17. KAPITEL

Am Abend beeile ich mich, Krysias Haus zu erreichen. Sie sitzt im Salon auf dem Sofa und strickt, Łukasz liegt auf ihrem Schoß und schläft fest. “Ich muss sofort zu Alek”, erkläre ich leise. Weder zeige ich Krysia die Durchschläge, noch fragt sie mich, was ich entdeckt habe. Es ist besser, wenn sie so wenig wie möglich weiß.

Krysia nickt. “Ich werde sofort morgen früh versuchen, Kontakt aufzunehmen.”

Am nächsten Morgen bittet sie mich nach dem Frühstück, auf Łukasz aufzupassen. Minuten später kehrt sie zurück und trägt eines ihrer Sonntagskleider.

“Du gehst in die Kirche?”, frage ich erstaunt.

“Manchmal kann ich auf diese Weise Kontakt herstellen.” Nachdem sie gegangen ist, lasse ich mir die Ironie durch den Kopf gehen, dass die jüdische Widerstandsbewegung eine katholische Kirche nutzt, um untereinander Kontakt zu halten. Aber vermutlich ist das nur sinnvoll, denn die Kirche ist einer der wenigen Orte, an dem sich die Deutschen nicht zeigen.

Viele Stunden später kommt Krysia nach Hause. “Sie sind weg”, erklärt sie mit finsterer Miene und lässt sich in der Küche schwer atmend auf einen Stuhl sinken.

“Weg?” Aufgeregt knie ich mich vor sie hin. “Was soll das heißen?”

“Ich war in der Kirche, um meinen Kontaktmann zu treffen, doch er tauchte nicht zur üblichen Zeit dort auf. Ich wartete, solange ich konnte, aber ich sah weder ihn noch irgendjemand sonst. Also ging ich zur … zu einem anderen Treffpunkt, von dem ich weiß, dass sich dort üblicherweise ein Kontakt herstellen lässt.” Mir fällt auf, dass Morast an Krysias edlen Lederstiefeln klebt, und ich frage mich, wo sich dieser andere Treffpunkt befindet. “Ich traf einen Freund, von dem ich erfuhr, dass die Deutschen das Hauptquartier des Widerstands gestürmt haben. Zu der Zeit hielt sich dort aber niemand auf”, fügt sie schnell hinzu, als sie meine besorgte Miene bemerkt. “Und es wurde niemand festgenommen. Die Gestapo konnte auch nichts Belastendes finden.” Erleichtert nicke ich. Alek ist viel zu vorsichtig, als dass er Beweise herumliegen lassen würde. Ich erinnere mich, wie ich die Nachricht von Jakub verbrennen musste, die er mir einmal gegeben hatte. “Alek hat angewiesen, bis auf Weiteres Funkstille zu wahren”, fährt Krysia fort. “Die Bewegung ist untergetaucht.”

“Untergetaucht?”

“Ja”, erwidert sie. “Kein Kontakt, bis wir Gewissheit haben, dass es wieder sicher ist.” Sie beugt sich vor und zieht die Schnürsenkel ihrer Stiefel auf.

Ich versuche zu begreifen, was sie mir gerade erzählt hat. Kein Kontakt mehr zu Alek oder Marta, meinen einzigen Verbindungen zum Widerstand. Und zu Jakub. “Aber ich habe wichtige Informationen”, beharre ich. “Es muss irgendeinen Weg geben.”

“Ich habe jeden mir bekannten Weg versucht, aber ich fürchte, es ist unmöglich.” Krysia steht auf und will die Küche verlassen, bleibt dann jedoch stehen und dreht sich zu mir um. Sie hat einen verlorenen Ausdruck in den Augen, und ich sehe, wie sie angestrengt nachdenkt.

“Was?”

Sie schüttelt den Kopf. “Nichts. Es ist zu gefährlich.”

“Was ist zu gefährlich?” Ich richte mich auf und gehe zu ihr. “Krysia, wenn du eine Idee hast, dann lass sie mich wissen.” Ich nehme ihre Hand und drücke sie. “Bitte.”

“Vermutlich ist es zwecklos”, sagt sie zögernd. “Aber vor der Besatzung und auch noch zu Beginn des Krieges haben Alek und die anderen oft eine Kellerbar in der ulica Mikolajska besucht.”

