22. KAPITEL

Nach diesem Abend kommen wir nicht wieder auf meine Schwangerschaft zu sprechen. Einige Wochen später liegen auf meinem Bett ein neuer Rock und zwei neue Pullover. Sie sehen meiner anderen Kleidung recht ähnlich, die ich sonst zur Arbeit trage, allerdings sind die Pullover etwas länger und weiter, und der Rock hat einen dehnbaren Bund. Beides wird mir helfen, meinen Bauch für eine Weile vor den Blicken der anderen zu verbergen. Mich wundert, woher Krysia diese Kleidung bekommen haben mag.

Wenigstens wird mich niemand fragen, warum ich so warme Sachen trage, überlege ich, als ich mich erstmals neu eingekleidet auf den Weg ins Büro mache. Zwar haben wir bereits Anfang März, aber es ist noch immer bitterkalt, und den Boden bedeckt nach wie vor eine dünne Schicht aus Eis und Schnee. Wie auf ein Stichwort hin setzt ein durchdringender, frostiger Wind ein, der von den Hügeln herunterweht. Ich ziehe meinen Wintermantel enger um mich und gehe los. An der Haltestelle muss ich nur wenige Minuten warten, bis der Omnibus vorfährt. Während wir einsteigen, beobachte ich verstohlen die anderen Fahrgäste. Merken diese Leute, mit denen ich fast jeden Tag diese Strecke fahre, dass etwas anders ist? Nein, es sieht nicht so aus. Jeder hat genug mit sich selbst und dem eigenen Überleben zu tun, daran hat sich nichts geändert.

Am Morgen nach meinem Gespräch mit Krysia bin ich von Łukasz geweckt worden, der neben dem Bett stand und mit seinen winzigen Händen mein Gesicht tätschelte. Als ich in die Küche kam, war Krysia nirgends zu sehen. Ich ahnte, dass sie aus dem Haus gegangen war, um Kontakt mit der Bewegung aufzunehmen. Łukasz gab ich eine Schale mit Haferbrei, mir selbst war zu übel und ich konnte keinen Bissen herunterbekommen. Gerade begann ich nach dem Frühstück damit, etwas aufzuräumen, da hörte ich die Haustür knarren. Ich stellte das Geschirr fort und trat auf den Flur, wo Krysia den Schnee von ihren Stiefeln klopfte. “Ich habe die Nachricht übermittelt”, ließ sie mich wissen. “Jetzt können wir nur abwarten.”

An diese Worte muss ich denken, während der Bus einen Satz nach vorn macht, da die Reifen auf der vereisten Straße nur mühsam Halt finden. Wie lange kann ich noch warten? Krysias Bemerkung über meine Schwangerschaft geht mir nicht aus dem Kopf: Der Kommandant darf davon nichts erfahren. Zum Glück muss ich meinen Zustand nur im Büro vor ihm verbergen. Seit Wochen nimmt seine Arbeit ihn so sehr in Anspruch, dass er kaum einmal den Versuch unternimmt, sich mit mir nach Feierabend zu treffen. Seine hastigen Entschuldigungen akzeptiere ich nur zu gern. Würde er jetzt versuchen, mich zu berühren, dann wäre ihm die Wahrheit sofort offenkundig.

Meine Gedanken wandern weiter zu Jakub. Krysia sprach von der Möglichkeit, dass ich wieder mit ihm zusammenkomme und wir gemeinsam die Stadt verlassen. Natürlich kann sie das nicht mit Gewissheit sagen, doch allein der Gedanke, der einem fast vergessenen Wunschtraum gleichkommt, erfüllt mich mit Hoffnung. Doch wohin sollen wir gehen? Wie sollen wir unseren Lebensunterhalt verdienen? Für Wissenschaftler und Bibliothekarinnen gibt es jetzt sicher keine Stellen. Allerdings habe ich mich in der Zeit, die ich nun für den Kommandanten arbeite, zu einer guten Sekretärin entwickelt. Ich muss flüchtig lächeln, wenn ich über diese Ironie nachdenke, dass mir der Feind auch noch eine Ausbildung spendiert hat. Doch meine Belustigung macht schnell einer wachsenden Nervosität Platz. Selbst wenn wir unbehelligt sollten fliehen können, wie wird sich dann unser gemeinsames Leben gestalten? Ich will es mir eigentlich nicht eingestehen, doch als Jakub mich für den einen Tag besuchte, da gingen wir zeitweise so befangen miteinander um, als wären wir Fremde. Ich sage mir zwar, das wird sich legen, wenn wir erst wieder genug Zeit zusammen verbringen, dennoch bin ich davon nicht restlos überzeugt. Der Krieg und all seine Begleiterscheinungen haben jeden von uns zu einem anderen Menschen gemacht. Wie können wir da erwarten, dass zwischen uns alles wieder so sein wird wie früher?

