20. KAPITEL

“Gute Nacht”, sage ich zu Stanislaw, als ich vor dem Wohnhaus des Kommandanten aus dem Wagen steige. Während er davonfährt, stehe ich einen Moment lang da und sehe mich um. Es ist Ende Dezember, und es hat eben erst aufgehört zu schneien. Obwohl wir bereits sechs Uhr am Abend haben und die Sonne längst untergegangen ist, scheint der Himmel doch zu strahlen. Den Boden überzieht eine zentimeterhohe Schneeschicht, die alles bedeckt und es unmöglich macht, den Fußweg von der Fahrbahn zu unterscheiden. Ich bücke mich und nehme eine Handvoll Schnee auf, halte ihn gegen meine Wange und atme tief seinen Geruch ein. Die Stadt kommt mir leer und merkwürdig still vor.

Fast drei Wochen sind seit meiner Unterredung mit Alek vergangen. Zuerst hatte ich gedacht, ich könnte diese Maskerade nicht länger fortsetzen, da ich nun von der Vergangenheit des Kommandanten und den Plänen der Nazis ebenso weiß wie von der Tatsache, dass die Bewegung jeden Moment zu einem Gegenschlag ausholen wird.

Ich erinnere mich, dass ich in meiner Jugend einmal einen Roman las, in dem der Held in die Zukunft blicken konnte. Ich sagte zu meinem Vater, wie wundervoll es doch wäre, diese Gabe zu besitzen, doch er schüttelte den Kopf und hielt dagegen. “Die Unberechenbarkeit ist das Beste, was das Leben zu bieten hat. Die Überraschung, wer oder was hinter der nächsten Ecke auf dich wartet, hält uns am Leben. Es ist die Hoffnung. Die Zukunft zu kennen, ohne sie ändern zu können …” Abermals schüttelte er den Kopf. “Was wäre das für ein Fluch.”

Es ist tatsächlich ein Fluch, überlege ich jetzt, während ich den Schneeklumpen zu Boden fallen lasse und zur Haustür gehe. Trotz aller Enthüllungen ist es mir irgendwie gelungen, weiter für den Kommandanten zu arbeiten. Mir bleibt keine andere Wahl, nur dass ich ihn jetzt mit anderen Augen sehe. Ich stecke nicht länger den Kopf in den Sand, um zu ignorieren, wer er ist und was er macht. Es ist mir gelungen, im Büro meine widersprüchlichen Gefühle ihm gegenüber zu überspielen. Zum Glück musste ich mich auch nicht mehr privat mit ihm treffen, weil seine Arbeit ihm keine Zeit dafür ließ.

Bis jetzt. Im Lauf des heutigen Tages rief er mich zum Diktat, und mitten in einem Satz hielt er inne, beugte sich vor und nahm mir den Stenoblock aus der Hand.

Überrascht sah ich ihn an. “Herr Kommandant?”

“Anna, stimmt etwas nicht?”, fragte er irritiert.

Ja, wollte ich antworten. Du bist ein Nazi. Deinetwegen sind meine Eltern im Ghetto. Du hast zugelassen, dass dein Schwiegervater ermordet wurde, und du würdest auch Jakub töten, wenn du die Gelegenheit dazu bekämst. Deine verdammte Gestapo drang in unser Haus ein, und jetzt muss Łukasz uns womöglich verlassen. Sind das genug Dinge, die nicht stimmen? “Nein, Herr Kommandant”, erwiderte ich stattdessen mit ruhiger Stimme. “Es ist alles in Ordnung.”

Besorgt legte er eine Hand auf meine. “Du scheinst in Gedanken zu sein, was sonst nicht deine Art ist.” Während ich auf seine Hand sah, musste ich an all das Unheil denken, das dieser Mann angerichtet hat. Es kostete mich große Überwindung, nicht vor ihm zurückzuweichen.

“Es ist wirklich nichts. Alles ist in Ordnung”, wiederholte ich schnell.

“Ganz sicher?”, forschte er nach und musterte mich aufmerksam.

“Ja.” Ich überlegte, welche Erklärung ich ihm geben könnte. “Vermutlich liegt es daran, dass wir bald Weihnachten haben.”

“Das wird es sein”, erwiderte er darauf, klang aber nicht völlig zufriedengestellt. Seine Hand ließ er noch ein paar Sekunden lang auf meiner liegen, dann erst zog er sie zurück. “Nun, das wäre dann für den Augenblick alles.” Ich stand auf, froh darüber, seinen prüfenden Blicken entrinnen zu können. Doch als ich mich abwenden wollte, fasste er meinen Arm. “Sehen wir uns heute Abend?”