Ich glaube, ich kenne das Lokal. Ein paar Mal bin ich dort vorbeigekommen, habe es aber nie betreten. Krysia fährt fort: “Der Wirt Franciszek Koch sympathisiert in einem gewissen Maß mit unserer Sache. Ich frage mich, ob er womöglich etwas weiß. Jedoch kann ich da nicht hingehen, das würde zu viel Aufmerksamkeit erregen.”

“Das stimmt”, pflichte ich ihr bei. Eine ältere Frau beim Kirchgang ist nichts Außergewöhnliches, doch in einer Bar, in der sich sonst nur jüngere Leute aufhalten, würde Krysia natürlich auffallen. Ich dagegen könnte hingehen. Gerade will ich ihr genau das vorschlagen, da mache ich den Mund wieder zu.

“Was ist?”, fragt sie und mustert mein Gesicht.

“Nichts”, erwidere ich. Es wäre sinnlos, ihr von meiner Idee zu erzählen, denn sie würde ohnehin nicht einverstanden sein. “Ich verstehe schon. Es ist zu gefährlich.”

Krysia ist von meinen Worten nicht überzeugt. “Du hast doch nicht etwa vor, heute Abend dorthin zu gehen?”

“Natürlich nicht …”, setze ich an, aber sie hebt ihre Hand.

“Mach dir gar nicht erst die Mühe, es abzustreiten. Ich will nicht, dass du mich belügst, und vermutlich ist es besser, wenn ich es nicht weiß. Ich halte es für zu riskant, auch wenn es letztlich deine Entscheidung ist.” Sie presst die Lippen zusammen und lächelt mir flüchtig zu. “Das Recht hast du dir verdient.” Mit diesen Worten wendet sie sich ab, lässt die Schultern hängen und geht aus dem Zimmer.

Am Abend bringen wir Łukasz ins Bett. Dann gehe ich nach unten in den Flur, Krysia folgt mir und sieht wortlos zu, wie ich meinen Mantel anziehe. “Ich werde nicht allzu lange weg sein”, verspreche ich und stecke die Papiere in meine Manteltasche.

“Hier.” Krysia zieht mehrere Münzen und Scheine aus ihrer Tasche. “Nimm das hier. Der Wirt wird eher zum Reden aufgelegt sein, wenn du ihm ein großzügiges Trinkgeld gibst.”

Widerstrebend nehme ich das Geld an. “Danke.”

Draußen ist es für einen Abend im November bitterkalt, außerdem hat es zu schneien begonnen. Ich gehe die zum Stadtzentrum führende Straße entlang und sehe einen Bus nahen. Bei seinem Anblick beginne ich zu überlegen, ob ich ihn nehmen soll. Wenn mich einer unserer Nachbarn sieht, wird man sich fragen, warum ich um diese Zeit noch unterwegs bin. Andererseits habe ich nicht viel Zeit, und es würde mir einen langen Fußmarsch ersparen. Ich laufe zum Bus und steige ein. Zwar ist er fast völlig leer, dennoch setze ich mich in die letzte Reihe und schlage den Mantelkragen hoch.

Wenig später steige ich in der Nähe des Marktplatzes aus. Der Schneefall ist stärker geworden, und das Pflaster ist rutschig, als ich mich auf den Weg zur ulica Mikolajska mache. Die Bar, von der Krysia erzählt hat, ist eine von vielen Kellerbars in der Innenstadt von Kraków. Am Kopf der Treppe bleibe ich zunächst stehen und lausche der Musik und den Stimmen, die von unten an meine Ohren dringen. Ich bin noch nie in einer Bar gewesen, weder in dieser noch einer anderen. Das einzige Lokal, das ich hin und wieder betreten habe, war das kleine Café in Kazimierz, wo mein Vater sich manchmal mit Nachbarn auf einen Plausch traf. Ich atme tief durch, dann gehe ich die Treppe hinunter und öffne die Tür. Mir schlägt der Gestank von Zigarettenrauch entgegen, aber wenigstens ist die Bar nicht so voll, wie ich es aufgrund der Geräuschkulisse erwartet hätte. In der hinteren Ecke sitzen einige Männer an einem Tisch und betrachten mich neugierig, doch ich erwidere ihre Blicke nicht, sondern begebe mich zur Theke. “Einen Tee bitte”, sage ich zu dem großen, bärtigen Mann, während ich mich auf einen der Hocker setze. Ich schätze ihn auf etwa dreißig und frage mich, ob er wohl alt genug ist, um der Wirt zu sein.

