8. KAPITEL

Als die Standuhr im Büro des Kommandanten fünfmal schlägt, nehme ich meine Sachen und gehe aus dem Vorzimmer in den Empfangsbereich. “Ich mache dann Feierabend”, sage ich zu Malgorzata, die mit einer weiteren ihrer Tabellen beschäftigt ist.

“Auf Wiedersehen.” Sie sieht nicht von ihrer Arbeit auf, woraufhin ich kopfschüttelnd hinausgehe und mich frage, wie jemand so viel Energie in ein Projekt stecken kann, das niemanden sonst interessiert.

Die Sonne steht noch hoch über den Türmen der Wawelkathedrale, während ich das Gelände verlasse. Anstatt so wie üblich direkt zum Abfahrtspunkt des Omnibusses zu gehen, biege ich in die ulica Grodzka ein, die zur Stadtmitte führt. Heute wurde mir mein Lohn ausgezahlt, sodass ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder selbst verdientes Geld in der Hand halte. Ich möchte etwas Schönes für Łukasz kaufen, vielleicht auch etwas für Krysia.

Es ist Montag, und heute arbeite ich bereits die dritte Woche für den Kommandanten. Ich kann es kaum fassen, wie schnell die Zeit vergangen ist. Die ersten Tage waren entsetzlich gewesen, meine Nerven machten mir so sehr zu schaffen, dass ich jedes Mal zusammenzuckte, wenn die Tür zu meinem Büro aufging. Meine Hände zitterten so sehr, dass ich auf der Schreibmaschine kaum eine Taste traf. Am Abend kehrte ich aschfahl und völlig erschlagen nach Chelm zurück. “Du musst lernen, Ruhe zu bewahren”, hatte mich Krysia freundlich ermahnt. “Sonst wirst du davon noch krank.” Ganz abgesehen davon, dass ich mich verraten werde, ergänzte ich im Geist. Malgorzata hatte mich in der ersten Woche wiederholt darauf angesprochen, wie blass ich aussähe.

Schließlich hatte ich mich gezwungen, ruhiger zu werden, tief durchgeatmet und an die schönen Zeiten mit Jakub und meiner Familie gedacht. Inzwischen spielen mir meine Nerven nicht mehr ganz so übel mit, und ich beginne nicht zu zittern, wenn ich am Morgen zur Burg hinaufgehe. Aber es gibt einige Dinge, an die ich mich niemals gewöhnen werde. Immer noch meide ich den Blick auf die endlose Parade aus Hakenkreuzfahnen, die die Gänge der Burg säumen. Ich verlasse mein Büro nach Möglichkeit nur ein- oder zweimal am Tag, wenn ich zur Toilette oder in die Pause gehe. Ich fürchte mich vor der Begegnung mit anderen Angestellten, weil ich von ihnen unausweichlich mit einem begeisterten “Heil Hitler!” begrüßt werde. Und wenn es doch jemand zu mir sagt, muss ich ebenfalls die rechte Hand ausstrecken. Dann murmele ich etwas, das in den Ohren meines Gegenübers nach dem Hitlergruß klingt, aber in Wahrheit beliebiges Zeug ist. Mir fallen immer neue Variationen ein, manchmal sogar Schimpfworte, die mir noch vor einem Jahr niemals über die Lippen gekommen wären.

Jeden Tag um die Mittagszeit nehme ich mein Essenspaket und setze mich auf eine Bank am Ufer. Die einstündige Pause verbringe ich damit, eine Zeitung zu lesen, die ich mir im Büro ausgeborgt habe, oder einfach nur aufs Wasser zu schauen, wie es unter der Eisenbahnbrücke hindurchfließt. Lange ist es her, dass ich unbeschwert an der Wisła sitzen konnte. Dieses einfache Vergnügen hatte ich für selbstverständlich gehalten – als ich in meiner Kindheit noch am Ufer spielte ebenso wie zu der Zeit, als ich mit Jakub hier spazieren ging. Nun sitze ich wieder hier, doch diesmal ist mir sehr deutlich bewusst, dass es mir eigentlich nicht zusteht. Mein Platz ist im Ghetto, denke ich und schaue zum gegenüberliegenden Flussufer, wo meine Familie und meine Nachbarn gefangen gehalten werden. Während sie dort festsitzen, kann ich jeden Mittag hier am Wasser verbringen und frisches Brot und einen Apfel genießen. Oft sehe ich übers Wasser in Richtung Podgorze und träume davon, wie ich mich davonstehle und meinen Eltern Essen ins Ghetto bringe.

