25. KAPITEL

Ich knie neben dem leblosen Kommandanten und bin nicht in der Lage, mich zu bewegen. “Emma”, höre ich hinter mir jemanden rufen. Es ist die gleiche Stimme wie zuvor, als die Schüsse durch die Nacht peitschten. Dann habe ich sie mir also nicht nur eingebildet. Irgendjemand außer dem toten Kommandanten und mir ist noch hier. Der Kommandant war nicht allein unterwegs, überlege ich, springe auf und schaue in die Richtung, aus der er gekommen ist. Doch da ist niemand. “Emma.” Augenblick mal. Wäre es jemand, der den Kommandanten begleitet hat, dann würde er meinen wahren Namen nicht kennen. “Emma.” Ich drehe mich um und mache im Schatten eine Gestalt mit einer Waffe in der Hand aus. Es ist Marta.

“Marta?”, rufe ich und laufe zu ihr. “Ich … ich verstehe nicht … was machst du hier?”

“Ich bin dir gefolgt”, erwidert sie. “Ich sollte dich bei Sonnenaufgang abholen und in Sicherheit bringen.” Dann ist sie also diejenige, die mir den Weg zeigen soll. “Ich wusste, du würdest nicht weggehen, ohne vorher noch einmal deine Eltern zu sehen. Ich fürchtete, wenn du das mit deiner Mutter erfährst …” Sie lässt den Satz unvollendet und sieht zur Seite.

Ungläubig sehe ich sie an. “Du wusstest es?”

Sie nickt. “Ich erfuhr es erst vor Kurzem. Ich wollte dich eigentlich einweihen, aber Marek untersagte es mir.” Zum Teufel mit ihm, denke ich. Zum Teufel mit ihnen allen. “Es tut mir leid”, fügt sie hinzu, ich erwidere darauf nichts. “Ich bin dir zum Ghetto gefolgt, danach hierher. Und dann sah ich ihn …” Sie deutet auf den Leichnam des Kommandanten. “Er wollte dich töten, also musste ich ihn zuerst töten.”

“Gott sei Dank! Wärst du nicht gekommen …” Mir schaudert bei dem Gedanken daran. Meine Wut auf die Bewegung wird schnell durch unendliche Dankbarkeit ersetzt. Wäre Marta nicht gewesen, wäre ich jetzt vielleicht tot. “Oh, Marta, ich danke dir so sehr.” Ich will sie umarmen, doch sie schiebt mich weg.

“Dafür haben wir keine Zeit.” Sie läuft zum Kommandanten. Dabei wird mir bewusst, dass sie gesehen haben muss, wie ich mich über ihn beugte. Ich erwarte, Vorwürfe zu hören, weil ich ihn gehalten und um ihn geweint habe. Aber sie äußert sich nicht dazu, sondern kniet sich neben ihn, um ihm die Ringe und die Urkunde aus der Hand zu nehmen. “Hier.” Sie gibt mir die Sachen, die ich sofort in die Manteltasche stecke. “Die Polizei wird bald hier eintreffen. Wir müssen den Leichnam verschwinden lassen. Komm her, wir werfen ihn ins Wasser.”

Ich betrachte den toten Kommandanten und merke, wie sich mein Magen umdreht. Nur mit Mühe kann ich mich davon abhalten, mich zu übergeben. Ich wende den Blick ab und stelle mich ans Brückengeländer. “Das geht nicht, der Fluss ist zugefroren”, rufe ich. “Lass ihn dort liegen, Marta. Wir müssen von hier verschwinden. Komm schon!” Ich schaue zu ihr, wie sie reglos neben dem Toten kniet. “Marta?”

Sie schüttelt den Kopf und sinkt zu Boden. “Ich kann nicht.” Sofort bin ich bei ihr und bemerke auf ihrem Bauch einen großen roten Fleck.

“Marta, du bist ja verletzt!”

Mit einem traurigen Lächeln erwidert sie: “Ich war zwar schneller als er, aber nicht schnell genug.”

Ich knie mich neben sie. “Tut es sehr weh?”

“Ist nicht ganz so schlimm”, sagt sie, doch ich weiß, sie versucht nur tapfer zu sein. Ihr Gesicht ist blass, auf ihrer Stirn hat sich ein dünner Film aus Schweißperlen gebildet.