Seine Frage traf mich völlig unvorbereitet. Er hatte so viel zu tun, dass ich nie mit einer Einladung gerechnet hätte. Und mir stand auch nicht wirklich der Sinn danach, mit ihm die Nacht zu verbringen. Es fiel mir schon schwer genug, den ganzen Tag im Büro zu sitzen und meine Verachtung ihm gegenüber zu überspielen. Doch auch wenn ich kurz überlegte, was ich erwidern sollte, wusste ich längst, dass ich seiner Einladung folgen würde. “Ja, das wäre schön.”

Kaum hatte ich das ausgesprochen, lächelte er mich glücklich an. “Gut. Wir könnten in Ruhe zu Abend essen. Nur wir beide.” Damit zog er einen Schlüssel und etwas Geld aus seiner Tasche. “Ich muss heute Abend länger arbeiten, aber allzu spät wird es nicht. Warum machst du nicht früher Feierabend und kaufst auf dem Weg zu meiner Wohnung etwas zu essen? Du kannst es dir bequem machen und ein wenig schlafen, falls du müde bist. Ich mache hier Schluss, sobald ich kann.” Die Zuneigung, die seine Augen dabei ausstrahlten, war so ehrlich, dass ich mich für einen Moment tatsächlich zu ihm hingezogen fühlte.

Mittlerweile schneit es nicht mehr. Als ich die von einer dicken weißen Schicht überzogene Straße entlangschaue, muss ich an Jakub denken. Er hat Schnee immer geliebt. Im Winter lockte er mich jedes Mal in die Wälder, wenn es geschneit hatte. Anfangs sah ich ihn dabei an, als habe er den Verstand verloren. Als Einzelkind, das ohne großen Freundeskreis in der Stadt aufgewachsen ist, hatte ich mit Schnee wenig anfangen können. Entsprechend unverständlich waren für mich Dinge wie eine Schneeballschlacht oder das Bauen eines Schneemanns. Genauso war ich mir zunächst im Zweifel, ob es Jakubs Ernst war, als er mich aufforderte, mich rücklings in den Schnee zu legen und mit Armen und Beinen zu rudern, um die Konturen eines Engels entstehen zu lassen. Doch er konnte mich überreden, und als ich neben ihm lachend im Schnee lag und die eisige Nässe allmählich meine Kleidung durchdrang, da sah ich hinauf zum weißen Himmel, atmete die kalte, klare Luft ein und fühlte mich zum allerersten Mal richtig lebendig.

Jakub. Ich kann sein Gesicht so deutlich vor mir sehen, dass ich glaube, ich könnte es berühren. Hat er es dort warm genug, wo er sich momentan aufhält? Hat er überhaupt ein Dach über dem Kopf? Eines Tages werden wir wieder gemeinsam ausgelassen im Schnee herumtollen, das schwöre ich mir wortlos, als ich jetzt den Wohnungsschlüssel des Kommandanten aus meiner Tasche hole.

In der Wohnung angekommen, wird mir erst richtig bewusst, dass ich seit fast einem Monat nicht mehr hier gewesen bin. Es sieht unordentlicher aus als je zuvor. Zeitungen liegen herum, überall stehen benutzte Gläser. Wie kann der Kommandant nur in solchen Verhältnissen leben? Er ist doch sonst so ordentlich und genau. Vermutlich liegt es daran, dass er nur selten hier ist und die meiste Zeit im Büro oder auf auswärtigen Terminen verbringt. Ich stelle meinen Einkaufskorb auf den flachen Wohnzimmertisch und beginne aufzuräumen, damit wir später dort essen können.

Als ich die Gläser in die Küche trage, kommt es mir vor, als würde mir Margot von ihrem Foto auf dem Kaminsims aus nachschauen. Ich bleibe stehen und betrachte ihre dunklen Augen. Das Foto entstand vor der Ermordung ihres Vaters, doch ihr Blick hat bereits da etwas Trauriges, so als sei sie von einer düsteren Vorahnung erfüllt. Ich muss an das ältere Foto denken, das der Kommandant auf seinem Schreibtisch stehen hat. Auf diesem Bild sieht sie glücklich und verliebt aus. Eindringlich betrachte ich ihr Gesicht und wünschte, sie könnte mir etwas mehr darüber erzählen, wie der Kommandant früher einmal gewesen ist. Aber sie zeigt keine Regung, ihre Stimme bleibt stumm. Wir sind gar nicht so verschieden, überlege ich plötzlich. Wir sind beide von dem Mann getrennt, den wir lieben, weil der für eine höhere Sache kämpft. Ich will nur hoffen, dass meine Geschichte anders endet als ihre.