Aber es gibt auch andere Gründe, die mich zögern lassen: Krysia und Łukasz. So wie ich monatelang von einer Zukunft mit Jakub träumte, so bin ich auch immer davon ausgegangen, dass die beiden weiter bei uns bleiben werden. Krysia erwähnte, Łukasz werde mich womöglich nicht begleiten können, und über ihre eigene Zukunft oder eine eventuelle Flucht hat sie gar kein Wort verloren. Für mich ist es unvorstellbar, sie beide zurückzulassen und Krysia den Fragen ausgesetzt zu wissen, die sie zweifellos über sich ergehen lassen muss, wenn ich von einem Tag auf den anderen verschwinde. Nein, ich muss Krysia überreden, dass sie und der Junge mich begleiten. Wenn sie nicht will, werde ich mich weigern, sie zu verlassen. Wir sind jetzt eine Familie.

Eine Familie. Mir läuft ein Schauer über den Rücken, da ich an meine Eltern denken muss, die ich seit so langer Zeit nicht gesehen habe. Krysia versprach mir, sich nach ihnen zu erkundigen, aber an ihrem Blick konnte ich erkennen, dass sie es für ein aussichtsloses Unterfangen hielt. Doch wie kann ich aus der Stadt flüchten, wenn ich damit meine Eltern endgültig im Stich lasse?

Plötzlich bremst der Busfahrer scharf ab und reißt mich damit aus meinen Gedanken. Nervöses Getuschel macht sich unter den Fahrgästen breit. In jüngster Zeit hat die Gestapo neue Kontrollpunkte auf allen wichtigen Zufahrtsstraßen zur Stadt eingerichtet. Immer wieder werden Fahrzeuge willkürlich herausgewunken und durchsucht. Ich selbst habe mitbekommen, wie man Automobile und Pferdefuhrwerke anhält, wie die Leute am Straßenrand stehen und Fragen zu ihrer Person und ihrem Fahrtziel beantworten müssen. Aber das hier ist für mich das erste Mal, dass ein Omnibus gestoppt wird. Einen Moment lang kommt mir der Gedanke, sie könnten nach mir suchen. Vielleicht hat jemand aus der Bewegung nach seiner Verhaftung zu reden begonnen. Doch dann halte ich mir vor Augen, wie albern diese Überlegung ist. Wenn die Gestapo mich festnehmen wollte, könnte sie das jeden Tag in meinem Büro oder bei Krysia zu Hause tun. Es ist nur eine Routinekontrolle.

Zwei Gestapo-Leute steigen in den Bus ein und brüllen uns an, wir sollen aussteigen. Hastig greift jeder nach seiner Tasche und befolgt diese Anweisung. Ich vermeide jeden Blickkontakt mit den Männern, als ich an ihnen vorbeigehe. Draußen stehen zwei weitere Gestapo-Leute, jeder von ihnen hat einen großen Hund an der Leine. Ich stelle mich in die Gruppe der anderen Fahrgäste, die Deutschen durchsuchen unterdessen den Bus. Keiner von uns sagt ein Wort, während wir in der Kälte ausharren. Zehn Minuten verstreichen, dann fünfzehn. Ich werde zu spät zur Arbeit kommen und kann mir lebhaft vorstellen, wie der Kommandant zur Uhr schaut, ungeduldig im Büro auf und ab geht und sich wundert, wo ich bleibe. Einen Moment lang erwäge ich, die Gruppe zu verlassen und das letzte Stück bis zur Wawelburg zu Fuß zurückzulegen. Das ginge viel schneller, als darauf zu warten, dass man uns endlich weiterfahren lässt. Doch ich entscheide mich dagegen, da ich keine Aufmerksamkeit auf mich lenken möchte.

Zwanzig Minuten verstreichen, dann endlich verlassen die Männer den Bus und geben uns das Zeichen, wieder einzusteigen. Während wir ihre Anweisung befolgen, stehen die Gestapo-Leute an der Tür und verlangen von einigen, anscheinend willkürlich ausgewählten Fahrgästen, dass sie sich ausweisen sollen. Ich halte meine Papiere bereit, werde aber durchgewunken. Als alle wieder Platz genommen haben, stellt sich ein Gestapo-Offizier auf die unterste Stufe der Tür und brüllt: “Klopowicz, Henrik!” Im Bus herrscht Stille. Der Offizier wiederholt den Namen, sein Gesicht verfärbt sich vor Wut rot. Aus dem Augenwinkel bemerke ich, wie ein Mann zaghaft die Hand hebt. Sein Gesicht ist kreidebleich. Ich drehe mich nicht zu ihm um, sondern sehe weiter stur geradeaus. “Los, schnell!”, brüllt der Deutsche den Mann an. Der steht auf und begibt sich nur widerstrebend zur Tür, wo der Offizier ihn am Arm packt und nach draußen zerrt. Dann gehen die Bustüren zu.