“Ich muss dich zu Krysia bringen, damit sie einen Arzt holen kann …”

“Unmöglich”, widerspricht sie mir. “Ich kann nicht gehen.”

“Komm, ich helfe dir.” Ich lege einen Arm um ihre Taille und versuche, sie hochzuziehen, doch sie stößt mich weg und fällt wieder zu Boden.

“Es hat keinen Sinn”, keucht sie. “Du kannst mich nicht tragen. Nein, du musst ohne mich los.”

“Ich werde Hilfe holen”, erkläre ich und sehe mich suchend um.

“Das wirst du nicht. Geh einfach. Ich werde dir sagen, auf welcher Route deine Flucht verlaufen soll.”

Fassungslos sehe ich sie an. “Du kannst doch nicht hierbleiben. Die Polizei wird bald eintreffen und dich hier vorfinden.”

“Ganz genau”, gibt sie zurück. In ihren Augen bemerke ich ein Leuchten. “Wenn sie mich hier finden, werden sie glauben, dass es nur eine Sache zwischen ihm und mir war. Niemand wird auf die Idee kommen, du könntest etwas damit zu tun haben. Auf die Weise kannst du unbehelligt fliehen.”

“Ich lasse dich nicht hier zurück”, beharre ich.

“Das musst du aber.”

“Nein …” Noch während ich widerspreche, weiß ich, dass meine Bemühungen vergebens sind. Aus ihrer Stimme höre ich den gleichen Mut und den gleichen Starrsinn heraus wie bei Alek und Jakub. Trotzdem bleibe ich beharrlich. “Ich kann dich nicht einfach zurücklassen. Nicht nach allem, was du für mich getan hast.”

“Hör mir zu.” Marta nimmt all ihre Kraft zusammen, streckt eine Hand nach mir aus und packt mich am Kragen. “Im Widerstand geht es ums Überleben … ums Überleben unseres Volks. So war es immer. Wer weitergehen kann, der geht weiter. Alek wusste das, und Jakub weiß es auch. Da ist kein Platz für sentimentalen Unsinn. Hast du verstanden?”

“Ja”, antworte ich, nachdem ich tief Luft geholt habe.

“Gut.” Sie lässt mich los, greift nach der Waffe des Kommandanten und hält sie mir hin. “Hier, nimm sie.”

Misstrauisch betrachte ich die Waffe, die noch vor wenigen Minuten auf mein Herz gerichtet war. “Ich … ich kann nicht”, stammele ich.

“Nimm sie”, wiederholt Marta eindringlich. “Vielleicht brauchst du sie auf der Flucht.”

Widerstrebend nehme ich die Pistole an mich. In meiner Hand fühlt sie sich schwer und ungewohnt an. Ich stecke die Waffe unter den Rockbund. “Wo ist Jakub?”, frage ich, da mir plötzlich der Gedanke kommt, dass sie das als Einzige wissen könnte.

“Er ist in Czernichów.”

“Aber …” Wie benommen starre ich Marta an. Czernichów ist ein kleines Dorf auf der anderen Seite der Stadt. Die ganze Zeit über ließ man mich in dem Glauben, mein Mann sei irgendwo in den Bergen versteckt, dabei war er nur einen Fußmarsch von mir entfernt.

“Jeder dachte, er erholt sich in den Bergen, Emma”, erklärt sie keuchend. “Wir mussten so tun, als sei das wahr. Seit Aleks Ermordung sind immer mehr interne Dinge verraten worden. Nicht einmal diejenigen, denen wir vertrauten, konnten eingeweiht werden, weil wir fürchteten, dass einer von ihnen in Gefangenschaft geraten und dort gezwungen werden könnte, sein Wissen preiszugeben.” Ich nicke verstehend. Es sind einfach zu viele Geheimnisse, die nicht in die falschen Hände geraten dürfen. “Am Rand von Czernichów gibt es eine verlassene Hütte, da ist Jakub untergebracht. Es kann sein, dass er sich im Keller darunter versteckt hält. Das Land gehört einem Bauern namens Kowalczyk, dem du vertrauen kannst. Er wird dir helfen, wenn du Hilfe brauchst. Nimm den Waldweg von Krysias Haus aus”, fährt sie fort, immer wieder unterbrochen von angestrengten Atemzügen. “Du erkennst Kowalczyks Haus an einem blauen Dach.” In der Ferne sind Sirenen zu hören. “Verschwinde jetzt von hier! Geh zu Jakub!” Sie liegt zusammengekrümmt auf dem Boden, um den Schmerz irgendwie zu ertragen.