Mein Blick fällt auf die Tür zum Arbeitszimmer. Ich könnte mich jetzt dort umsehen, um festzustellen, ob ich in der letzten Zeit etwas nicht mitbekommen habe oder ob es wichtige neue Entwicklungen gibt. Doch im Moment ist mir das zu riskant, da ich nicht weiß, wann der Kommandant heimkommen wird. Nein, ich werde mich erst dann umsehen, wenn er eingeschlafen ist. Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Es ist schon eine Weile her, seit ich das letzte Mal mit ihm intim war. Seit Jakubs Besuch und seit ich von der schrecklichen Vergangenheit des Kommandanten weiß, haben wir das Bett nicht mehr geteilt. Der Gedanke, nun wieder mit ihm zu schlafen, gibt mir das Gefühl, mein Ehegelübde erneut zu brechen. Aber zugleich ist da ein Teil von mir, der sich darauf freut, wieder in seinen Armen zu liegen. Ich wünschte, ich könnte diesen Teil ignorieren. Noch lieber wäre mir, ich wüsste gar nichts von seiner Existenz. Mir schaudert, und während ich versuche, all diese Gedanken zu verdrängen, räume ich die Wohnung auf.

Wenig später trifft der Kommandant ein, als ich gerade das Abendessen auf den Tisch stelle – leichte Kost bestehend aus Brot, Aufschnitt und Käse. “Hallo.” Er beugt sich vor und gibt mir gedankenverloren einen Kuss. Sein Gesicht wirkt angespannt, und obwohl ich es zu gern wüsste, wage ich nicht, ihn zu fragen, was heute Nachmittag noch vorgefallen ist, dass sich seine Laune so verändert hat.

Ohne ein weiteres Wort stellt er seine schwere Aktentasche ab. Vielleicht wird er so beschäftigt sein, dass er heute Nacht gar keine Zeit für mich hat, überlege ich, während ich ihm ein großes und mir ein deutlich kleineres Glas Weinbrand einschenke. Doch wenn das der Fall ist, bekomme ich keine Gelegenheit, mich in seinem Arbeitszimmer umzusehen.

Ich bringe die Gläser zum Tisch und setze mich. Wenige Minuten später kommt er aus dem Schlafzimmer zurück. Seine Jacke hat er abgelegt, die Hemdsärmel sind hochgekrempelt. “Komm, setz dich zu mir”, fordere ich ihn auf und tippe leicht mit der Hand auf den Platz neben mir. Er nickt, kommt aber nicht herüber. Stattdessen stellt er sich vor den Kamin, woraufhin ich überlege, ob er in diesem Moment an Margot denkt. Doch er sieht nicht auf ihr Foto, sondern hat den Blick auf das Kaminfeuer gerichtet. Er scheint mit seinen Gedanken weit weg zu sein.

“Weihnachten steht vor der Tür”, sagt er nach einer Weile. Es klingt, als wäre ihm das eben erst aufgefallen.

“Es sind nur noch ein paar Tage”, stimme ich ihm zu. Vermutlich hätte ich selbst nicht an Weihnachten gedacht, wäre Krysia nicht auf die Idee gekommen, das ganze Haus mit Tannenzweigen zu schmücken, die sie mit roten Schleifen verziert hat. In der Stadt, in der sonst immer alle Schaufenster festlich dekoriert werden und das Aroma von Weihnachtsleckereien in der Luft hängt, geht es in diesem Jahr praktisch schmucklos zu.

“Weihnachten wurde bei uns zu Hause immer groß gefeiert”, erzählt er. Noch während ich mich frage, ob er diese Worte an mich oder an Margot richtet, fährt er fort: “Unser Vater nahm uns jedes Jahr um Mitternacht mit auf eine Schlittenfahrt durch die Wälder, damit wir den Weihnachtsmann sehen konnten, wie er uns die Geschenke bringt.” Er kommt zum Sofa und setzt sich zu mir. “Natürlich entdeckten wir ihn nie, aber wenn wir nach Hause kamen, dann hatte er sich während unserer Abwesenheit ins Wohnzimmer geschlichen und jedem von uns wunderbare Geschenke gemacht. Und am nächsten Morgen türmten sich auf dem Küchentisch die leckersten Plätzchen.” Dabei sieht er mich mit einem fast sentimentalen Lächeln an.

“Das hört sich wunderschön an”, bemerke ich dazu und lege mir in aller Eile eine Geschichte über mein Weihnachten in der Kindheit zurecht, damit ich etwas erzählen kann, falls er mich fragt.

“Wir sollten an Weihnachten etwas Besonderes machen”, erklärt er plötzlich. “Vielleicht für ein paar Tage verreisen, nur wir beide.”

Ungläubig sehe ich ihn an. Hat er den Krieg vergessen? “Georg, ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre …”

Er wird wieder ernst und erwidert rasch: “Nein, natürlich nicht.” Ich sehe, wie seine Augen abermals diesen schwermütigen Ausdruck annehmen. “Es ist dieser verdammte Krieg”, fügt er hinzu und berührt meine Wange. “Es tut mir leid, Anna. Du verdienst etwas viel Besseres.”