Er stellt mir ein Glas Tee hin. “Kann ich sonst noch was für Sie tun?”

“Ist Franciszek Koch hier?”, frage ich, als ich genügend Mut gefasst habe.

Von einem misstrauischen Blick begleitet fragt er: “Wer will das wissen?”

Ich zögere kurz, dann antworte ich leise “Mein Name ist Anna Lipowski, ich bin die Nichte von Krysia Smok.”

Sein Gesicht verrät mir, dass ihm der Name ein Begriff ist. Er kommt ein Stück näher. “Er steht vor Ihnen. Was wollen Sie?”

“Ich bin auf der Suche nach Alek und den anderen.”

Sofort verhärtet sich seine Miene und er weicht einen Schritt zurück. “Tut mir leid, aber ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.”

“Bitte! Es ist sehr wichtig, dass ich sie finde.” Ich greife in meine Tasche. “Wenn es Ihnen ums Geld geht …”

“Nicht!”, herrscht er mich an, dann fährt er mit gesenkter Stimme fort: “Hier ist es nicht sicher. Die Männer dort drüben sind Spitzel. Wenn die etwas sehen oder hören, landen wir beide im Gefängnis.”

Ich bekomme eine Gänsehaut. “Krysia erwähnte nichts davon …”

“Sie wusste auch nichts davon.” Sein Blick verfinstert sich. “Diese Leute kommen erst seit ein paar Wochen regelmäßig her.”

“Dann kennen Sie also Alek?”

“Ich glaube zu wissen, wen Sie meinen. Groß, Kinnbart?” Ich nicke. “Er und ein paar andere kamen regelmäßig her und trafen sich hier. Aber ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen. Ich dachte, nach der letzten Verhaftungswelle gaben sie es auf und flohen in die Wälder oder über die Grenze?”

Meine Hoffnungen sind am Boden zerstört. “Vielen Dank”, sage ich und will von meinem Hocker aufstehen.

“Warten Sie”, erwidert er. “Trinken Sie erst Ihren Tee. Verhalten Sie sich wie ein ganz normaler Gast, sonst werden diese Männer dort misstrauisch.”

Wieder reagiere ich mit einem Nicken und setze mich hin. Koch dreht sich weg und geht zum anderen Ende der Bar, wo er Gläser abtrocknet. Ich betrachte seinen Rücken und gehe in Gedanken durch, was ich von ihm erfahren habe. Er weiß nicht, wo Alek und die anderen sind. Vielleicht haben sie sich tatsächlich abgesetzt. Nein, das ist doch lächerlich! Jakub würde mich niemals verlassen. Doch dann regen sich Zweifel. Was, wenn diese Sache, für die er kämpft, ihn in ein anderes Land führt? Oder wenn eine andere Frau sein Herz erobert hat? Nein, ich darf so etwas nicht denken. Nicht jetzt und nicht hier! Ich muss mich darauf konzentrieren, unauffällig diese Bar zu verlassen und zurück zu Krysia zu gelangen.

Ich trinke den Tee aus und lege ein paar Münzen auf die Theke. Ich überlege, ob ich alles hierlassen soll, was mir Krysia an Münzen und Scheinen mitgegeben hat, entscheide mich aber dagegen. Der Wirt hat mir gesagt, was er weiß. Er sieht zu mir und nickt knapp, als ich aufstehe und zur Tür gehe. Am Kopf der Treppe angekommen, bleibe ich stehen, um den Schal enger um meinen Hals zu legen und den Mantel zuzuknöpfen. Dann betrete ich den Fußweg. Es schneit noch immer sehr stark, zudem ist der Wind kräftiger geworden. Ausgerechnet heute muss der erste Wintersturm über Kraków hinwegziehen.

Als ich den Marktplatz überquere, höre ich plötzlich leise, schlurfende Schritte hinter mir. Abrupt bleibe ich stehen. Einer der Männer aus der Bar muss mir gefolgt sein. Vielleicht haben sie mein Gespräch mit Koch doch belauscht? Ich komme zu dem Schluss, dass es sinnlos wäre, davonzulaufen, und drehe mich um. Vor mir steht ein älterer, kahlköpfiger Mann. “Entschuldigen Sie”, sagt er rasch und blinzelt mich an. Seine Stimme klingt rau. “Ich wollte Sie nicht erschrecken.”