Ich will mich aufrichten, doch sie greift noch einmal nach meiner Hand. “Emma, eine letzte Sache noch … wegen Jakub …” Sie zögert. “Es tut mir leid.” Ich weiß, sie meint damit ihre Gefühle für meinen Ehemann, die eine Sache, die zwischen uns gestanden hat.

“Ist schon in Ordnung”, erwidere ich und drücke ihre Finger. Es ist von mir ehrlich gemeint. Man sucht sich nicht erst aus, in wen man sich verliebt – man verliebt sich eben. Sie konnte nichts daran ändern, was sie für Jakub empfand, und ich hatte keinen Einfluss auf meine Gefühle für den Kommandanten.

“Jetzt geh”, raunt sie, da die Sirenen lauter werden.

“Gott möge dich behüten, Marta”, sage ich und küsse sie auf die Wange. Dann lasse ich ihre Hand los und laufe davon. An der gegenüberliegenden Seite der Brücke angekommen, drehe ich mich ein letztes Mal um. Marta sitzt regungslos neben dem toten Kommandanten, die Waffe immer noch in ihrer Hand, den Blick in die Ferne gerichtet.

Ich eile die Stufen hinunter, doch am Fuß der Brücke angekommen, bemerke ich eine große schwarze Limousine, die dort geparkt steht. Es ist der Wagen des Kommandanten. Dann ist er gar nicht im Lastwagen unterwegs gewesen?

Durch die Scheibe kann ich Stanislaw erkennen. Ich überlege, ob ich die Treppe wieder hinauflaufen soll, um ihm zu entkommen, aber ehe ich etwas tun kann, steigt er aus. Wir betrachten uns unschlüssig, keiner von uns spricht ein Wort. “Dobry wieczór”, sagt er schließlich. Er wünscht mir einen guten Abend, als wäre es ganz normal, dass wir uns hier begegnen.

“Dobry wieczór, Stanislaw”, antworte ich, während sich meine Gedanken überschlagen. Hat er die Schüsse gehört? Fragt er sich, was mit dem Kommandanten geschehen ist? Ich halte meine Hände vor mich, damit er nicht die Blutflecke auf meinem Kleid bemerkt. Wieder schweigen wir beide betreten. Die Sirenen sind noch deutlicher zu hören. Nur noch wenige Augenblicke, dann wird ihm klar sein, dass die Polizei auf dem Weg hierher ist. Ich überlege, ob ich weglaufen soll, aber dann erinnere ich mich an den Tag, an dem ich mit den Papieren des Kommandanten dessen Wohnung verließ und Stanislaw begegnete. Obwohl er mich praktisch auf frischer Tat ertappt hat, ließ er mich gehen. Vielleicht ist er der Sache der Bewegung tatsächlich zugetan. Andererseits ist er der Fahrer des Kommandanten und vermutlich genauso loyal wie Malgorzata. Ich kann es nicht riskieren.

“Kann ich Sie ein Stück mitnehmen?”, fragt er und holt mich abrupt aus meinen Gedanken. Ich sehe ihn verwundert an. Seine Miene zeigt keine Regung, doch in seinen Augen ist ein Funkeln auszumachen, so als wüsste er, was geschehen ist, und als habe er Verständnis dafür.

Dann ist Stanislaw vielleicht wirklich auf unserer Seite. Oder lockt er mich in eine Falle und liefert mich an die Gestapo aus? Es ändert nichts daran, dass ich zu Krysia zurück muss. Zu Fuß benötige ich Stunden, doch so viel Zeit bleibt mir nicht mehr. Ich muss das Risiko eingehen. “Ja, bitte, Stanislaw. Zu Krysias Haus, und das bitte so schnell wie möglich.”