Da hat er wohl recht, aber nicht in der Hinsicht, die er meint. Ich verdiene es, mit meinem Ehemann zusammen zu sein. “Keineswegs”, widerspreche ich dennoch, auch wenn sich mir dabei der Magen umdreht.

“Eines Tages werde ich das wieder gutmachen”, beteuert er. “Nach dem Krieg wird für uns alles anders sein, das verspreche ich dir.”

Ich will etwas darauf erwidern, doch noch bevor ich zum Sprechen ansetzen kann, legt er die Arme um mich, drückt mich an sich und küsst mich auf eine besitzergreifende, fordernde Weise. Er hat mich so überrumpelt, dass ich für Sekunden wie erstarrt dasitze. Nach so vielen Wochen fühlt sich seine Berührung fremd und doch vertraut an. Dann merke ich, wie die Reaktion meines Körpers einsetzt und ich seinen Kuss erwidere. Trotz allem, was geschehen ist und was ich über ihn erfahren habe, kann ich mich dem Gefühl nicht entziehen, das er in mir auslöst, wenn er mich berührt.

Der Kommandant lässt seine Hände ein Stück weit herabsinken, er presst sich sanft gegen mich, sodass ich mich gegen die Lehne des Sofas zurücklege. Er lässt eine Begierde erkennen, die ich so bei ihm noch nicht erlebt habe. Es kommt mir vor, als wolle er in meinen Armen Schutz suchen. Ich löse mich von ihm und lege meine Hände an sein Gesicht. “Was ist los?”, flüstere ich. “Stimmt etwas nicht?” Aber er schüttelt nur den Kopf und küsst mich wieder.

Plötzlich wird laut an die Tür geklopft. Der Kommandant zögert und sieht mich besorgt an. Ich weiß, er erwartet niemanden, und keiner würde es wagen, unangemeldet bei ihm aufzutauchen. Er wendet sich wieder mir zu und tut so, als habe er nichts gehört. Doch dann wird ein weiteres Mal geklopft, diesmal zu laut, um es noch länger zu ignorieren.

Er setzt sich auf. “Ja?”, ruft er gereizt in Richtung Wohnungstür.

“Wichtige Nachricht, Herr Kommandant”, antwortet eine leise Männerstimme. Der Kommandant steht auf, rückt den Hemdkragen gerade und geht zur Tür. Im Treppenhaus steht ein junger Soldat, dem der Schweiß übers Gesicht läuft und der außer Atem ist. “E-entschuldigen Sie die Störung”, stammelt er, nachdem er salutiert hat.

“Was gibt es denn?”, will der Kommandant wissen. Der Mann zögert und sieht über die Schulter seines Vorgesetzten zu mir. “Anna ist meine persönliche Assistentin. In ihrer Gegenwart können Sie frei reden.”

Der junge Mann streckt einen Arm aus und hält mit zitternden Fingern ein Stück Papier hoch. “Das Warszawa Café”, keucht er, während der Kommandant ihm den Zettel abnimmt und überfliegt. “Es gab eine Explosion.”

Mir wird schlecht, als ich das höre. Das Warszawa Café war früher einmal ein teures polnisches Lokal direkt gegenüber dem Opernhaus. Seit die Deutschen in Kraków sind, ist es für sie zu einem beliebten Treffpunkt geworden. Schon in den ersten Tagen des Krieges wussten wir, dass wir um dieses Lokal einen großen Bogen machen müssen, da es dort von deutschen Soldaten nur so wimmelt. Ich weiß, die Explosion war das Werk der Widerstandsbewegung. “Was für eine Explosion?”, will der Kommandant wissen.

“Eine Explosion, die durch einen Sprengkörper ausgelöst wurde, Herr Kommandant.”

“Sie meinen eine Bombe?”

Der Soldat nickt. “Es gab Opfer unter den Offizieren.”

Der Zettel fällt dem Kommandanten aus der Hand. Er sieht völlig verblüfft drein. Die Vorstellung, dass jemand ein Bombenattentat auf deutsche Soldaten verübt, scheint über sein Fassungsvermögen hinauszugehen. Sowohl der Soldat als auch ich sehen ihn abwartend an, weil wir beide wissen wollen, wie er darauf reagieren wird. Zu unserer Verwunderung zieht er sich wortlos ins Schlafzimmer zurück. Ich werfe dem jungen Mann einen fragenden Blick zu, da ich hoffe, dass er etwas mehr ins Detail geht. Doch er sagt nichts und sieht mich auch nicht an, sondern tritt von einem Fuß auf den anderen. In der Ferne heulen Sirenen.