Seit ich meine Stelle angetreten habe, ist dieser Mann jeden Tag mit mir in die Stadt gefahren. Auf mich wirkte er immer unscheinbar, wie irgendein Arbeiter unter vielen. Ich frage mich, was er verbrochen hat oder was ihm unterstellt wird, dass man ihn gleich festnimmt. Etwas muss vorgefallen sein, denn es kommt mir nicht so vor, als hätte man ihn willkürlich aus dem Bus geholt. Mir schaudert, als der Bus sich erneut in Bewegung setzt.

Gut eine Viertelstunde später habe ich die Wawelburg erreicht und eile die Treppen hinauf. Malgorzata sitzt bereits an ihrem Schreibtisch, als ich den Empfangsbereich betrete. Die Uhr an der Wand zeigt halb neun. Der Kommandant wartet schon seit einer halben Stunde auf mich.

“Dzień dobry”, sagt Malgorzata herablassend. Ihre Begrüßung kommt einem Tadel gleich: Sie sind zu spät, ich nicht.

Ich nicke ihr flüchtig zu und eile weiter. Sie will noch etwas anfügen, doch ich bin bereits in mein Vorzimmer verschwunden und schließe die Tür hinter mir. In meinem Büro ist es warm, im Ofen lodert ein Feuer. Offenbar hat Malgorzata das für mich gemacht. Manchmal gibt sie sich wirklich Mühe, überlege ich, während ich Hut und Handschuhe ablege. Ich sollte tatsächlich etwas netter zu ihr sein.

Als ich meinen Mantel ausziehen will, wird die Tür zum Empfangsbereich geöffnet. Es ist Malgorzata.

“Ja?”, frage ich und sehe über die Schulter zu ihr.

“Der Kommandant ist bei einer Besprechung am Außenring”, sagt sie.

Ich drehe mich zu ihr um. “Hat er erwähnt, wann er zurück sein wird?”

Sie schüttelt den Kopf. “Nein, ich soll Ihnen nur ausrichten …” Mitten im Satz hält sie inne und sieht mich mit großen Augen an.

“Was ist los? Stimmt etwas nicht?”

Malgorzata antwortet nicht, und als ich ihrem Blick folge, wird mir der Grund für ihr Verhalten klar. Sie starrt auf meinen Bauch, ihr Mund steht weit offen. Beim Ausziehen ist mein Pullover am Mantel hängen geblieben, und ich habe ihn unbemerkt so weit hochgezogen, dass mein rundlicher Bauch zu sehen ist.

“Malgorzata …”, setze ich an, weiß aber nicht, wie ich weiterreden soll.

Sie will so überhastet mein Büro verlassen, dass sie auf dem Weg zur Tür über den Teppich stolpert. Dabei bekomme ich sie am Arm zu fassen, sodass sie nicht hinfällt. “Warten Sie bitte …” Sie reißt sich los. “Ich kann es erklären”, sage ich, obwohl ich gar nicht wüsste, wie ich meine Schwangerschaft erklären sollte.

Ohne mich anzusehen, murmelt sie: “Ich muss gehen. Ich habe noch viel Arbeit zu erledigen, bis der Kommandant zurückkommt.”

“Malgorzata”, versuche ich einen weiteren Anlauf, doch sie geht und wirft die Tür hinter sich zu.

O Gott! Langsam lasse ich mich auf meinen Stuhl sinken, während mir übel wird. Sie hat meinen Bauch gesehen, sie weiß, dass ich schwanger bin. Ich überlege, ob ich zu ihr laufen und sie bitten soll, nichts darüber verlauten zu lassen. Aber das ist sinnlos. Sie hat seit Monaten darauf hingearbeitet, meine Gunst zu gewinnen. Sie hoffte, ich würde sie zu meiner Verbündeten und Vertrauten machen, wo ich eine so gute Beziehung zum Kommandanten habe. Jetzt muss sie nicht länger nett zu mir sein, denn sie hat die Information, die sie benötigt, um mich loszuwerden. Es ist bestimmt nur eine Frage der Zeit, bis sie es dem Kommandanten erzählt.

“Ich habe Kontakt mit der Bewegung aufgenommen”, erfahre ich einige Tage später von Krysia, nachdem wir Łukasz zu Bett gebracht haben. Wir sitzen im Salon und sortieren die Kleidungsstücke, die sie den ganzen Tag über gewaschen hat.

Überrascht sehe ich auf und vergesse das Handtuch, das ich eben zusammenfalten wollte. “Tatsächlich? Mit wem?”