“Was wollen Sie von mir?”, frage ich ihn geradeheraus.

“Ich habe gehört, worüber Sie mit dem Wirt sprachen.” Sein Atem bildet in der kalten Luft kleine Wolken.

Ist das einer der Männer, die Koch als Spitzel bezeichnete? Ich kann mich nicht erinnern, ihn in der Bar gesehen zu haben. “Ich wollte … ich wollte nur …”, beginne ich zu erklären, doch er hebt eine Hand, damit ich ruhig bin.

“Sparen Sie sich Ihre Worte. Wir haben keine Zeit. Koch kann Ihnen nicht geben, wonach Sie suchen, aber ich kann es. Folgen Sie mir. Schnell.”

Er geht in die entgegengesetzte Richtung durch die ulica Mikolajska. Ich zögere. Es könnte eine Falle sein, ich könnte der Gestapo in die Arme laufen. Vertrau ihm, meldet sich eine innere Stimme. Mir bleibt auch keine andere Wahl, also folge ich ihm durch die Straße. Während wir den südwestlichen Teil der Stadt durchqueren, spricht keiner von uns ein Wort. Irgendwann wird mir klar, dass wir in Richtung des Flusslaufs gehen. Die Industriegebäude hier sind zum großen Teil verfallen, und aus der Straße wird ein unebener, schneebedeckter Pfad, der leicht zum Ufer hin abfällt. “Passen Sie auf, wohin Sie treten”, warnt er mich. Am Ende des Pfads angekommen, stehen wir vor einem dicht am Ufer gelegenen Schuppen, den man vom Hauptweg aus nicht sehen kann. Der Mann führt mich zur Tür, sagt: “Warten Sie hier”, und geht hinein. Ich stehe in der Dunkelheit und Kälte da und sehe zwischen Fluss und Straße hin und her.

Dann wird die Tür erneut geöffnet, und der Mann zieht mich nach drinnen. “Hier rein, schnell!” Die Tür fällt hinter mir ins Schloss, während ich versuche, meine Augen an das schummrige Licht zu gewöhnen. Wir befinden uns in einem winzigen Raum, es ist eiskalt und bis auf einen Stuhl und einen Tisch gibt es keine Möbel. Auf diesem Tisch liegt ein abgewetzter Lederhandschuh.

“Was machst du hier?”, fragt mich eine vertraute Stimme.

Ich drehe mich hastig um. “Marek.” In seinem dicken Mantel und mit der tief ins Gesicht gezogenen Mütze ist er kaum wiederzuerkennen.

Er schaut mich wütend an. “Du hättest nicht herkommen dürfen.”

“Ich muss mit dir reden, es ist wichtig.” Ich halte inne, da ich mir nicht sicher bin, wie viel ich in der Gegenwart des Fremden äußern kann.

“Danke, Avi”, sagt Marek zu dem kahlköpfigen Mann.

“Danke”, wiederhole ich.

Der Mann nickt und verlässt den Schuppen. Marek geht zum Fenster, hebt den zerlumpten Vorhang ein Stück an und sieht hinaus.

“Glaubst du, man ist uns gefolgt?”, frage ich.

Marek schüttelt den Kopf. “Dafür ist Avi viel zu gut.” Er lässt den Vorhang sinken. “Also, was gibt es?”

Vergeblich sehe ich mich in dem winzigen Raum nach einem Hinweis auf die anderen um. “Wo ist Alek?”, frage ich. Wegen der Kälte klappern meine Zähne.

“Er ist nicht in der Stadt. Wieso musst du uns so dringend sprechen?”

Ich hatte mir vorgestellt, mit Alek zu reden, nicht mit Marek, auch wenn der sein bester Freund ist. Letzteres ist der Grund, weshalb ich ihm trauen kann. “Das hier”, antworte ich und gebe ihm die Durchschläge.

Er nimmt die Papiere entgegen und überfliegt die erste Seite. “Mein Deutsch ist nicht sehr gut. Sag mir, was da steht.”

“Da steht, dass die Deutschen das Ghetto auflösen und die Juden nicht nach Plaszow, sondern nach Auschwitz oder Belzec schicken werden.”

Marek zeigt keine Regung. “Ja, das ist bekannt. Davon haben wir bereits gehört.”