Der Kommandant kommt aus dem Schlafzimmer, er trägt wieder seine Jacke. “Ich muss los. Stanislaw wird dich nach Hause fahren”, bemerkt er in meine Richtung, ehe er die Wohnung verlässt. Der Soldat nickt mir kurz zu und wirft die Tür hinter sich ins Schloss.

Ich laufe zum Fenster an der Nordseite der Wohnung und sehe auf der anderen Seite des Stadtzentrums Rauch und Flammen in den Himmel aufsteigen. Jakub, geht es mir durch den Kopf. Alek. Ich lege die Stirn gegen das kalte Glas, im Geist sehe ich ihre Gesichter vor mir. Ach, ihr dummen Jungs, was habt ihr bloß angestellt?

Als ich mich umdrehe, wird mir klar, dass ich allein in der Wohnung bin und der Kommandant angesichts eines solchen Vorfalls für viele Stunden nicht heimkommen wird. Ich kann in sein Arbeitszimmer gehen und alle seine Unterlagen nach wichtigen Informationen durchsuchen. Die ganzen Monate über lief meine gesamte Planung auf einen solchen ungestörten Moment hinaus – nun kommt er zu spät. Diese Ironie des Schicksals lässt mich laut auflachen, meine Stimme hallt von den hohen Wänden zurück.

Plötzlich aber verstumme ich. Die Welt ist soeben explodiert, und zweifellos sind diejenigen im Mittelpunkt des Infernos, die ich am meisten liebe. Ich muss etwas unternehmen! Ich greife nach meinem Mantel und laufe aus dem Haus in die Nacht.

Nach wenigen Metern bleibe ich auf der Straße stehen. Wohin soll ich gehen? Ich weiß, es ist gefährlich, und die Bewegung würde es nicht wollen – trotzdem renne ich in Richtung Stadtmitte. Die Leute auf der Straße werfen mir merkwürdige Blicke zu, doch als ich mich dem Marktplatz nähere, scheint mein fast hysterischer Zustand der Situation angemessen zu sein. Sirenen heulen, Gestapo-Leute brüllen Anweisungen, und die Polen, die in der Zeit der Besatzung gelernt haben, sich von allem fernzuhalten, was sie in Schwierigkeiten bringen könnte, rennen nun neugierig zum Schauplatz des Anschlags. Ich folge der Menge durch die ulica Stolarska.

“Eine Bombe”, höre ich jemanden dicht neben mir sagen. “Nazis wurden getötet”, weiß ein anderer zu berichten. Sie alle hören sich beinahe schadenfroh an, aber ich kann nur an meinen geliebten Jakub und an den tapferen, mutigen Alek denken. Bestimmt gehörten sie zu denjenigen, die die Bombe zündeten. Geht es ihnen gut? Leben sie überhaupt noch?

Kurz vor dem Platz hat die Polizei eine Straßensperre errichtet. “Hier geht es nicht weiter, Fräulein”, spricht mich ein Wachmann an, als ich vorbeigehen will.

“Aber ich wohne dahinten …”, behaupte ich und zeige auf den Marktplatz.

Der Mann schüttelt den Kopf. “Tut mir leid, keine Ausnahmen. Nehmen Sie einen anderen Weg.”

Ich gehe nach links zur ulica Tomasza, von da nach rechts in die ulica Floriańska, die parallel zu der Straße verläuft, die ich ursprünglich nehmen wollte. Zwar ist sie nur einen Block vom Schauplatz der Explosion entfernt, dennoch hat die Polizei vergessen, sie ebenfalls abzuriegeln. Sie ist so gut wie menschenleer, aber als ich hindurchgehe, bleibe ich dennoch dicht an den Gebäuden und im Schutz der Schatten. Als ich mich dem Lokal nähere, hängt dichter Rauch in der Luft, der in meiner Kehle brennt und mir die Sicht nimmt. Glassplitter knirschen unter meinen Schuhen. Ich erreiche das Ende der Straße, die Sackgasse am Florianstor. Hier an der mittelalterlichen Stadtmauer sahen Łukasz und ich bei seinem ersten Ausflug in die Stadt die deutschen Soldaten, vor denen er solche Angst hatte.

Plötzlich kommt eine Hand aus einem Hauseingang geschossen und hält mich brutal an der Schulter fest. “Heh!”, rufe ich, während mich ein Fremder in eine dunkle Gasse zerrt. Meine Arme werden gepackt, und jemand hält mir den Mund zu. Ich überlege, ob es vielleicht die Gestapo ist, aber die würde sich nicht die Mühe machen, mich in eine Gasse zu schleppen. Ich versuche mich zu befreien. Als es mir nicht gelingen will, beiße ich kurzentschlossen in die Hand, die mir auf den Mund gedrückt wird. Plötzlich werde ich losgelassen.

“Autsch!”, höre ich eine Frauenstimme.