Obwohl ich in der Pause lieber alleine wäre, gesellen sich oft einige Sekretärinnen aus den anderen Büros zu mir – junge Polinnen, denen es offenbar egal ist, dass sie für die Nazis arbeiten. Sie sind nur froh, eine relativ sichere und angesehene Stellung zu bekleiden, die ihnen in diesen schlechten Zeiten ein festes Einkommen garantiert. “Gib nicht ihnen die Schuld”, höre ich meinen Vater das sagen, was er schon über die Juden geäußert hat, die im Ghetto für Ordnung sorgen. “Dies ist eine Zeit der Verzweiflung, und die Menschen tun alles, um zu überleben.” Trotzdem empfinde ich Verachtung für diese jungen Frauen, die sich wie Schulmädchen nur über Kleidung, Filme und Männer unterhalten. Sie sind völlig begeistert von den deutschen Offizieren, vor allem von meinem Vorgesetzten Kommandant Richwalder. Unablässig stellen sie mir Fragen, um mir etwas über ihn zu entlocken. Sie wollen wissen, ob er verheiratet ist, ob er eine Freundin hat, woher seine Narben stammen. “Ich weiß es nicht”, erwidere ich jedes Mal und versuche, es in einem bedauernden, nicht in einem wütenden Tonfall zu sagen. “Er ist ein sehr verschwiegener Mann.”

Ich weiß, sie glauben mir nicht, und sie mögen mich auch nicht. Sie halten mich für eine Zugezogene, ich bin keine von ihnen. So wie Malgorzata beneiden sie mich um meinen Status, und sie lehnen die Art ab, wie ich aus dem Nichts aufgetaucht bin, um für einen der ranghöchsten deutschen Offiziere in Polen zu arbeiten. Sie fühlen sich übergangen, und einige von ihnen glauben sogar an eine Affäre zwischen dem Kommandanten und mir als Grund für meine Anstellung. “Die Freundin des Kommandanten”, hörte ich eine der Frauen in meiner ersten Arbeitswoche einer anderen zuflüstern. Oft frage ich mich, ob vielleicht Malgorzata diejenige ist, die solchen Tratsch über mich verbreitet. Aber ich hätte nichts davon, mir Feinde zu machen, also unterhalte ich mich weiter jeden Tag in der Pause und tue so, als würde ich nichts bemerken.

Manchmal, wenn ich mit den anderen dasitze und ihren geistlosen Gesprächen lausche, möchte ich aufspringen und sie anschreien: “Wisst ihr denn nicht, dass es da drüben ein schreckliches Ghetto gibt? Ein Ghetto, in dem Menschen leiden und sterben, die ein Leben lang eure Nachbarn waren?” Natürlich verkneife ich mir solche Bemerkungen und komme auf nichts zu sprechen, was einen Hinweis auf meine Identität geben könnte. In Gesellschaft muss ich immer wieder an die Möglichkeit denken, jederzeit enttarnt zu werden. Mein Verstand sagt mir, dass das eher unwahrscheinlich ist. Meine Papiere sind in Ordnung, und niemand hier weiß etwas über mein früheres Leben. Solange mir nicht versehentlich ein jiddisches Wort rausrutscht oder ich jemandem begegne, den ich von früher kenne, ist meine Tarnung perfekt.