“Mit Jozef. Er war der junge Mann, der dich aus dem Ghetto herbrachte.”

Ich rufe mir sein Gesicht ins Gedächtnis. Bis heute kannte ich nicht seinen Namen. “Sagte er etwas über …”

“Ich habe ihn als Erstes nach Jakub gefragt”, unterbricht sie mich sanft. “Er weiß auch nicht mehr als wir. Es tut mir leid.”

“Oh”, mache ich entmutigt.

“Aber die guten Neuigkeiten sind die, dass ich ihn dazu überreden konnte, dich aus Kraków wegzubringen. Er glaubt, er kann in der letzten Märzwoche etwas für dich arrangieren. Glaubst du, bis dahin kannst du noch durchhalten?”

Ich zögere und rechne nach. Drei Wochen. Drei weitere Wochen, in denen ich so tun muss, als sei alles in Ordnung, und nur beten kann, dass der Kommandant nicht hinter mein Geheimnis kommt. Meine Gedanken kehren zurück zu Malgorzata. Vielleicht habe ich es mir auch nur eingebildet, überlege ich nun, und sie hat in Wahrheit gar nichts bemerkt. Seit diesem Morgen haben wir kein Wort mehr miteinander gesprochen, und ich mache immer einen großen Bogen um sie, indem ich vor ihr ins Büro komme und erst Feierabend mache, wenn ich weiß, dass sie gegangen ist. Ich möchte eine weitere Konfrontation lieber vermeiden. Oder aber sie weiß es, wird es jedoch dem Kommandanten nicht sagen. Nein, dieser Gedanke ist nun wirklich so abwegig, dass er mich in die Realität zurückholt. Ich habe ihr erstauntes Gesicht gesehen, gefolgt von einem überheblichen, siegessicheren Lächeln. Sie kennt mein Geheimnis, und nun lauert sie wie eine Katze, die auf den besten Moment zum Zuschlagen wartet. Ich bin mir sicher, sie hätte es dem Kommandanten längst erzählt, würde der nicht schon die ganze Woche von einer Besprechung zur nächsten hetzen.

“Emma …”, höre ich Krysia sagen. “Hörst du mir überhaupt zu?”

Ich antworte nicht sofort. Es wäre besser gewesen, Krysia von meiner unerfreulichen Begegnung mit Malgorzata zu erzählen. Ich habe es aus zwei Gründen nicht getan: Zum einen will ich sie nicht noch weiter beunruhigen, zum anderen schäme ich mich, so nachlässig gewesen zu sein, gleich am ersten Tag aufzufallen. Ich habe keine Ahnung, wie ich es ihr jetzt noch beibringen soll. Es bringt mich in Verlegenheit, etwas vor ihr verheimlicht zu haben, was sie hätte erfahren müssen. “Ich höre dir zu”, erwidere ich schließlich.

“Kannst du noch drei Wochen durchhalten?”

Ich muss schlucken, als ich ihre Frage höre. “Ich glaube ja.”

“Gut. Das dürfte ohnehin der ideale Zeitpunkt sein. Hoffentlich ist das Wetter bis dahin besser, und dein Bauch noch nicht allzu sichtbar. Jozef kann dann eine Begleitung für dich arrangieren.”

Ihre Worte lassen mich aufschrecken. Eine Begleitung bedeutet, dass ich mich nicht mit Jakub auf den Weg machen werde. Ich will Krysia fragen, halte mich dann aber zurück. Sie sagte bereits, dass es keine Neuigkeiten von ihm gibt, und ich will nicht undankbar erscheinen. “Was wird aus dir und Łukasz?”, frage ich stattdessen. Verständnislos legt sie den Kopf schräg. “Ich will damit sagen, wenn ich von hier weggehe, dann wird man dir Fragen stellen. Vor allem der Kommandant wird wissen wollen, wo ich bin.”

“Das habe ich mir natürlich schon durch den Kopf gehen lassen. Falls ich hierbleibe, kann ich Ausreden vorbringen. Zum Beispiel, dass du irgendeinen Verwandten besuchst.”

Energisch schüttele ich den Kopf. Er wird niemals glauben, dass ich fortgehe, ohne mich von ihm zu verabschieden. “Aber Krysia, wenn ich weg bin, wird es hier nicht mehr sicher sein. Sobald der Kommandant durchschaut, was los ist, wird er Maßnahmen ergreifen”, rede ich auf sie ein. “Ich kann euch zwei nicht einem solchen Risiko ausliefern.”

“Das Risiko müssen wir eingehen. Wir können nicht alle gleichzeitig spurlos verschwinden. Das wäre zu schwierig, weil du nicht mit einer alten Frau und einem kleinen Kind durch die Wälder fliehen kannst. Und würden wir gemeinsam im Zug reisen, dann wäre das viel zu auffällig.”

