16. KAPITEL

Krysias Warnung klingt immer noch in meinen Ohren, als ich mich am nächsten Morgen auf den Weg ins Büro mache. Sei vorsichtig. Aber es kommt auf jede Sekunde an. Der Widerstand braucht alle Informationen, über die der Kommandant verfügt. Und wenn meine Identität wegen eines Informanten in Gefahr ist, bleibt mir kaum noch Zeit zum Handeln. Wann werde ich die nächste Gelegenheit bekommen, mich im Arbeitszimmer des Kommandanten umzusehen? Unser Treffen am Samstagabend war spontan erfolgt, und wir haben uns bislang auf kein weiteres Rendezvous geeinigt. Während ich mich meiner Arbeit widme, überlege ich fieberhaft, wie ich wieder in seine Wohnung gelange.

Der Kommandant nimmt den ganzen Tag über an Besprechungen teil, und ich sehe ihn erst um kurz vor fünf, als er mich in sein Büro ruft. “Hier”, sagt er in geschäftsmäßigem Ton und überreicht mir einen großen Stapel Akten und Papiere, ohne mich dabei anzusehen. Ihm ist nichts von den intimen Stunden anzumerken, die wir miteinander verbracht haben. Einen Moment lang fürchte ich, er könnte von meiner wahren Identität erfahren haben oder zumindest etwas ahnen. Aber dann denke ich an den liebevollen Ausdruck in seinen Augen, als ich in seinem Bett lag. Ich weiß, so schnell wird sich daran nichts ändern können. Vermutlich ist er nur zu sehr in seine Arbeit vertieft.

Während er sich weiter seinen Papieren widmet, warte ich neben dem Schreibtisch und hoffe, dass er gleich seine nächste Einladung ausspricht. “Das wäre dann alles”, murmelt er nur, als hätte er vergessen, dass ich neben ihm stehe.

Er will mich nicht wieder einladen, erkenne ich mit Schrecken. Zwar gehe ich zur Tür, doch dann bleibe ich stehen. Mir bleibt kaum noch Zeit, also muss ich den ersten Schritt wagen. Ich drehe mich zum Schreibtisch um und setze zaghaft an: “Herr Kommandant …”

Er sieht auf. “Ja, Anna, was gibt es?” Seine Stimme klingt freundlich, aber ich nehme einen ungeduldigen Unterton wahr.

“Wegen vorletzter Nacht …” Ich komme näher und werde noch etwas leiser.

“Ja?” Er macht einen überraschten Eindruck. Im Büro haben wir nur selten unsere Affäre zum Thema gemacht, und von mir aus habe ich sie bislang noch nie angesprochen. Ich frage mich, ob er misstrauisch wird, wenn ich zu viel sage.

Ich entschließe mich, weiterzureden. “Das war eine sehr schöne Nacht”, bringe ich heraus.

“Da kann ich nur zustimmen”, entgegnet er lächelnd. “Ich bin sehr froh, dass du dich endlich zum Bleiben durchringen konntest.” Er berührt meinen Unterarm, was sich wie ein Stromschlag durch meinen Körper fortsetzt.

“Ich weiß, es ist vielleicht etwas kühn von mir”, rede ich weiter. “Aber das Orchester spielt heute Abend ein gutes Programm, und da hatte ich überlegt …” Ich lasse den Satz unvollendet und senke den Blick.

“Ich würde liebend gern mit dir ins Konzert gehen, Anna”, erklärt er mit ernster Miene. “Ich fühle mich geschmeichelt, dass du mich fragst. Aber heute muss ich zu einem offiziellen Abendessen, und morgen früh stehen den ganzen Tag Besprechungen in Warszawa an. Vielleicht am Wochenende?”

“Ja, natürlich.” Ich bemühe mich, in ruhigem Tonfall zu sprechen. Wie dumm von mir, nicht erst einen Blick auf seine Termine zu werfen. “Das verstehe ich.”

“Aber ich werde die ganze Zeit an dich denken”, verspricht er mir und hebt meine Hand an seine Lippen. Mit einem Kopfnicken trage ich den Aktenstapel ins Vorzimmer.