Am Ende der ulica Grodzka in der Nähe des Marktplatzes bleibe ich vor einem kleinen Spielwarengeschäft stehen. Etwas für Łukasz, denke ich, während ich mir die Eisenbahnen und Puppen im Schaufenster ansehe. Als ich das Geschäft betrete, wird mir bewusst, dass ich gar nicht genau weiß, was ihm gefällt. Er ist immer so still und nimmt alles dankbar an. Wenn eine von uns ihm einen Kochtopf gibt, dann betrachtet er ihn wie ein wunderschönes Geschenk und spielt stundenlang damit. Ich sehe mich um, aber die Auswahl ist recht klein, und ich will ihm keine Spielzeugsoldaten kaufen. Da ich nicht zu spät nach Hause möchte, entscheide ich mich schließlich für Bauklötze und ein Holzpferd.

Als ich mit meinen Einkäufen das Geschäft verlasse und die Straße überqueren will, spüre ich ein Kribbeln im Nacken und weiß sofort, ich werde beobachtet. Zwar werfe ich einen verstohlenen Blick über die Schulter, doch ich kann in der Menge, die jetzt nach Feierabend unterwegs ist, niemanden entdecken, der sich auffällig oder verdächtig verhält. Ich gehe weiter und mache mich auf den Weg zur Omnibushaltestelle.

An der Ecke ist ein Obststand aufgebaut. Meine Hand spielt mit den letzten Münzen in meiner Tasche. Ich sollte etwas von dem Geld sparen, doch ich möchte Krysia auch etwas mitbringen, um ihr meine Dankbarkeit für all das zu zeigen, was sie für mich getan hat. Während ich noch die Auslage prüfe, stellt sich eine kleine Frau so dicht hinter mich, dass ich ihren warmen Atem im Genick spüre. “Die dunklen sind am saftigsten”, sagt sie laut genug, damit der Verkäufer sie hört.

Einen Moment lang stutze ich. Die Stimme ist mir vertraut, doch ich kann sie nicht zuordnen. Mir ist klar, dass ich auf die Bemerkung eingehen soll. “Ja, aber die hellen sind dafür süßer.”

“Mitkommen”, flüstert die Fremde mir leise zu. Erst als wir uns ein Stück weit von dem Stand entfernt haben, sehe ich sie mir genauer an. Marta! Dabei erkenne ich sie nur an ihrer dicken Brille und ihren strahlenden Augen. Ihr dunkles Haar ist geglättet und aufgehellt worden, und die blaue Bluse und das Kopftuch lassen sie wie eine polnische Bäuerin erscheinen. Außerdem wirkt sie viel reifer, da ihre pummelige mädchenhafte Figur den schlanken Kurven einer jungen Frau gewichen ist. Seit unserer letzten Begegnung vor einigen Monaten hat sie sich sehr verändert.

“Marta, was machst du …?”

“Schhht!” Anstatt zu antworten, fasst sie spielerisch meine Hand, als wären wir zwei kleine Mädchen, die einen Spaziergang unternehmen. “Komm mit”, flüstert sie.

Während ich ihr folge, überschlagen sich meine Gedanken. Seit meiner Flucht aus dem Ghetto habe ich Marta nicht mehr gesehen, und es gibt unzählige Fragen, die ich ihr stellen möchte. Wie ist sie aus dem Ghetto gekommen? Wie hat sie mich gefunden? Ich beiße mir auf die Zunge, da ich weiß, wie gefährlich es ist, sich auf offener Straße zu unterhalten. “Wie bist du …?”, flüstere ich ihr schließlich zu, da ich es nicht länger aushalte.

“Halt den Kopf gerade”, wispert sie mir lächelnd zu, woraufhin mir bewusst wird, dass ich den Kopf in ihre Richtung gesenkt halte, eine verschwörerisch wirkende Geste, die uns leicht verraten könnte. “Ich bin mit meinem Botenausweis rausgekommen, kurz bevor sie das Ghetto hermetisch abgeriegelt haben”, erwidert sie mit einer etwas tieferen Stimme als üblich. “Viele von uns leben jetzt außerhalb von Kraków in den Wäldern und Dörfern.”