Er nickt und lässt mich einsteigen, dann schließt er die Tür hinter mir und setzt sich ans Steuer. Die Sirenen sind inzwischen unerträglich laut, die Polizeifahrzeuge müssen sich jetzt direkt über uns auf der Brücke befinden. Stanislaw gibt Gas und rast los. Fast wie ein Verrückter durchquert er die Stadt, hält an keiner Kreuzung an und biegt mit so hoher Geschwindigkeit in Seitenstraßen ein, dass ich fürchte, der Wagen könnte umkippen. Während ich mich am Beifahrersitz festklammere, mache ich mir Sorgen, er könnte mit seinem Fahrstil Aufmerksamkeit erregen. Ich fürchte, die Polizei könnte uns anhalten, doch dann wird mir bewusst, dass ich im Wagen eines hochrangigen Nazi-Offiziers sitze. Niemand würde sich trauen, uns anzuhalten.

Ich lehne mich auf der Sitzbank zurück und fühle mich auf einmal von den jüngsten Ereignissen überwältigt. Vor mir sehe ich das Gesicht des Kommandanten. Denk nicht nach, ermahne ich mich, doch es ist zu spät. Plötzlich stehe ich wieder auf der Brücke, vor mir ist der Kommandant, er hält seine Waffe auf mich gerichtet und schaut mich mit gequälter Miene an. In seinen Augen stand eine solche Verzweiflung geschrieben. Die Wahrheit über mich zu erfahren war für ihn so, als würde er Margot noch einmal verlieren. Er ertrug es nicht, diesen Schmerz ein zweites Mal zu erleiden.

Im Geiste höre ich die Schüsse und zucke zusammen, so als wären sie real. Wäre er wirklich dazu fähig gewesen, mich zu erschießen? Ich möchte gern glauben, dass er es nicht gekonnt hätte. Doch er hat Margot auch geliebt – wie soll ich also Gewissheit haben, was geschehen wäre, hätte Marta nicht eingegriffen?

Marta. Ich hätte sie nicht zurücklassen dürfen, denke ich schuldbewusst. Sie hat mir das Leben gerettet, aber ich habe sie dem Tod überlassen. Andererseits stimmt es, was sie zu mir sagte: Es geht ums Überleben. Ich musste fortgehen, weil ich es konnte.

Meine Gedanken kehren zu meiner aktuellen Situation zurück. Es ist nur eine Frage von Minuten, bis die Gestapo sieht, was dem Kommandanten widerfahren ist. Dann beginnen die Ermittlungen, und man findet zweifellos heraus, dass ich eine Affäre mit ihm hatte. Ich muss Kraków so schnell wie möglich verlassen. Sekundenlang überlege ich, ob ich mich direkt auf den Weg nach Czernichów machen und nach Jakub suchen soll, ohne mich erst noch von Krysia zu verabschieden. Aber ich muss noch einmal zu ihr gehen, ich muss meine Kleidung und den Proviant holen und ihr berichten, was geschehen ist.

Ich sehe aus dem Seitenfenster. Wir haben fast den Kreisverkehr erreicht, von dem man zu Krysias Haus gelangt. Ich beuge mich vor. “Stanislaw, würden Sie bitte hier anhalten?” Er stoppt den Wagen und sieht verwirrt nach hinten. “Das Motorengeräusch würde mitten in der Nacht zu viel Aufmerksamkeit erregen. Lassen Sie mich hier aussteigen.” Er nickt und dreht sich um, weil er aussteigen will, um mir aus dem Wagen zu helfen. “Nein, das geht schon”, sage ich schnell. “Das schaffe ich auch allein.”

Er will mir widersprechen, und mir wird bewusst, dass er sich nach allem, was heute Nacht geschehen ist, lediglich daran stört, nicht seinen gewohnten Aufgaben als Chauffeur nachkommen zu dürfen. Dann jedoch ändert sich sein Gesichtsausdruck, und er erwidert: “Wie Sie wünschen.”

“Danke.” Ich öffne die Tür, drehe mich aber noch einmal zu ihm um. “Hören Sie, nach heute Nacht wird man Fragen stellen. Es ist für Sie hier vielleicht nicht mehr sicher.”

Doch er schüttelt den Kopf und sieht mich entschlossen an. “Keine Sorge, ich werde schon damit fertig.”