“Was soll das?”, bringe ich nach Luft ringend heraus. Ich drehe mich zu meiner Angreiferin um, die ihr Gesicht hinter einem dicken Wollschal versteckt.

“Schhht.” Sie nimmt den Schal weg, zum Vorschein kommt ein vertrautes Gesicht.

“Marta!”, rufe ich aus. Ihr Gesicht weist Schrammen auf und ist mit Ruß bedeckt. Offenbar ist sie in der Nähe der Explosion gewesen. “Woher …”

“Du hättest nicht herkommen dürfen”, weist sie mich zurecht, als hätte sie ein kleines Kind vor sich. “Das ist zu gefährlich. Die Gestapo nimmt jeden mit, der nicht so aussieht, als würde er hierher gehören. Die hätten dich festnehmen können!”

“Tut mir leid, aber ich musste herkommen. Ich war krank vor Sorge. Was ist mit Jakub? Und Alek?”

“Sie leben beide”, erwidert sie mit erstickter Stimme und sieht zur Seite.

Ich packe sie an den Schultern. “Was ist?”, fahre ich sie an und erhebe meine Stimme dabei.

“Schhht”, macht sie wieder und beobachtet wachsam die Straße.

Ich werde wieder leiser, lockere jedoch nicht meinen Griff. “Sag mir, was passiert ist.”

An ihrem Zögern erkenne ich, dass sie nicht weiß, wie viel sie mir sagen soll. “Jakub wurde bei der Explosion verletzt …”

Mir bleibt das Herz stehen. “Verletzt? Wie?”

“Bei der Explosion. Ich kenne nicht die Einzelheiten. Ich weiß nur, er wurde schwer verletzt, aber er hat überlebt.” Ihre Augen spiegeln ihre Besorgnis wieder. Ich habe immer vermutet, dass sie Gefühle für meinen Mann hegt. Als ich jetzt in ihr Gesicht sehe, weiß ich es mit Gewissheit.

“Ich muss zu ihm”, erkläre ich. “Sag mir, wo er ist.”

Sie schüttelt den Kopf. “Nein, Emma, das geht nicht. Jakub wurde aus der Stadt gebracht. Alek hat den Befehl erteilt, dass keiner von uns ihm folgen darf. Es ist zu gefährlich, jedenfalls im Moment.”

Ich koche vor Wut, als ich diese Worte höre. “Ich bin seine Frau, und ich habe jedes Recht, ihn zu sehen!”

Martas Miene verändert sich, sie presst die Lippen zusammen. “Seine Frau?”, gibt sie sarkastisch zurück.

Ich gehe auf Abstand zu ihr. “Was soll denn das heißen?”

“Ich weiß, was du all die Monate über getan hast. Was zwischen dir und dem Kommandanten läuft.”

“Aber …” Meine Stimme versagt mir den Dienst. Wie kann sie davon wissen? Hat Alek es ihr gesagt? Hat sie Jakub davon erzählt, um sich zwischen uns zu drängen?

“Jakub weiß nichts davon”, erwidert sie, als hätte sie meine Gedanken gelesen. “Glaub mir, ich habe überlegt, es ihn wissen zu lassen, aber Alek hat es mir untersagt. Er meinte, es würde Jakub zu sehr verletzen und es würde ihn nur von seinen Aufgaben ablenken. Ich wollte es ihm sagen. Er verdient zu wissen, was für eine Frau du bist.”

Ihre Worte bohren sich wie eine Klinge in mein Herz. “Marta, du glaubst doch nicht ernsthaft … Ich tat nur, worum man mich bat. Was getan werden musste!”

“Mag ja sein.” Sie sieht mir direkt in die Augen, ihre Stimme ist kühl. “Aber ich frage mich, wer dir wirklich wichtig ist. Ob dich Jakub überhaupt interessiert.”

“Wie kannst du so etwas sagen? Was ich getan habe, geschah für die Bewegung, weil es für mich der einzige Weg war, euch zu helfen. Ich liebe Jakub! Und zwar nur ihn!” Meine Stimme klingt etwas zu beharrlich, als wollte ich nicht nur Marta, sondern auch mich überzeugen. “Das weißt du.”