Überrascht sehe ich ihn an. Die Bewegung wusste längst von der bevorstehenden Auflösung des Ghettos? Einmal mehr wird mir klar, wie wenig ich eigentlich über diese Gruppe weiß, für die ich täglich mein Leben riskiere.

“Die Frage ist nur, wann das geschieht”, fügt er hinzu.

“Im Frühjahr”, entgegne ich.

Er zuckt sichtlich zusammen. “Was?”

“Sie werden die Juden fortbringen, sobald im Frühjahr die Baracken in Birkenau fertig sind.”

“Frühjahr”, sagt er ungläubig und reißt mir die Durchschläge aus der Hand.

“Ja, das steht alles da drin.” Ich kann nicht anders, als Stolz auf meine Leistung zu verspüren. “Dieses Schreiben ist keine drei Wochen alt.”

“Genau das mussten wir wissen. Aber das ist viel früher, als wir dachten.” Er faltet die Blätter zusammen und steckt sie in seinen Mantel. “Ich muss das zu Alek bringen.” Er öffnet die Tür, ich folge ihm nach draußen. Vielleicht wird er mich zu den anderen mitnehmen. Bestimmt habe ich es mir nach dieser Leistung verdient, ihn zu begleiten. Doch er zeigt in die Richtung, aus der Avi und ich gekommen sind. “Wenn du dort zurückgehst, kommst du auf die Straße, die nach Chelm führt.”

Ich will etwas erwidern, ihn fragen, was mit den anderen ist und ob er etwas von Jakub gehört hat. Ich muss wissen, wie ich mit ihm Kontakt aufnehmen kann. “Du darfst nicht wieder herkommen”, erklärt er, als hätte er meine Gedanken gelesen. Dann dreht er sich um und geht davon. Während ich ihm nachsehe, wird mir bewusst, dass er sich nicht einmal bedankt hat.

Mein Blick fällt auf den Schuppen, und ich überlege, ob er wohl der Bewegung eine Weile als Versteck gedient hat. Plötzlich erinnere ich mich an den Handschuh auf dem Tisch. Hoffnung regt sich in mir, denn Jakub trug auch solche Handschuhe. Vielleicht hat er sich in jüngster Zeit noch hier aufgehalten … Mir schaudert, als ich mir vorstelle, er könnte in diesem kleinen, kalten Raum gewesen sein. Doch wenn er sich schon so dicht in meiner Nähe aufgehalten hat, wäre es ihm bestimmt möglich gewesen, zu mir zu kommen und mich zu sehen, oder nicht?

Es reicht, ermahne ich mich. Ich habe erledigt, was zu erledigen war, nämlich die Papiere an die Bewegung weitergeleitet. Jetzt muss ich zurück nach Hause. Es muss bereits gegen zehn Uhr sein, in wenigen Minuten tritt die Ausgangssperre in Kraft. Krysia wird sich Sorgen um mich machen. Ich gehe die Uferböschung hinauf und muss aufpassen, dass ich auf dem glatten Untergrund nicht wegrutsche. Ich denke wieder an Marek. Seine Miene war so eigenartig, als ich ihm die Information gab. Es war fast so, als würde er lächeln. Dann erinnere ich mich an die Unterhaltung, die ich bei meinem letzten Schabbes-Essen in der ulica Józefińska im Ghetto belauscht habe. Marek ist einer von den aggressiveren Mitgliedern des Widerstands, er will die Nazis aktiv angreifen. Diese Information über die Auflösung des Ghettos dürfte seine Position innerhalb der Gruppe stärken. Jetzt werden sie versuchen, etwas zu unternehmen. Mein Magen verkrampft sich bei dem Gedanken, mit einem Mal überkommt mich Unbehagen. Zugegeben, ich habe der Bewegung hilfreiche Informationen geliefert, doch gleichzeitig habe ich Angst, ich könnte Jakub in große Gefahr gebracht haben.

Nachdem ich die Böschung bezwungen habe, sehe ich mich auf der menschenleeren Straße um und gehe zügig durch die Stadt in Richtung Chelm. In weiter Ferne verkündet eine Sirene den Beginn der Ausgangssperre. Ich gehe schneller, komme aber auf dem nassen, glatten Pflaster ins Rutschen. Dennoch beeile ich mich, das Kinn gegen die Brust gedrückt, um mich etwas gegen den eisigen Wind zu schützen. Als ich in die ulica Starowislna einbiege, laufe ich unerwartet gegen etwas und stolpere, meine Füße rutschen weg und ich lande mit meiner Kehrseite in einer schmutzigen Schneewehe.