Er wäre sicher ein guter Widerstandskämpfer gewesen, überlege ich. Doch dann fällt mir Aleks Bemerkung ein, in der Burg seien noch andere Spione für die Bewegung aktiv. Aber Stanislaw ist doch sicher kein … ich will ihn gerade fragen, da beugt er sich über die Rückenlehne und gibt mir die Hand. “Viel Glück”, sagt er.

Ja, er hat recht. Es ist besser, manche Dinge nicht auszusprechen. Ich ergreife seine Hand, dann beuge ich mich etwas ungeschickt nach vorn und gebe ihm einen Kuss auf seine glatte, volle Wange. “Gott beschütze Sie.” Ich steige aus und drücke die Tür leise ins Schloss.

Mit zügigen, fast lautlosen Schritten biege ich um die Ecke in die verlassene Straße ein, bleibe aber gleich wieder stehen, als ich zu meiner Überraschung in Krysias Haus alle Lichter brennen sehe. Selbst wenn sie schon wach sein sollte, würde sie nur die Lampen anmachen, die unbedingt nötig sind. Etwas stimmt da nicht, und ich renne los.

Nach einigen Metern muss ich unvermittelt innehalten, da ich ein Militärfahrzeug vor dem Gebäude parken sehe. Jemand ist ins Haus gekommen, wird mir bei diesem Anblick klar. Mir gefriert das Blut in den Adern: Die Gestapo ist zurück.

Was soll ich nur machen? Ich muss Krysia und Łukasz helfen, aber wie? Ich kann nicht einfach mitten in der Nacht mit einem blutverschmierten Kleid ins Haus kommen und fragen, was dort los ist. Das würde mehr Fragen nach sich ziehen, als ich beantworten könnte. Ich überlege, ob ich weglaufen soll. Wer überleben kann, muss auch überleben, hat Marta gesagt. Andererseits kann ich Krysia und Łukasz nicht im Stich lassen. Ich muss irgendetwas unternehmen. Verzweifelt verstecke ich mich hinter einer Hecke.

In geduckter Haltung bewege ich mich um das Grundstück herum bis zum Garten hinter dem Haus, so wie es Jozef in jener Nacht tat, als er mich aus dem Ghetto zu Krysia brachte. Ich werfe einen Blick durch das Fenster in der Diele, doch da ist niemand. Sie müssen oben im ersten Stock sein. Ich mache einen langen Hals, um sehen zu können, was sich dort oben abspielt, kann durch die Vorhänge aber nur die Köpfe von mindestens zwei Männern ausmachen. Was sie tun, entzieht sich meinen Blicken. Ich ziehe mich in den Schutz der Büsche zurück und überlege krampfhaft, was hier los ist. Warum sind diese Männer hier? Sollten sie etwa wissen, was dem Kommandanten zugestoßen ist, und nach mir suchen? Nein, das ist unmöglich. Erstens können sie in der kurzen Zeit diesen Zusammenhang überhaupt nicht hergestellt haben, zweitens können sie nicht vor uns eingetroffen sein. Vielleicht sind es die beiden Gestapo-Leute vom letzten Mal, die ihre Drohung wahrgemacht haben und mit weiteren Fragen hergekommen sind. Ich sehe zur Laube, die einer der beiden Männer beim vorherigen Besuch unbedingt hatte inspizieren wollen, aber die Tür ist verschlossen. Vielleicht hat jemand aus der Bewegung meinen Fluchtplan verraten, und sie sind hier, um mein Entkommen zu verhindern?

Ich sollte Hilfe holen, geht es mir durch den Kopf, doch dann muss ich stumm auflachen. Da ist niemand mehr, der mir helfen könnte. Ich denke zurück an Marta, die mit der Waffe in der Hand auf der Brücke kauerte und bereit war, im Kampf zu sterben. Sie hätte gewusst, was zu tun ist.