Sie weicht meinem Blick aus. “Ich weiß überhaupt nichts mehr.” Ich auch nicht, geht es mir durch den Kopf. Sekundenlang stehen wir da und schweigen, dann dreht Marta sich zu mir um, packt mich an den Schultern und schüttelt mich. “Jetzt hörst du mir zu! Du kannst nicht zu Jakub. Die Lage ist sehr ernst. Die Deutschen durchkämmen die Stadt auf der Suche nach den Attentätern. Sie wissen ziemlich genau, nach wem sie Ausschau halten müssen. Was heute Abend geschehen ist, wird nicht folgenlos bleiben. Du musst jetzt Ruhe bewahren und nach Hause gehen. Du darfst kein Wort über das hier verlieren, nicht einmal Krysia gegenüber. Morgen früh gehst du zur Arbeit, als sei nichts geschehen. Hast du verstanden?” Ich nicke, und Martas Tonfall wird etwas sanfter. “Wir sind auch in Sorge um Jakub.” Zwar hat sie “wir” gesagt, aber ich weiß, im Moment spricht sie nur für sich selbst. “Ich werde dich wissen lassen, wann es sicher ist. Vertrau mir.” Sie umarmt mich flüchtig, dann zieht sie sich in die Gasse zurück.

Ich trete wieder auf die Straße, überzeuge mich davon, dass mich niemand bemerkt hat, und gehe die ulica Floriańska zurück. Aus allen Richtungen kommen mir Schaulustige entgegen. An der anderen Seite des Marktplatzes angekommen, halte ich kurz inne. Ich sollte zur Wohnung des Kommandanten zurückkehren. Mein Korb ist noch da, und ich habe das Essen nicht weggeräumt. Aber ich könnte dem Kommandanten jetzt nicht gegenübertreten – nicht nach allem, was ich soeben erfahren habe. Mit etwas Glück wird er zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt sein, um davon Notiz zu nehmen, und falls er doch fragt, werde ich erwidern, dass die Meldung von der Explosion mich wie ein Schock getroffen hat. Ich bekam Kopfschmerzen, und mir wurde übel. Dabei ist diese Ausrede von der Wahrheit gar nicht mal so weit entfernt.

Während ich mich auf den Weg nach Hause mache, muss ich an Marta denken. Ihre Miene war so hart und zynisch. Ich erinnere mich an das lachende Mädchen, das mich unter seine Fittiche nahm und mich zum Schabbes in der ulica Józefińska mitnahm. Was ist aus diesem Mädchen geworden? Marta ist eifersüchtig, sage ich mir. Ihre Bemerkungen waren von ihren Gefühlen für Jakub geprägt, dennoch höre ich wieder und wieder diesen einen Satz: Ich frage mich, wer dir wirklich wichtig ist. Sosehr ich auch versucht habe, dieser Frage aus dem Weg zu gehen, sie verfolgt mich in den letzten Monaten fast täglich. Ich liebe Jakub, daran gibt es nicht den leisesten Zweifel. Er ist mein Ehemann. Aber bis vor Kurzem habe ich ihn eine Ewigkeit nicht gesehen. Der Kommandant … nun, ihn sehe ich fast jeden Tag. Und mit ihm habe ich öfter geschlafen als mit meinem eigenen Mann. Dennoch hasse ich den Kommandanten. Oder besser gesagt: Ich sollte ihn hassen. Manchmal fällt es mir leicht, ihn zu verabscheuen, so zum Beispiel, als ich die Wahrheit über Margot erfuhr. Dann wieder, wenn wir in der Dunkelheit im Bett liegen und er seine Uniform nicht trägt, dann ist er einfach ein Mann, der mir Lust und Trost schenkt. Dann kann ich fast vergessen, wer er ist … wer wir beide sind. Aber nur fast. In diesen Augenblicken frage ich mich, für welchen Mann ich mich entschieden hätte, wäre ich beiden zur gleichen Zeit begegnet – und würde der Kommandant nicht unter dem Hakenkreuz dienen.

Es reicht, ermahne ich mich. Es ist müßig, darüber zu spekulieren. Eine Wahl zwischen zwei Alternativen existiert nicht. Jakub ist mein Ehemann, er ist verletzt. Zwar kann ich jetzt nicht bei ihm sein, dennoch bin ich in Gedanken an seiner Seite. Der Kommandant ist mein Geliebter, der Mann, mit dem ich zum Schein schlafen muss. Die Wahrheit ist so banal wie lachhaft. Bitter lache ich auf, ziehe meinen Mantel enger um mich und eile durch die Nacht nach Hause.

“Geht es dir gut? Was ist passiert?”, ruft Krysia und kommt mir entgegen, als ich Stunden später das Haus betrete.

“Mir geht es gut”, antworte ich und ziehe Mantel und Stiefel aus.

“Im Radio sprachen sie von einem Anschlag auf das Warszawa Café.”

Ich erwidere nichts, während ich Krysia in die Küche folge. Auch wenn Marta es mir verboten hat, werde ich ihr sagen, was geschehen ist. Krysia gehört genauso wie die anderen zur Bewegung, und sie verdient zu erfahren, was geschehen ist. Dann aber muss ich daran denken, wie sie nach dem Besuch der Gestapo beinahe zusammenbrach. Ich muss es ihr schonend beibringen, daher warte ich, bis wir am Küchentisch sitzen und das Teewasser aufgesetzt ist. “Es gab ein Bombenattentat”, antworte ich schließlich. Meine Stimme versagt fast dabei.