Verzweifelt suche ich nach einem Gegenargument, doch mir will nichts einfallen, weil Krysia völlig recht hat.

“Außerdem kann ich nicht weg von hier. Ich bin eine alte Frau, hier ist mein Zuhause.”

Das lässt mich an all die alten Menschen denken, die von den Deutschen aus ihrem Zuhause verschleppt wurden. Ihnen ließ niemand die Wahl, ob sie fortgehen oder bleiben wollten, was Krysias Bemerkung unglaublich arrogant klingen lässt. Allerdings weiß ich, dass sie vor allem immer das tut, was für uns alle das Beste ist. Wäre es das Beste, wenn auch sie von hier fortginge, dann hätte sie im Handumdrehen ihre Sachen gepackt und die Tür hinter sich zugezogen.

Ich gehe zu dem Sessel, in dem sie sitzt, und will wenigstens noch einen Versuch unternehmen. Ich knie mich hin und nehme ihre Hand. “Krysia, komm mit mir”, flehe ich sie an, doch sie schüttelt den Kopf. Jede weitere Diskussion über das Thema erübrigt sich damit. “Was ist mit Łukasz?”, will ich wissen. “Er sollte nicht hier sein, wenn die Gestapo herkommt und auf der Suche nach mir das Haus auf den Kopf stellt.”

Diesmal antwortet sie nicht sofort, und ich sehe ihr an, wie sie über meine Worte nachdenkt. Es ist ein wahres Dilemma. Es ist kaum abzusehen, was riskanter ist: Łukasz hierzulassen und der Willkür der Gestapo auszusetzen oder ihn mitzunehmen und Gefahr zu laufen, dass er mit mir zusammen bei unserem Fluchtversuch festgenommen wird.

“Wenn du den Jungen mitnimmst, wirst du langsamer vorankommen”, entgegnet sie schließlich. “Das wäre riskanter.”

“Das bekomme ich schon hin”, beteuere ich.

“Du kannst jetzt nicht mehr nur an dich denken. Du hast nun ein eigenes Kind.”

“Aber …” Ich will dagegenhalten, dass Łukasz für mich auch wie ein eigenes Kind ist, doch sie unterbricht mich.

“Lass uns nicht darüber streiten. Heute müssen wir keine Entscheidung treffen.”

“Einverstanden”, lenke ich ein, setze mich wieder aufs Sofa und greife nach dem Handtuch, das ich zusammenlegen wollte. Als ich einen Moment später den Kopf hebe, bemerke ich, dass Krysia aus dem Fenster hinaus in die Dunkelheit schaut. Den Berg Kleidung auf ihrem Schoß hat sie nicht angerührt. “Was ist los?”, frage ich.

Sie dreht sich zu mir um, und zum ersten Mal bemerke ich eine tiefe Traurigkeit in ihren Augen. “Nach Marcins Tod war die Einsamkeit für mich unerträglich. Nach einer Weile gewöhnte ich mich daran, trotzdem war sie wie ein dumpfer Schmerz, der nie aufhören wollte. Bis zu dem Abend, an dem du herkamst.” Ihre Augen sind nun feucht. “Mir wird jetzt erst bewusst, wie sehr ich diese Zeit mit dir und Łukasz genossen habe. Und wie sehr du mir fehlen wirst, wenn du fort bist.”

“Ach, Krysia.” Ich gehe wieder zu ihr und lege einen Arm um ihre Schultern. Ich möchte ihr sagen, dass sich die Dinge nicht ändern werden, dass wir uns immer nah sein werden. Doch das kann ich nicht. Dass wir drei unter einem Dach leben, ist eine zufällige Gegebenheit, geboren aus Notwendigkeiten, die dem Ganzen bald wieder ein unvermeidliches Ende setzen werden.

“Er hat bereits zweimal nach Ihnen gefragt”, lässt mich Malgorzata in einem süffisanten Tonfall wissen, als ich am nächsten Morgen das Büro betrete. Überrascht sehe ich zur Uhr über ihrem Platz, da ich mich frage, ob ich zu spät bin. Aber die Uhr zeigt viertel vor acht, eine volle Viertelstunde vor meinem eigentlichen Arbeitsbeginn. Der Kommandant ist früh dran, und mir wird sogleich schlecht.

Bewahr die Ruhe, sage ich mir, als ich das Vorzimmer betrete. Vermutlich hat er einfach nur viel Arbeit nachzuholen oder einen frühen Termin. Doch mir ist längst klar, dass irgendetwas nicht stimmen kann. Der Kommandant ist in allen Dingen äußerst präzise, weshalb er auch jeden Morgen genau um acht Uhr das Haus verlässt und knapp eine Viertelstunde später im Büro ankommt. Dass er zu früh eintrifft, ist genauso undenkbar wie eine Verspätung.