Ich sehe hoch und stelle fest, dass ich mit einem Mann zusammengestoßen bin, der mir entgegengekommen ist. Vergeblich versuche ich aufzustehen, doch ehe ich mich versehe, packt mich der Mann an den Armen und zieht mich hoch. Ich bin zu verblüfft, um ihn abzuwehren. Während ich zwinkere, um die Schneeflocken von meinen Wimpern zu vertreiben, fühle ich, wie der Fremde seinen Handrücken auf meine Stirn drückt – so wie eine Mutter, die überprüfen will, ob ihr Kind Fieber hat. Von seinem Mantel geht ein würziger Geruch aus, der mir auf eine unerklärliche Weise vertraut vorkommt.

“Danke …” Doch als ich endlich wieder klar sehen kann, ist der Fremde bereits weitergegangen, und sein dunkler Mantel verschmilzt schnell mit der Dunkelheit.

Was für eine seltsame Begegnung, überlege ich und werfe einen Blick in die Richtung, aus der ich gekommen bin. Die Straße ist menschenleer. Doch ich habe keine Zeit, hier herumzustehen und zu grübeln. Ich wische den Schnee von meinem Mantel und gehe weiter.

Plötzlich wird die nächtliche Stille jäh von einer lauten Sirene zerrissen. Ein Stück vor mir hält ein Wagen der Gestapo auf einer Kreuzung. Sofort mache ich einen Satz um die nächste Ecke und presse mich gegen die Backsteinmauer, wobei ich mir wünsche, ich könnte mich unsichtbar machen. Ich höre Türenschlagen, dann das Poltern schwerer Stiefel auf dem Straßenpflaster. Über eine Wand gleich neben mir zuckt der Lichtkegel einer Taschenlampe. Mein Herz rast, ich fühle mich schweißgebadet.

Die Gestapo-Leute stehen schweigend da und achten auf jedes Geräusch. Eine Ewigkeit scheint zu vergehen, dann höre ich einen der Männer etwas sagen, und sie steigen wieder in den Wagen. Reglos bleibe ich stehen und warte, dass der Wagen vorbeigefahren kommt und im Scheinwerferlicht eine jämmerliche junge Frau auftaucht, die vergeblich versucht, mit einer Mauer zu verschmelzen. Gebannt halte ich den Atem an und zähle die Sekunden.

Mit quietschenden Reifen macht der Wagen kehrt und fährt in die andere Richtung davon.

Als das Motorengeräusch kaum noch zu hören ist, löse ich mich aus meiner Starre und sinke zu Boden. Hätte mich der Mann nicht umgerannt, dann wäre ich der Gestapo direkt in die Arme gelaufen. Ich atme tief durch und danke meinem Schutzengel, dass er mir diesen Fremden geschickt hat.

Während ich weitergehe, merke ich, dass die Feuchtigkeit des Schneetreibens von meiner Kleidung aufgesogen wurde. Ich ziehe die nassen Handschuhe aus und stecke die Hände in die Manteltaschen. In der rechten Tasche berühren meine Finger etwas Unvertrautes, etwas Hartes. Meine Hand umfasst das Objekt, und ich bleibe stehen. Aus der Tasche ziehe ich einen glatten braunen Stein, den ich vor einer Stunde noch nicht bei mir trug.

Ein leiser Schrei kommt mir über die Lippen. Es ist ein Stück Bernstein! Dieser Zusammenstoß war gar kein Unfall – und es war kein Fremder, der mich umgerannt hat. Es war Jakub! Er hat mir den Stein als ein Zeichen zugesteckt. Mein Herz macht einen Freudensprung. Jetzt weiß ich, dass mein Ehemann ganz in der Nähe ist und nicht mit einer anderen Frau weit weg von hier die Welt rettet. Er ist hier, und er passt auf mich auf. Er hat verhindert, dass ich der Patrouille in die Arme laufe. Er liebt mich und beschützt mich aus der Ferne, weil ihm etwas anderes nicht möglich ist.

Plötzlich wird mir ganz warm, die Luft um mich herum wirkt wie aufgeladen. In diesem Moment zählt nichts anderes mehr. Jakub lebt, und er liebt mich. Den Bernstein fest in der Hand, laufe ich so schnell ich kann nach Hause.