Ich möchte sie so gern nach Jakub fragen. Vielleicht hat sie ihn gesehen oder durch die Widerstandsbewegung etwas über ihn erfahren können. Aber ich habe ihr nie erzählt, dass ich verheiratet bin. “Wohin gehen wir?”, frage ich stattdessen.

“Alek will dich sehen.” Alek. Mir stockt der Atem. Womöglich kann er mir etwas über Jakub berichten. Ich folge Marta und erwarte, dass wir uns in Richtung Ghetto bewegen, vielleicht zu einem scheinbar leer stehenden Haus oder einer verborgenen Gasse oder zu einem Treffpunkt außerhalb der Stadt. Doch sie geht zielstrebig auf den Marktplatz zu. Es ist ein milder Sommerabend, und in den Cafés rings um den Platz wimmelt es von Deutschen und Polen, die nach der Arbeit ausspannen wollen.

“Hier?”, frage ich ungläubig, als sie mich zu einem überlaufenen Café führt.

“Gäbe es einen besseren Ort?”, erwidert sie, und ich sehe ein, wie recht sie damit hat. Es ist so wie mit meiner Anstellung im Nazi-Hauptquartier – niemand würde vermuten, eine Gruppe Juden könnte die Kühnheit besitzen, sich am helllichten Tag auf der Terrasse eines Cafés zu treffen.

Zunächst zögere ich noch, doch dann stelle ich fest, dass niemand von mir Notiz nimmt, als ich Marta zwischen den Tischen hindurch folge. Im hinteren Teil des Cafés sitzen zwei Männer, die ich erst beim Näherkommen als Alek und Marek erkenne. Alek trägt seine Haare so kurz geschnitten, dass stellenweise die helle Kopfhaut durchschimmert. Marek hat sich den Bart abrasiert und sieht nun wie ein Schuljunge aus. Beide stehen sie auf, als wir näher kommen, dann küssen wir uns dreimal auf die Wangen, als sei dies ein ganz normales Treffen unter Freunden.

“Hallo, Anna”, begrüßt mich Alek, als wir uns setzen. Mir entgeht nicht, dass er mein Pseudonym benutzt. Ich versuche, meine Aufregung zu bändigen, obwohl mir tausend Fragen auf der Zunge liegen. Wie hat er meine Flucht arrangiert? Hat er von Jakub gehört?

Eine Kellnerin kommt an den Tisch, Alek bestellt für uns alle Tee. “Was macht die Arbeit?”, fragt er, nachdem die Frau gegangen ist.

“G-ganz gut”, stammele ich, da mich die beiläufige Art seiner Frage überrumpelt.

“Letzten Dienstag bin ich übrigens deinem Onkel aus Lwów begegnet”, sagt er. Verwundert will ich erwidern, dass ich keinen Onkel in Lwów habe, doch dann verstehe ich, dass er Jakub meint.

“Geht es ihm gut?”, frage ich, während mein Herz einen Satz macht.

“Sehr gut”, antwortet er, woraufhin ich mich ein wenig beruhige. “Seine Arbeit nimmt ihn sehr in Anspruch, und seine Nichte fehlt ihm ganz schrecklich.” Ich lächle. Er meint mich.