In diesem Moment erinnere ich mich an die Pistole des Kommandanten. Fast hätte ich vergessen, dass sie in meinem Rockbund steckt. Ich ziehe sie, aber ich habe noch nie in meinem Leben eine Waffe abgefeuert, sodass ich keine Ahnung habe, ob ich das überhaupt kann. Der Kommandant hat zwei Schüsse abgegeben, also sollte ich noch Munition für vier Schüsse haben. Nachdenklich drehe ich die Pistole in der Hand hin und her. Plötzlich höre ich einen lauten Knall aus dem ersten Stock und zucke vor Schreck zusammen. Irgendetwas ist passiert, ich muss ins Haus und sehen, was dort los ist. Ich lege einen Finger an den Abzug der Waffe und halte sie vor mich, während ich um die Ecke laufe. Kurz bevor ich an der Tür angelangt bin, höre ich Schritte. Jemand kommt die Treppe herunter. Mit einem hastigen Satz nach hinten bringe ich mich in Sicherheit und warte ab.

Durch das Fenster sehe ich drei Gestapo-Leute in die Diele kommen. Keiner von ihnen war beim letzten Mal hier. Die Haustür wird geöffnet. “Die alte Frau hat gelogen”, höre ich einen der Männer sagen, als sie den Garten betreten. O Gott, sie haben Krysia verhört. Ich frage mich, ob sie Łukasz gesehen haben.

“Ich glaube nicht, dass sie noch mehr wusste”, meint ein anderer. Seine Stimme klingt leiser, folglich entfernen sie sich von mir und bewegen sich in Richtung Gartentor.

Der erste Mann erwidert: “Das ist jetzt auch nicht mehr wichtig.” Panik erfasst mich. Was haben sie getan? Ich muss mich zwingen, so lange zu warten, bis sie endlich abgefahren sind. Als sie eingestiegen sind und das Motorengeräusch sich schnell entfernt, stürme ich ins Haus.

“Krysia!”, rufe ich. Es kommt keine Antwort. “Krysia!”

Nun sehe ich, dass im Haus hoffnungsloses Chaos herrscht. In der Küche liegen die Überreste von zahllosen zerschmetterten Gläsern und Tellern auf dem Boden verstreut. Im Salon hat man die Kissen aufgerissen, alles ist mit Federn übersät. Ich gehe zum Kamin und entdecke einen zerschlagenen Bilderrahmen. Als ich ihn aufhebe, sehe ich, dass es sich um mein Hochzeitsfoto handelt, das Krysia noch in der ersten Nacht versteckte. Offenbar haben die Männer es gefunden, sodass mein Geheimnis nicht mit dem Kommandanten gestorben ist, sondern jetzt bei der Gestapo weiterlebt. Über ein Jahr lang habe ich meine Ehe verschweigen können, und dann wird mein Geheimnis an einem einzigen Tag gleich zweimal gelüftet.

Stechender Rauch zieht mir auf einmal in die Nase. Das ist nicht der übliche Brandgeruch, wenn die Nachbarn im Garten Laub verbrennen. Dieser Rauch ist konzentrierter und … er kommt hier aus dem Haus. Ich sehe mich nach dem Feuer um, kann aber nichts entdecken. Es muss im Stockwerk über mir brennen. “Krysia! Łukasz!”, brülle ich voller Verzweiflung und stürme nach oben, dabei nehme ich jeweils zwei Stufen auf einmal.

“O nein!”, rufe ich. Am Kopf der Treppe liegt Krysia auf dem Boden, ihre Augen sind geschlossen. Die Arme liegen über dem Kopf, die Beine sind unnatürlich verdreht. Sie bewegt sich nicht. “Krysia!”, schreie ich, knie mich neben sie und hebe ihren Kopf ein wenig an. Ich schüttele sie behutsam, aber es kommt keine Reaktion. An der Schläfe entdecke ich eine große Schwellung, die von einem Sturz oder einem kräftigen Schlag stammen könnte. Ihre Haut fühlt sich kalt an. Vergeblich versuche ich, ihren Atem festzustellen. Verlass mich bitte nicht, Krysia, flehe ich sie stumm an. Nicht jetzt, wenn du mir sagen musst, was ich tun soll. Ich öffne ihren Mund und versuche vergeblich, sie wiederzubeleben. Dann fühle ich nach ihrem Puls, doch da ist nichts mehr. Mir wird klar, dass es zu spät ist. Sie ist tot. “Oh, Krysia”, schluchze ich, drücke sie an mich und wiege sie sanft hin und her, so wie sie es mit mir immer tat, wenn sie mich trösten wollte.