Mein Herz rast, während ich meinen Mantel ablege und nach dem Notizblock greife. Die Tür zum Büro des Kommandanten steht einen Spalt offen, ich klopfe leise an. “Herr Kommandant?”, rufe ich. Es kommt keine Antwort, also rufe ich noch einmal nach ihm, diesmal etwas lauter.

“Herein.”

Ich mache die Tür weiter auf, um eintreten zu können. Der Kommandant steht am anderen Ende seines Büros und sieht aus dem Fenster. “Malgorzata sagte mir, Sie wollen mich sehen?” Ich drücke die Tür hinter mir ins Schloss.

“Ja, setz dich.” Ich nehme auf der äußersten Kante des Sofas Platz und halte Stift und Block bereit. Der Kommandant schaut nicht in meine Richtung, sondern hat den Blick weiter auf den Fluss gerichtet.

Ich hole tief Luft und kämpfe gegen den Wunsch an, aus dem Zimmer zu rennen. Eine weitere Minute vergeht, ohne dass er etwas sagt, dann noch eine. Irgendwann ist der Punkt gekommen, an dem ich es nicht länger aushalte. “Stimmt etwas nicht, Herr Kommandant?”

“Ob etwas nicht stimmt?”, wiederholt er leise, dreht sich um und kommt auf mich zu. Seine Miene wirkt aufgewühlt, er atmet bemüht aus. “Gar nichts stimmt mehr! Partisanen jagen nach Gutdünken Lokale in die Luft und töten unsere Leute! Und meine politischen Gegner wollen mir die Schuld an dieser Entwicklung zuschieben, weil sie mich loswerden wollen.”

Hoffnung keimt in mir auf. Vielleicht sind es nur die politischen Angelegenheiten, die ihm so zu schaffen machen. “Wir leben in schwierigen Zeiten”, sage ich und versuche so zu klingen, als hätte er meine Unterstützung.

“Ja.” Er setzt sich auf das Sofa neben mich, noch immer sieht er nicht zu mir. “Und dann bist da noch du.”

Mein Magen verkrampft sich. “I-ich?”, kann ich nur stammeln. Mein Herz schlägt so laut, dass ich meine eigene Stimme kaum hören kann.

“Ja, Anna. Du.” Jetzt dreht er sich zu mir um. “Möchtest du mir etwas sagen?”

Ich zögere, meine Wangen beginnen zu glühen. Er weiß etwas, aber was? Durch meine Verzweiflung der letzten Wochen habe ich fast vergessen, dass ich noch ein viel größeres Geheimnis mit mir herumtrage als nur meine Schwangerschaft. “Nein, Herr Kommandant”, erwidere ich unsicher und halte den Blick gesenkt.

“Anna.” Er beugt sich vor, legt die Finger unter mein Kinn und hebt meinen Kopf an, sodass ich ihm in die Augen sehen muss. “Sag Georg zu mir.”

Zwar hat er mir schon vor langer Zeit gestattet, ihn mit seinem Vornamen anzureden, wenn wir allein in seiner Wohnung sind, doch das ist nun das erste Mal, dass er mich auch in seinem Büro dazu auffordert. In seinen Augen erkenne ich einen sanften Ausdruck, da ist kein gegen mich gerichteter Zorn. So würde er mich nicht ansehen, wenn er herausgefunden hätte, wer ich in Wahrheit bin. In diesem Moment, in dem er sich um eine intime Nähe zu mir bemüht, wird mir klar, hinter welches meiner Geheimnisse er gekommen ist.

Er weiß also, dass du schwanger bist, überlege ich. Er scheint darüber nicht verärgert zu sein. Noch immer weiß ich nicht, was ich sagen soll. “Georg …” Sein Name fühlt sich schwer und fremd an, als er mir über die Lippen kommt. “Wie hast du es erfahren?” Ich kenne längst die Antwort darauf, aber so gewinne ich etwas Zeit, bis mir eine passende Erwiderung einfällt.

“Malgorzata erzählte es mir.”

“So?” Ich versuche überrascht zu klingen.

“Ja, sie kam zu mir, um es mich wissen zu lassen. Sie glaubte, ich würde wütend reagieren, weil du ledig bist und ein Kind erwartest. Natürlich hat sie gehofft, ich würde dir daraufhin kündigen.” Ich sehe ihn an. “Oh, mach dir deshalb keine Sorgen. Ich weiß, sie hat es schon seit langer Zeit auf deinen Posten abgesehen. Natürlich konnte sie nicht wissen, dass es mein Kind ist.” Seine Miene wird ernster. “Allerdings wünschte ich, ich hätte es von dir erfahren.”