Nachdem die Kellnerin uns den Tee gebracht hat, unterhalten sich Marta und Marek lautstark und amüsiert über irgendetwas Belangloses. Alek spricht mich währenddessen mit leiser Stimme an: “Von deinem Büro aus den Gang entlang kommst du zum Büro des Verwaltungsleiters Oberst Kirch. Er gibt die Passierscheine aus, mit denen man sich überall in der Stadt Zutritt verschaffen kann.” Ich nicke. Kirch hat auch den Ausweis unterschrieben, den ich an meinem ersten Tag erhielt. “An jedem Dienstagmorgen fahren Kirch und die anderen hochrangigen Offiziere für eine ausgiebige Besprechung zum Außenring. Seine Sekretärin nutzt diese Gelegenheit, um zum Friseur zu gehen oder Besorgungen zu machen. Wenn der Weg frei ist, kannst du bis in sein Büro gelangen. Der Schlüssel dazu ist mit Klebeband unter dem Schreibtisch seiner Sekretärin festgemacht.” Alek greift unter dem Tisch nach meiner Hand und überreicht mir etwas. “Das ist die Kombination für seinen Tresor. Lern sie auswendig und vernichte den Zettel anschließend. Im Tresor liegen Blanko-Passierscheine, die fortlaufend nummeriert sind. Nimm nie mehr als fünf oder sechs Stück in der Woche heraus. Achte immer darauf, dass es Scheine aus der unteren Hälfte des Stapels sind, damit ihr Fehlen nicht auffällt. Jeden Dienstagnachmittag kommst du nach der Arbeit her. Marek, ich oder sonst jemand, der dich erkennt, wird herkommen, um mit dir Tee zu trinken. Du wirst deine Tasche neben deinen Stuhl stellen, und wenn du gehst, erhältst du eine neue Tasche. Wenn du in der Woche kein Glück hattest oder wenn du das Gefühl hast, dass dich jemand verfolgt, kommst du nicht her. Wenn die Übergabe zu gefährlich ist, wird sich niemand mit dir treffen. Hast du verstanden?”

Ich schlucke, dann nicke ich. Alek will, dass ich Passierscheine für den Widerstand stehle.

Marek unterbricht seine Unterhaltung mit Marta und zischt mir zu: “Es ist unbedingt erforderlich, dass du die Scheine noch in dieser Woche bekommst! Wir brauchen …”

Alek hebt eine Hand und unterbricht ihn. “Nur wenn es sicher ist. Wir können keine Risiken eingehen.” Marek beißt sich auf die Lippe und sieht nach dieser Zurechtweisung woanders hin, während Alek sich wieder mir zuwendet und seine Hand auf meine legt. “Anna, ich werde dich nicht anlügen. Das ist ein gefährlicher Auftrag, so riskant wie alles in der Bewegung. Aber du wolltest uns helfen, und durch einen Glücksfall bist du in die einzigartige Position geraten, genau das zu tun.”

“Ja, ich verstehe”, entgegne ich rasch, obwohl mir noch gar nicht die Dimensionen dessen bewusst sind, was von mir erwartet wird.

“Es sollten immer nur zwei oder drei Passierscheine sein”, fügt er hinzu, wieder nicke ich. “Also gut.” Alek trinkt seinen Tee in einem Zug aus und steht auf, unmittelbar gefolgt von Marek. “Es war mir ein Vergnügen, die Damen wiederzusehen.” Marek tippt an seinen Hut, dann überqueren die beiden scherzend und lachend den Marktplatz.

“Ist er verrückt?”, flüstere ich Marta zu, als die beiden außer Hörweite sind. “Ich soll so etwas tun?”

Marta blinzelt mich überrascht an, und im gleichen Moment erkenne ich, dass es ein Fehler von mir war, Aleks Entscheidung infrage zu stellen. “Du hast ihn gehört. Du bist als Einzige in der Lage, so etwas zu erledigen.”

“Aber wieso ich? Ich bin doch nur eine …” Ich halte inne und suche nach dem richtigen Wort, um zu beschreiben, wie wenig ich mich dafür geeignet fühle.

“Was denn?”, gibt Marta zurück, wobei ihre Augen aufblitzen. “Nur ein kleines Mädchen?” Es ist das erste Mal, dass ich sie wütend erlebe. Ich will etwas erwidern, werde dann aber kleinlaut. Wie dumm muss ich mich anhören! Marta ist noch jünger als ich, und trotzdem begibt sie sich in Gefahr.

“Entschuldige”, murmele ich zerknirscht und drehe den Silberlöffel zwischen Daumen und Zeigefinger. “Ich habe nur das Gefühl, dass mir die nötige Erfahrung fehlt.”