Als ich mich am Abend auf den Heimweg mache, überschlagen sich meine Gedanken. Mein Versuch, in die Wohnung des Kommandanten zu gelangen, ist fehlgeschlagen. Bin ich zu forsch gewesen? Ahnte er etwas? Nein, er schien ehrlich erfreut, dass ich ihn gefragt habe. Etwas anderes macht mir indes zu schaffen: ein Gefühl der Zurückweisung. Es überrascht mich, wie sehr es mich verletzt, dass der Kommandant meine Einladung nicht angenommen hat. Sei doch nicht albern, ermahne ich mich. Ihn von mir aus anzusprechen, gehörte lediglich zu meiner Mission. Aber auch wenn ich mir das vor Augen halte, verwirren mich meine Gefühle. Es ist das Gleiche wie mit der Baronin, die mich eifersüchtig werden ließ. Warum reagiere ich nur so auf ihn? Ich muss meine Empfindungen aus dem Spiel lassen. Außerdem hatte er einen guten Grund für seine Weigerung: das Abendessen und die Reise nach Warszawa.

Plötzlich stutze ich. Der Kommandant ist morgen den ganzen Tag in Warszawa. Er ist den ganzen Tag über nicht in der Stadt! Vielleicht kann ich mir in dieser Zeit Zutritt zu seiner Wohnung verschaffen und mich in Ruhe umsehen. Das wäre die ideale Gelegenheit, auch wenn ich einen guten Vorwand benötige, warum ich die Wohnung betreten muss. Ich könnte wieder vorgeben, dass ich Papiere vorbeibringen will, so wie ich es beim ersten Mal getan habe. Doch dazu gibt es keine Notwendigkeit, wenn der Kommandant nicht zu Hause ist. Nein, ich muss einen Weg finden, in die Wohnung einzudringen, ohne dass jemand davon erfährt. Auf einmal fällt mir der Schlüssel ein. Irgendwo in seinem Büro befindet sich ein Ersatzschlüssel für die Wohnung. Ich habe einmal gesehen, wie Diedrichsen einem Boten den Schlüssel mitgab, damit der dem Kommandanten wichtige Dokumente auf den heimischen Schreibtisch legte. Ich muss diesen Schlüssel unbedingt finden.

Ich steige aus dem Bus aus und gehe die Dorfstraße entlang, während ich weiter an meinem Plan feile. Ich werde früh im Büro sein und den Schlüssel an mich nehmen, noch bevor Malgorzata eintrifft. In der Mittagspause werde ich mich dann zu seiner Wohnung begeben. Diedrichsen begleitet den Kommandanten nach Warszawa, sodass er das Fehlen des Schlüssels nicht bemerken kann. Am Gartentor bleibe ich kurz stehen. Ich fühle mich wie erschlagen von der Tragweite dessen, was ich plane. Diesmal werde ich nicht bloß nachts durch die Wohnung des Kommandanten schleichen, sondern am helllichten Tag dort einbrechen. Wenn ich erwischt oder auch nur beobachtet werde … mir schaudert. Doch mir bleibt keine andere Wahl.

Am nächsten Morgen bin ich um viertel vor acht im Büro. Ich habe meine Ankunft so geplant, dass ich auf jeden Fall vor Malgorzata eintreffe, aber wiederum nicht so früh, dass die Wachen am Tor misstrauisch werden könnten. Die Flure sind noch so gut wie menschenleer, nur ein paar Offiziere sind unterwegs, die von mir jedoch keinerlei Notiz nehmen. Ich öffne die Tür zum Empfangsbereich unseres Büros, dann die zum Vorzimmer. Am Schreibtisch bleibe ich kurz stehen, um meine Tasche abzulegen und nach ein paar Unterlagen zu greifen, damit es so aussieht, als hätte ich einen Grund, mich im Büro des Kommandanten aufzuhalten. Ich eile in sein Zimmer und begebe mich direkt zum Schreibtisch, wo ich die oberste Schublade aufziehe und zwischen den Büroutensilien nach dem Schlüssel suche. Ich kann ihn aber nicht finden und gerate in Panik. Ich suche weiter hinten in der Schublade, und dann auf einmal umfassen meine Finger etwas Metallenes. Mit einem erleichterten Seufzer ziehe ich den Schlüssel hervor.

Plötzlich höre ich, wie die Tür zwischen dem Empfangsbereich und meinem Zimmer knarrt, und zucke reflexartig zusammen. Malgorzata ist eingetroffen, was ich an ihren schweren, schleppenden Schritten erkenne. Sofort schließe ich die Schublade und verstecke den Schlüssel in dem Papierstapel, im gleichen Moment geht die Tür zum Büro auf. “Oh, Anna, Sie sind’s”, sagt Malgorzata unüberhörbar enttäuscht.