“Es tut mir leid”, entgegne ich und rutsche unbehaglich auf meinem Platz hin und her.

“Nein, Anna, ich muss mich entschuldigen.” Er fasst meine Hände. “Ich war so sehr mit diesem Krieg beschäftigt, dass ich es nicht bemerkt und dir auch keine Gelegenheit gegeben habe, es mir zu sagen. Aber letztlich ist nicht wichtig, wie ich davon erfuhr. Wichtig ist, dass ich es jetzt weiß.” Er legt seine Hände an mein Gesicht und küsst mich auf die Stirn.

“Das heißt, du bist nicht wütend?” Mein Erstaunen ist keineswegs gespielt.

“Wütend?”, wiederholt er mit einem breiten Lächeln. “Anna, ich könnte gar nicht glücklicher sein! Du weißt, ich wollte immer Kinder haben.” Ich nicke bestätigend. “Und mit Margot … nun ja, das ist jetzt egal …” Vor meinem geistigen Auge sehe ich Margot, wie sie auf dem Boden in ihrem Blut liegt, gestorben an einem selbst zugefügten Kopfschuss, einen Arm über ihren rundlichen Bauch gelegt, um das ungeborene Leben zu schützen. Plötzlich wird mir übel. Reiß dich zusammen, ermahne ich mich und verdränge das Bild aus meinem Kopf. “Ich hätte es gern gesehen, wenn es in der traditionellen Reihenfolge vonstattengegangen wäre, also erst die Hochzeit, dann Kinder”, redet er weiter. “Dennoch stört es mich nicht, dass es anders ist.”

“Aber was werden die Leute sagen? Deine Karriere …”

Ich beobachte sein Gesicht, während er zum ersten Mal darüber nachdenkt, welcher Makel ihm anhängen wird, wenn seine ledige Assistentin von ihm ein Kind erwartet. “Ja”, sagt er bedächtig. “Wir müssen dich aus Kraków herausbringen, bevor es sonst noch jemand mitbekommt.” Welche Ironie! Genau das Gleiche hatte zuvor Krysia gesagt, als sie von meiner Schwangerschaft erfuhr. Der Kommandant springt auf und geht aufgeregt im Zimmer auf und ab. “Ich würde dich gern zu mir nach Hamburg schicken”, überlegt er. “Doch das geht nicht. Wegen der Bombardements in Norddeutschland ist es da für dich viel zu gefährlich.” Plötzlich bleibt er stehen und sieht mich an. “Ich weiß die Lösung. Meine Schwester lebt in der Nähe von Salzburg auf dem Land, dorthin werde ich dich schicken.”

Ich zucke innerlich zusammen. In Österreich bin ich ja von noch mehr Nazis umgeben als hier in Polen. Wie soll ich von dort aus je Jakub oder meine Eltern wiederfinden? Ich merke, dass er mich beobachtet und auf meine Reaktion wartet. “Herr Kommandant … ich meine … Georg, das ist sehr nett von dir, aber …” Ich suche fieberhaft nach einem geeigneten Einwand. “Aber ich kann meine Familie nicht hier zurücklassen.”

“Nein, natürlich nicht”, stimmt er mir zu. “Und du kannst auch nicht allein reisen. Krysia und Łukasz werden dich begleiten.” Ich bin zu verblüfft, um etwas zu erwidern. “Oberst Diedrichsen wird euch bis nach Wien begleiten, dort holt euch dann der Fahrer meiner Schwester ab. Was hältst du davon?”

Es klingt wie ein Todesurteil. Ich darf nicht zulassen, dass er mich wegschickt. “Georg …”, versuche ich einen erneuten Anlauf.

Er setzt sich wieder und fragt mit unüberhörbarer Ungeduld: “Was ist denn, Anna?”

“Und was ist mit dir?”, gebe ich zurück.

Nach kurzem Überlegen versteht er meinen Einwand und beginnt zu lächeln. “Du meinst, was ist mit uns?”

“Ja”, sage ich schnell. “Ich könnte es nicht ertragen, so weit von dir weg zu sein.”

“Mir geht es nicht anders”, gesteht er und streicht über meine Wange.

“Vielleicht kann ich mich ja irgendwo in Kraków verstecken …”

Sofort schüttelt er den Kopf. “Es tut mir leid, aber das ist unmöglich. Die Gefahr ist viel zu groß, dass jemand es herausfindet. Und so, wie der Krieg im Moment läuft …” Er stockt und sieht weg. “Ich möchte nicht, dass du mit unserem Kind in dieser Stadt bleibst. Und außerdem ist die medizinische Versorgung in Österreich viel besser. Es ist wirklich am besten so für dich. Du wirst morgen abreisen, und sobald der Krieg beendet ist und ich es einrichten kann, werde ich zu dir kommen. Dann heiraten wir, einverstanden?”