“Keiner von uns ist dafür ausgebildet worden”, gibt sie tonlos zurück, ohne mich anzusehen.

“Ja, du hast recht. Ich kann mich nur noch einmal entschuldigen.”

Minutenlang sitzen wir schweigend da. Trotz der peinlichen Situation trinken wir weiter unseren Tee. Dieses Wiedersehen, das nur von so kurzer Dauer ist, erscheint mir so, als würde man dicht vor einem Feuer stehen und sich dann wieder in die Kälte hinausbegeben müssen. Keine von uns will diesen Moment enden lassen.

“Also …”, sagt Marta schließlich.

“Also …”, wiederhole ich. Es gibt so vieles, was ich sie fragen will, dass ich nicht weiß, wo ich anfangen soll.

“Du sieht gut aus”, erklärt sie.

“Danke. Ich kann froh sein, dass ich bei Krysia untergekommen bin. Sie ist sehr nett zu mir.” Plötzlich verspüre ich Schuldgefühle, weil ich so wohlgenährt aussehe,. Ich bemerke, wie blass und müde Marta gegen mich wirkt. Mir drängt sich die Frage auf, wovon sie sich bloß ernährt.

“So schlimm ist es nicht”, meint sie trotzig. So wie Alek scheint sie meine Gedanken lesen zu können. Mir wird klar, dass ich meine Gefühle nicht so offen zur Schau tragen darf. Wenn ich so durchschaubar bin, kann mir das auf der Arbeit noch zum Verhängnis werden. “Wenigstens sind wir in Freiheit”, fügt sie hinzu.

Als sie aufsteht, erhebe ich mich ebenfalls von meinem Platz. “Wie geht es deiner Mutter?”, frage ich, nachdem wir das Café hinter uns gelassen haben. Vielleicht hat Marta ja über die Widerstandsbewegung noch Kontakte ins Ghetto. Sie sieht zu Boden und schüttelt den Kopf.

“O nein! Was ist passiert?”

“Typhus. Vor zwei Wochen.” Sie presst die Lippen zusammen. Mit einem Mal wirkt ihr Gesicht viel härter und kantiger als noch vor wenigen Sekunden.

“O nein.” Tränen steigen mir in die Augen, und ich muss dem Wunsch widerstehen, Marta in die Arme zu nehmen. Aber das würde nur unnötige Aufmerksamkeit auf uns lenken. “Aber wie …?”

“Im Ghetto wird es immer schlimmer.” Marta hält inne, als sich auf meinem Gesicht die Angst um meine Eltern abzeichnet. Dann zuckt sie mit den Schultern, weil es nutzlos ist, die Wahrheit zu verschweigen. “Sie haben wenig Essen, kein sauberes Wasser. Es sind zu viele Menschen. Viel mehr als zu der Zeit, da wir noch im Ghetto waren. Krankheiten greifen rasend schnell um sich. Die Eltern kleiner Kinder sterben wie die Fliegen, im Waisenhaus ist längst kein Platz mehr, und doch kommen immer noch welche dazu. Man versucht, die kranken von den anderen abzuschotten, aber das hilft nichts. Dort hat sie sich mit Typhus angesteckt.”

“Das tut mir wirklich sehr leid.” Vor meinem geistigen Auge sehe ich Hadassas freundliches Gesicht. Ohne sie hätte ich Marta nie kennengelernt, wäre nicht mit Alek und den anderen zusammengekommen und hätte nie die Chance gehabt, aus dem Ghetto zu fliehen. Meine Gedanken wandern wieder zu meinen Eltern. Ihnen wird es kaum besser ergehen als den anderen.

Wir gehen weiter, vorbei an der Annakirche. Meine Namensvetterin, denke ich voller Ironie. Ich weiß noch, wie ich jeden Morgen auf dem Weg zur Bibliothek diese Straße überquerte. Der alte Mann, der mit einem Eimer Wasser die Treppen sauber wischte, grüßte mich immer. Ich rieche noch jetzt die Feuchtigkeit, die morgens vom nassen Straßenpflaster aufstieg.