Plötzlich höre ich hinter mir ein lautes Knistern. Das Feuer! Ich lege Krysias Kopf vorsichtig auf den Boden und stehe auf. Der Rauch scheint aus allen Richtungen zu kommen, aber wo die Flammen wüten, kann ich nach wie vor nicht sagen. Ich könnte versuchen, das Feuer zu löschen. Früher oder später jedoch werden die Nachbarn auf den Qualm aufmerksam werden, und dann wird es mir nicht mehr möglich sein, unbeobachtet meine Flucht anzutreten. Ich muss den Jungen finden und dann sofort das Haus verlassen.

Ich laufe in Łukasz’ Zimmer, wo der Rauch so dicht ist, dass ich kaum etwas sehen kann. “Łukasz!”, rufe ich, halte mir schützend die Hand vor den Mund und gehe geduckt weiter. In seinem Kinderbett ist er nicht, er liegt auch nicht auf dem Boden. “Łukasz!” Ich laufe weiter und suche in Krysias und schließlich in meinem Schlafzimmer nach dem Jungen. Überall sind deutliche Anzeichen zu sehen, dass die Gestapo hier alles auf den Kopf gestellt hat. Jedes Zimmer wurde verwüstet, Kleidung liegt verstreut, Spiegel sind zerschlagen. Aber ich kann keine Spur von Łukasz entdecken. Sollten sie ihn etwa mitgenommen haben?

Vielleicht ist er ja von den Männern unbemerkt nach draußen gelaufen, überlege ich und gehe zur Treppe. In diesem Moment höre ich von oben ein leises Knarren. Der Dachspeicher! Ich erinnere mich, wie Krysia mir erzählte, dass Verwandte den Jungen nach der Ermordung seiner Mutter auf ihrem Speicher versteckt hielten. Er muss sich beim Eintreffen der Gestapo nach oben geflüchtet haben.

Ich kehre zurück in Krysias Zimmer, öffne die Schranktür und schiebe ihre Kleider zur Seite, dann steige ich die Leiter hinauf. “Łukasz”, rufe ich durch die Öffnung. Es kommt keine Antwort, und in der Dunkelheit kann ich nichts erkennen. “Łukasz, ich bin es, Anna. Es ist alles in Ordnung, du kannst zu mir kommen.”

Leises Schlurfen ist zu hören, und eine winzige, warme Hand greift nach mir. “Na”, höre ich ihn sagen, als er versucht, meinen Namen zu sprechen. Dann nehme ich ihn auf den Arm und drücke den kleinen, zitternden Jungen an mich.

“Schon gut”, flüstere ich, während ich mit ihm nach unten klettere, wo der Rauch noch dichter geworden ist. Wir müssen hier schnellstens raus. Ich nehme ein Tuch, das auf Krysias Kommode liegt, und halte es Łukasz vor Mund und Nase. Als wir das Zimmer verlassen wollen, bemerke ich aus dem Augenwinkel etwas Blaues – es ist der Pullover, den Krysia für den Jungen gestrickt hat. Ihn nehme ich ebenfalls mit.

Als wir den Raum durchqueren, in dem Krysia auf dem Boden liegt, halte ich Łukasz die Augen zu, damit ihm dieser Anblick erspart bleibt. Er hat in seinem jungen Leben bereits genug Tod und Elend gesehen. Mit einem großen Schritt steige ich über Krysias Leichnam und gehe weiter zur nächsten Treppe. Dann aber bleibe ich noch einmal stehen und drehe mich zu ihr um. Krysia. Mir wird das Herz schwer. Sie war unser Ein und Alles, sie hat uns gerettet und sich um uns gekümmert, als wären wir ihre leiblichen Kinder. Letzten Endes konnte sie also doch noch Mutter spielen, denke ich traurig. Ich wünschte nur, wir könnten sie aus dem Haus bringen. Sie hat eine angemessene Beerdigung verdient, zu der Hunderte Menschen kommen, die ihr die letzte Ehre erweisen.

Aber dafür bleibt mir keine Zeit.

“Danke”, flüstere ich und schaue sie ein letztes Mal an. Ich hauche ihr einen Kuss zu, dann laufe ich mit Łukasz auf dem Arm hinaus in die kalte Morgenluft.