Ich will ein anderes Argument anführen, gebe es aber auf. In dieser Hinsicht ist der Kommandant wie Jakub – wenn er einen Entschluss gefasst hat, lässt er sich davon nicht wieder abbringen. “Gut”, sagt er, da er mein Schweigen als Zustimmung deutet. “Dann wäre das geklärt. Ich werde alles veranlassen, und morgen früh um neun Uhr wirst du Kraków verlassen.”

Mein Blick wandert zur Uhr. Vierundzwanzig Stunden. Ich muss das Büro verlassen und Krysia davon in Kenntnis setzen. “Georg”, beginne ich, während ich aufstehe. “Es tut mir leid, aber ich fühle mich sehr erschöpft. Wenn es nichts Dringendes zu erledigen gibt, könnte ich dann nach Hause fahren?”

Er erhebt sich ebenfalls. “Natürlich! Es liegt bestimmt an deiner Schwangerschaft. Fahr nach Hause und ruh dich aus. Du brauchst deine Kräfte für die Reise.”

“Danke.” Dann gehe ich zur Tür.

“Anna”, ruft er mir nach, ich drehe mich zu ihm um. “Da … wäre noch etwas.”

Widerstrebend kehre ich um und gehe zu ihm. “Ja?”

“Werden wir uns heute Abend sehen?” Er weicht meinem Blick aus und fährt sich durchs Haar. “Weißt du, es ist sehr lange her, dass wir beide ein wenig Zeit für uns hatten, und da du nun morgen abreist, könnte es eine ganze Weile dauern …” Er sieht mich wieder an. “Was denkst du?”

Verwundert mustere ich ihn. Nach allem, was geschehen ist, kann er doch keinen romantischen Abend im Sinn haben. “Ich … ich weiß nicht”, antworte ich.

“Bitte”, beharrt er. “Nur für eine Weile.”

Ich denke über sein Anliegen nach. Das Letzte, was ich will, ist eine weitere Nacht mit dem Kommandanten. Aber ich kann es mir nicht leisten, ihn misstrauisch zu machen. Da ihm mein Zögern nicht entgeht, sieht er rasch zur Tür, um sich davon zu überzeugen, dass niemand hereingekommen ist. Dann zieht er mich in seine Arme und blickt mir tief in die Augen. Mein Herz schlägt schnell und heftig – so wie jedes Mal, wenn ich ihm nahe bin. Ich frage mich, ob er es wohl auch spüren kann. Er gibt mir einen kurzen, intensiven Kuss, dann lässt er mich gleich wieder los, sodass ich auf Abstand zu ihm gehen kann. “Also? Was sagst du?”, fragt er, als sollte mich sein Kuss auf magische Weise zum Einlenken bringen.

“Einverstanden”, willige ich umgehend ein, denn im Augenblick gibt es für mich nichts Wichtigeres, als so schnell wie möglich das Büro zu verlassen und mich auf den Weg zu Krysias Haus zu machen.

“Hervorragend. Stanislaw wird dich um acht Uhr abholen. Soll er dich jetzt nach Hause fahren?”

“Nein, vielen Dank”, lehne ich ab. “Ich muss unterwegs noch einige Besorgungen machen.”

“Gut, dann sehen wir uns heute Abend.” Er wendet sich ab und begibt sich zu seinem Schreibtisch. “Wenn du gehst, schick bitte Malgorzata zu mir, ja?”, bittet er mich.

“Jawohl, Herr Kommandant”, erwidere ich. Seine Bitte ist so routinemäßig, als wäre es ein ganz normaler Arbeitstag und als hätte es unsere Unterhaltung nie gegeben. Doch am Tonfall erkenne ich, dass dies für Malgorzata der letzte Arbeitstag in der Burg ist, weil sie mich anschwärzen wollte und sie zu viel weiß.

Im Vorzimmer ziehe ich schnell meinen Mantel an, dann nehme ich meine Tasche und gehe nach draußen in den Empfangsbereich. “Der Kommandant will Sie sprechen”, lasse ich Malgorzata im Vorbeigehen wissen. Sie weicht meinem Blick aus, springt sofort auf und eilt zur Tür. Da sie mich so früh am Morgen das Büro verlassen sieht, wird sie wohl denken, ich sei gefeuert worden und sie dürfe jetzt endlich meine Nachfolge antreten. Ich fühle mich fast zu erschlagen, um sie zu bemitleiden. Auf dem Weg nach draußen muss ich mich zwingen, dass ich nicht renne, damit ich endlich das Hauptquartier der Nazis hinter mir lassen kann.