“Marta, darf ich dich etwas fragen?” Sie nickt. “Der Widerstand … worum geht es dabei?”

“Du meinst, warum wir das machen?” Sie schaut mich verwirrt an, und ich kann nur hoffen, sie nicht schon wieder verärgert zu haben.

“Ja.

“Weil wir irgendetwas unternehmen müssen. Wir können nicht einfach dasitzen und zusehen, wie unser Volk ausgelöscht wird.”

So etwas hat mir auch Jakub immer wieder erzählt. “Aber was ist das Ziel?”

Sie schweigt länger, als würde sie zum ersten Mal selbst darüber nachdenken. “Die verschiedenen Mitglieder des Widerstands streben unterschiedliche Ziele an.” Ich erinnere mich an die Unterhaltung, die ich im Haus Nummer 13 in der ulica Józefińska belauscht habe, als Alek, Marek und der andere Mann unterschiedlicher Meinung waren. “Einige wollen einfach nur helfen. Andere wollen zurückschlagen und die Nazis angreifen.”

“Oh.” Ein solcher Schlag wäre ein Selbstmordkommando, glaube ich. Aber ich wage nicht, die Haltung des Widerstands ein weiteres Mal zu kritisieren. Ich frage mich, in welcher Gruppe Jakub ist und was er sich von der Bewegung erhofft. Wie kann es sein, dass ich nicht die Beweggründe meines Mannes kenne, sich für die eine Sache zu engagieren, durch die wir voneinander getrennt sind? “Aber Marta, das Zurückschlagen … das ist doch sicher symbolisch gemeint, nicht wahr? Ich meine, sie glauben doch nicht wirklich daran, dass sie etwas bewirken können, oder?”

Abrupt bleibt sie stehen und sieht mich an. “Wir müssen daran glauben, weil es sonst keine Hoffnung gibt.”

Schweigend spazieren wir weiter. An der Ecke, an der die ulica Anna auf die Planty triff, hält Marta erneut an. Hier sollen sich unsere Wege trennen. Ich beuge mich vor, um sie auf die Wange zu küssen, aber sie weicht zurück. “Anna, da ist noch etwas …”

Ich halte inne, nur wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt. “Was?”

“Es geht um deinen Onkel aus Lwów … ich will sagen, ich bin Jakub begegnet.”

Mein Atem stockt, als ich ihre Worte höre. “Ich weiß nicht, wovon du sprichst.” Trotz allem, was Marta und ich gemeinsam durchgemacht haben, warnt mich mein Instinkt und rät mir, auch jetzt nicht zuzugeben, dass ich verheiratet bin.

“Ich kenne die Wahrheit”, erklärt sie. “Er ist dein Ehemann. Er wollte es mir verschweigen, aber ich bin dahintergekommen. Ich erkannte es daran, wie er dich beschrieb.”

“Oh.” Betreten schaue ich zu Boden und scharre mit der Schuhspitze über das Pflaster. Ich weiß nicht so recht, was ich sagen soll. “Es tut mir leid, dass ich es dir verschwiegen habe. Wir mussten es geheim halten, zur Sicherheit für uns alle.”

“Das kann ich verstehen. Er ist ein wundervoller Mann, Anna”, erwidert sie leise. “Und er liebt dich sehr.” Ihre Stimme hat einen eigenartigen Unterton, den ich nicht deuten kann.

“Du kannst ihm das Gleiche von mir ausrichten”, erkläre ich mit ruhiger Stimme. “Falls du ihn wiedersiehst.”

“Das werde ich.” Ihre Gewissheit, meinen Mann abermals zu treffen, versetzt meinem Herzen einen Stich. Ich greife nach Martas Hand, als könnte das eine magische Verbindung zu Jakub herstellen, nur weil sie ihn berührt hat. Ihre Lippen fühlen sich kühl an, als sie meine Wange küsst. “Viel Erfolg, Anna”, wünscht sie mir im Weggehen.