“Wen haben Sie denn erwartet?” Als sie darauf nichts erwidert, trage ich mein Alibi vor, das ich mir für diese Situation zurechtgelegt habe. “Ich dachte mir, ich fange heute etwas früher an, wo der Kommandant nicht in der Stadt ist. Es gibt einiges an Korrespondenz zu erledigen, und über Mittag will ich noch ein paar Besorgungen machen.”

“Aha, gut”, erwidert sie in sachlichem Tonfall. “Kommen Sie, ich helfe Ihnen dabei.” Sie macht einen Schritt auf mich zu und zeigt auf den Stoß Papiere, die ich im Arm halte.

“N-nein, vielen Dank”, stammele ich und drücke die Papiere fester an mich. Ich kann mir allzu lebhaft vorstellen, wie sie versucht, den Stoß an sich zu nehmen und wir beide zusehen, wie der Schlüssel zu Boden fällt. “Der Kommandant bat mich, diese Post persönlich zu erledigen.” Ich sehe, wie sie auf meine Behauptung hin eine enttäuschte Miene macht. Augenblicklich regen sich bei mir Schuldgefühle. Malgorzata weiß auch so, dass sie in den Augen des Kommandanten nichts weiter ist als eine kleine Sekretärin, die er nicht ins Vertrauen zieht. “Es wäre allerdings schön, wenn Sie heute einen Teil der Ablage übernehmen könnten”, biete ich sogleich an.

“Ja, gern.” Sie lächelt und strafft die Schultern. Als sie das Büro verlässt, kommt mir nicht zum ersten Mal der Gedanke, dass sie nur das Gefühl haben will, gebraucht zu werden.

Um Mittag nehme ich meine Handtasche und verlasse das Büro. “Ich bin jetzt für einige Besorgungen weg”, erkläre ich Malgorzata freundlich.

Sie nickt. “Ich halte die Stellung und gehe erst in die Pause, wenn Sie zurück sind. Es könnte ja sein, dass der Kommandant oder Oberst Diedrichsen aus Warszawa anrufen.”

“Eine gute Idee.” Ich wusste, sie würde das vorschlagen. Ich vermute, sie träumt davon, dass der Kommandant in einer wichtigen Angelegenheit anruft, während ich nicht da bin, damit sie ihren großen Auftritt bekommt und mich in der Folge vielleicht ersetzt. In diesem Fall ist ihr Eifer sogar hilfreich, weil ich weiß, dass sie nicht gleichzeitig Anrufe entgegennehmen und mir nachspionieren kann. “Ich bin bald wieder zurück.”

So schnell wie eben möglich, ohne dabei zu viel Aufmerksamkeit zu erregen, begebe ich mich von der Burg zum Marktplatz und kaufe am Obststand ein paar Äpfel, damit ich bei meiner Rückkehr auch tatsächlich Besorgungen vorweisen kann. Nachdem ich mich davon überzeugt habe, dass mich niemand verfolgt, gehe ich auf einem Umweg zum Haus, in dem der Kommandant wohnt. Im Treppenhaus kommt mir niemand entgegen. Meine Hände zittern vor Aufregung so heftig, dass ich kaum den Schlüssel ins Schloss stecken kann. Ich halte kurz inne. In die Wohnung des Kommandanten einzudringen, ist das Gefährlichste, was ich bislang gemacht habe. Insgeheim hoffe ich, den falschen Schlüssel erwischt zu haben, damit ich mich unverrichteter Dinge zurückziehen kann. Aber der Schlüssel gleitet mühelos ins Schloss.

