalm – und versucht zu ignorieren, dass dieser Strohhalm in Wahrheit viel zu dünn ist, um in der starken Strömung Halt zu bieten.