Marta kennt Jakub, überlege ich, während ich zügig zur Haltestelle auf der anderen Seite der Planty gehe. Vermutlich sollte mich das nicht wundern, denn so groß kann die Bewegung gar nicht sein. Und Marta weiß von unserer Ehe. Jakub muss großes Vertrauen in sie haben, wenn er dieses Geheimnis mit ihr teilt. Es sei denn … nein, ich schüttele den Kopf, weil ich darüber gar nicht erst nachdenken will. Etwas war seltsam an Martas Stimme, als sie von Jakub erzählte. Ich erinnere mich an eines unserer Gespräche im Ghetto, als sie mir anvertraute, es gebe da jemanden im Widerstand, für den sie Gefühle hege. Jemanden, der von ihr keine Notiz zu nehmen schien. Ob Jakub dieser Jemand war? Marta ist so direkt und offenherzig, vielleicht hat sie ihm einfach ihre Gefühle gestanden. Vielleicht hat sie sogar versucht, ihn zu küssen, und daraufhin hat er ihr von unserer Ehe erzählt, um sie von sich fernzuhalten und ihr nicht wehzutun. Ich koche vor Wut, als ich mir diese Szene vorstelle. Halt, ermahne ich mich. Lass dich nicht von deiner blühenden Fantasie mitreißen. Doch das Bild will nicht aus meinem Kopf verschwinden. Und sie wird ihn wiedersehen, überlege ich voller Unbehagen, als ich in den Bus einsteige.

Obwohl ich Krysia an diesem Tag von meiner Begegnung mit Alek und den anderen gar nichts erzählen will, sieht sie mich auf eine Weise an, die mir sagt, dass sie es längst weiß. Während Łukasz im Wohnzimmer auf dem Boden sitzt und sich mit seinem Spielzeug befasst, schaut mich Krysia so lange eindringlich an, bis ich nicht länger schweigen kann. “Ich habe heute Alek gesehen.”

“Ja?” Ihre Stimme lässt kein bisschen Erstaunen erkennen.

“Ja, er hat … einen Auftrag für mich.” Ich berichte ihr von den Passierscheinen und davon, welche Rolle ich spielen soll.

“Emma …”, beginnt sie und vergisst dabei mein Pseudonym. Ihre Augen verraten, welcher Konflikt in ihr tobt. Krysia weiß, dass Alek keine unnötigen Risiken eingeht. Wenn er mich um etwas bittet, dann muss es für die Bewegung von größter Notwendigkeit sein. Trotzdem ist sie besorgt. “Hast du Angst?”, fragt sie.

“Ganz entsetzliche Angst”, gestehe ich und lasse den Gefühlen freien Lauf, die ich zuvor in Martas Gegenwart nicht offenbaren konnte. “Nicht nur meinetwegen. Es betrifft auch dich, Łukasz, Jakub, meine Familie … einfach alle.”

“Du hast Angst zu versagen”, stellt sie fest. Ich nicke und fühle mich schutzlos und beschämt.

“Ja. Angst davor, erwischt zu werden, und Angst davor, was das für uns alle bedeuten würde.” Ich warte darauf, dass sie mir so wie stets Mut zuspricht und mir versichert, dass alles gut wird. Aber stattdessen schweigt sie minutenlang, legt die Stirn in Falten und schürzt die Lippen. Schließlich bin ich diejenige, die als Erste etwas sagt. “Es wird schon gut gehen, Krysia.”

“Es wird so ausgehen, wie es ausgeht, meine Liebe. Wir leben in unsicheren Zeiten, und es ist nicht nötig, einer alten Frau etwas vorzuspielen.” Plötzlich entspannt sich ihre Miene. Sie umfasst meine Hand, und dann sehe ich, wie ihre Augen aufleuchten. “Der Mut junger Menschen ist die eine Sache, die mir immer noch Hoffnung gibt.” Mit diesen Worten ist die Last, die auf meinen Schultern liegt, noch tausendmal schwerer geworden.