Ich schlüpfe in die Wohnung und drücke die Tür leise hinter mir zu. Drinnen sehe ich mich kurz um und gehe dann zielstrebig Richtung Arbeitszimmer. Fast erwarte ich, dass mir der Kommandant aus dem Zimmer entgegenkommt und eine Erklärung verlangt, was ich hier zu suchen habe. Doch es ist niemand da. Mein Blick fällt auf den niedrigen Wohnzimmertisch, auf dem sich alte Zeitungen und benutzte Gläser stapeln. Nicht zum ersten Mal denke ich, dass er eine gute Haushälterin gebrauchen könnte. Allerdings würde er wohl niemandem genug vertrauen, um ihn in seine Wohnung zu lassen. Vielleicht könnte ich ihm ja helfen, indem … ich schüttele energisch den Kopf. Ich habe keine Zeit für solch alberne Gedanken. Das müssen meine Nerven sein, eine andere Erklärung gibt es nicht. Ich hole tief Luft und betrete das Arbeitszimmer. Am Schreibtisch angekommen, will ich die Schublade aufziehen, doch … sie bewegt sich nicht. Sie ist abgeschlossen! Mir wird übel. Warum sollte er ausgerechnet jetzt seinen Schreibtisch abschließen? Vielleicht ist das eine Falle, vielleicht stürmt gleich die Gestapo herein und nimmt mich fest. Raus hier!, schreit mich eine Stimme in meinem Kopf an. Gib auf und verschwinde, ehe es zu spät ist!

Doch dann denke ich an meine Eltern drüben im Ghetto. Ich muss sie retten. Sie sind der Grund für mein Handeln, dafür, dass ich mich entehrt und aus meiner Ehe eine Farce gemacht habe. Plötzlich überkommt mich ein Gefühl großer Erschöpfung.

Nein, ich muss diese Schublade öffnen – nur wie? Ich könnte sie wohl aufbrechen, aber das steht natürlich nicht zur Debatte. Selbst wenn mir das gelingen sollte, würde der Kommandant wissen, dass jemand in seiner Wohnung war. Ich suche auf dem Schreibtisch nach etwas, womit ich das Schloss öffnen kann, und entdecke eine Büroklammer. Ich biege sie auseinander und schiebe ein Ende ins Schloss, stoße jedoch auf keinen Widerstand. Noch ein Versuch, aber wieder nichts.

Mein Atem geht schwerer, und ich merke, wie mir Schweißtropfen in den Nacken laufen. Das ist unmöglich. Ich sollte einfach wieder gehen, überlege ich. Dann jedoch schüttele ich energisch den Kopf. Ich werde das schon hinbekommen. Beim nächsten Versuch findet die Büroklammer einen Widerstand, den ich zur Seite wegdrücken kann. Gebannt ziehe ich am Griff, und tatsächlich geht die Schublade auf. Ich fasse unter den Stapel Papiere und überlege für Sekunden, ob ich mir das Geheimfach vielleicht nur eingebildet habe, weil ich etwas finden wollte. Doch da ist der Spalt im Boden. Langsam hebe ich die Holzplatte hoch, und im Fach darunter entdecke ich Papiere mit einem mir fremden Briefkopf, die vom 2. November datiert, also erst wenige Tage alt sind. Ich ziehe die Dokumente aus dem Geheimfach und überfliege sie. Etliche militärische Begriffe sind in den Text eingestreut, die ich nicht verstehe. Dafür taucht immer wieder das Wort Juden auf. Mir stockt der Atem. Das sind die Papiere, die Alek braucht.

Ich lese weiter, obwohl ich die Wohnung schnellstens verlassen sollte. Das Ghetto soll aufgelöst werden, lese ich da, die Juden will man wegbringen. Mein Magen verkrampft sich bei diesen Zeilen. In dem Schreiben ist von einer veränderten Vorgehensweise die Rede: Im Gegensatz zu den Juden, die man bislang aus dem Ghetto verschleppt hat, soll künftig niemand mehr ins Arbeitslager Plaszow gebracht werden, sondern direkt nach Auschwitz und Belzec. Der Bericht besagt, dass bereits das Gelände vorbereitet worden ist, auf dem die neuen Baracken entstehen sollen.

Ich lese nicht weiter, sondern wende meinen Blick von den Papieren ab. Meine Hände zittern. Man will meine Eltern in eines der Lager schicken. Denk nicht darüber nach, sage ich mir, weil ich weiß, dass ich dann wie gelähmt sein werde. Ich lese den Text ein zweites Mal, um mir die wichtigsten Punkte zu merken, doch mir wird schnell klar, dass ich mir so viele Details gar nicht merken kann. Außerdem sind Daten und Namen aufgeführt, die mir nichts sagen, die aber von Bedeutung sein könnten. Unschlüssig stehe ich da. Eigentlich wollte ich die Dokumente nur durchlesen und den Inhalt mündlich an Alek weitergeben. Nur darum hatte er mich gebeten. Doch wenn ich diese Schreiben sehe, weiß ich, dass das nicht genügt. Ich werde sie mitnehmen müssen.

Oder zumindest eine Kopie. Als ich die Papiere hochhalte, sehe ich, dass sie mit Durchschlag geschrieben worden sind. Das zweite, dünnere Blatt löst sich vom Original. Kann ich es wagen, den Durchschlag mitzunehmen? Die Chance, dass dem Kommandanten das Fehlen des Durchschlags auffällt, ist gering, aber wenn ich mit diesem Dokument erwischt werde, wird mich das mein Leben kosten. Dennoch ist die Gelegenheit zu günstig, um sie ungenutzt zu lassen. Das Dokument selbst wird für Alek viel wertvoller sein als alles, was ich davon auswendig lernen kann. Vorsichtig löse ich von jedem der fünf Blätter den Durchschlag, dann lege ich die Originale zurück ins Geheimfach und schließe die Schublade. Als ich zur Uhr sehe, fällt mir auf, dass ich vor fast einer Stunde in die Pause gegangen bin. Malgorzata wird misstrauisch werden, wenn ich nicht bald zurückkehre. Ich falte die Durchschläge zweimal und schiebe sie in den Ausschnitt meiner Bluse. Nach einem letzten prüfenden Blick verlasse ich den Raum exakt so, wie ich ihn vorgefunden habe. Ich durchquere schnell das Wohnzimmer und sage mir erleichtert, dass ich es geschafft habe, während ich die Tür hinter mir zuziehe und abschließe.

“Dzień dobry, Fräulein Anna”, höre ich auf einmal eine Männerstimme hinter mir. Vor Angst werde ich ganz starr. Man hat mich erwischt, ich habe versagt. Langsam drehe ich mich um und sehe … Stanislaw, den Fahrer des Kommandanten. In einer Hand hält er einen Beutel mit Lebensmitteln.

Ich versuche durchzuatmen. “Dzień dobry, Stanislaw”, bringe ich heraus. “Sind Sie nicht nach Warszawa …”

Er schüttelt den Kopf. “Im Norden wird mit Schnee gerechnet. Der Herr Kommandant hielt es für besser, mit dem Zug nach Warszawa zu fahren. Dazu entschloss er sich erst heute Morgen.”

“Oh.” Ich weiß, dass Stanislaw manchmal in die Wohnung kommt, wenn der Kommandant länger arbeiten muss und es etwas für ihn zu erledigen gibt. Aber mir wäre nie in den Sinn gekommen, dass er auch heute hier auftauchen könnte. Betreten schweigen wir beide. “Ich … ich musste nur ein paar Unterlagen herbringen, die der Kommandant benötigt, wenn er heute Abend zurückkehrt”, sage ich schließlich.

Er nickt und erwidert: “Natürlich.” Seine ausdruckslose Miene lässt nicht erkennen, ob er mir glaubt. Plötzlich legt er den Kopf schräg und sieht auf meinen Oberkörper. Ich blicke nach unten und sehe, dass die Durchschläge aus meiner Bluse hervorlugen.

“Oh …” Ich hebe eine Hand an die Brust. Stanislaw hat die Papiere gesehen, die ich mitgenommen habe. Hektisch suche ich nach einer Erklärung. Würde es wenigstens regnen, könnte ich behaupten, ich hatte diese Unterlagen nur unter meine Bluse gesteckt, damit sie nicht nass werden. Mir will keine Ausrede einfallen, sodass ich mich letztlich geschlagen gebe. “Ich brauche diese Papiere”, bringe ich hilflos heraus.

Stanislaw sieht mich lange schweigend an. Ich frage mich, ob er überlegt, was er tun soll, doch plötzlich lächelt er flüchtig. “Natürlich”, wiederholt er und schiebt die Durchschläge so unter meine Bluse, dass sie nicht mehr zu sehen sind. Ohne ein weiteres Wort geht er mit den Lebensmitteln an mir vorbei in die Wohnung.

Verblüfft sehe ich ihm nach. Er lässt mich davonkommen? Mir war nie der Gedanke gekommen, dass der Fahrer des Kommandanten etwas gegen die Deutschen haben könnte. Er ist ein Pole, und doch … Ich will gar nicht länger darüber nachdenken, sondern überprüfe, ob die Papiere nun wirklich sicher versteckt sind, dann mache ich mich auf den Rückweg ins Büro.