“Der Widerstand?”, fragt sie, und ich nicke. “Ich habe so etwas befürchtet, als Jakub zu Besuch war.” Sie schüttelt den Kopf. “Diese dummen Jungs. Viele werden jetzt für diese Tat teuer bezahlen.”

Ihre Reaktion erstaunt mich. Zum ersten Mal höre ich, dass sie die Methoden der Bewegung infrage stellt. “Du meinst, sie hätten es nicht machen sollen?”

“Mir ist klar, warum sie es getan haben. Ich halte es bloß nicht für die klügste Taktik.”

“Ich halte es für unglaublich dumm!”, platzt es aus mir heraus. Sie erwidert nichts. “Krysia, da ist noch etwas, was du wissen solltest. Jakub wurde bei der Explosion verletzt.”

Ihr Gesicht wird kreidebleich, und sie muss sich am Herd festhalten. Aus Angst, sie könnte ohnmächtig werden, springe ich auf und bringe sie zum Stuhl. “Wie?”, fragt sie.

“Marta hat nicht gesagt, wie es passiert ist.”

“Wurde er schwer verletzt?”

“Ja”, sage ich nach einer kurzen Pause. Ich kann Krysia nicht belügen. “Aber er lebt.”

Sie schnappt erschrocken nach Luft, ihr Gesicht wird noch blasser. Sie ist keine junge Frau mehr, und Jakub ist für sie wie ein Sohn. Ich frage mich, ob es ein Fehler war, ihr alles zu erzählen. Vielleicht machen diese Neuigkeiten ihr zu sehr zu schaffen. “Jakub, Jakub”, stöhnt sie leise, drückt die Finger auf ihre Augenlider und bewegt sich leicht vor und zurück. Es ist das erste Mal, dass ich sie weinen sehe.

“Ist schon gut”, höre ich mich sagen, doch diese Worte klingen nicht so, als kämen sie aus meinem Mund. Tief in meinem Inneren schreit eine Stimme, dass Jakub schwer verletzt ist, dass ich an seiner Seite sein sollte. Wieder sehe ich Krysia an. Jakub würde wollen, dass ich ihr Kraft gebe. “Ist schon gut”, wiederhole ich. Mehrere Minuten lang stehe ich neben ihr, eine Hand auf ihrer Schulter, ohne dass ich weiß, was ich tun soll.

Als das Schluchzen endlich nachlässt, sieht Krysia auf und zieht ein Taschentuch hervor. “Was hast du sonst noch erfahren?”, fragt sie und tupft ihre Tränen ab.

Ich setze mich neben sie. “Sie haben ihn aus der Stadt gebracht. Mehr wollte mir Marta nicht verraten. Ich bestand darauf, dass sie mich zu ihm bringt, aber sie weigerte sich. Alek hat ihr das untersagt.”

Krysia atmet jetzt wieder ruhiger. “Wenn Alek sagt, es ist zu gefährlich, dann wird das auch stimmen.”

Nun ist es an mir, mich wieder aufzuregen. “Wir können doch nicht einfach hier herumsitzen und nichts tun, Krysia! Nicht, wenn Jakub verletzt ist.”

“Ich weiß, du willst irgendetwas unternehmen, Emma. Das wollen wir beide. Doch es ist durchaus möglich, dass wir im Moment gar nichts tun können, als abzuwarten und für Jakub zu beten. Trotzdem müssen wir mehr in Erfahrung bringen als das, was Marta dir erzählt hat. Morgen früh werde ich sehen, was ich herausfinden kann.”

Als ich am nächsten Morgen zur Arbeit fahre, finde ich die Stadt völlig verändert vor. Nach dem Bombenattentat haben die Deutschen den Ausnahmezustand über Kraków verhängt. Die Gestapo hat die Stadt fest im Griff. Panzer stehen an allen wichtigen Kreuzungen, an jeder Ecke patrouillieren Polizisten und Soldaten und beobachten jeden Passanten argwöhnisch. Die Einwohner, die sich längst an die deutschen Besatzer gewöhnt hatten, gehen nun mit gesenktem Kopf durch die Straßen und sprechen kein Wort. Bevor ich die Burg erreiche, werde ich insgesamt dreimal angehalten, muss mich ausweisen und erklären, wohin ich unterwegs bin.

Durch diese neuartigen Kontrollen ist es bereits zwanzig nach neun, als ich endlich ins Büro komme. In den Fluren herrscht rege Betriebsamkeit, und von Malgorzata werde ich mit einem süffisanten Lächeln begrüßt. Sie lässt mich wissen, dass der Kommandant bereits zu dringenden Besprechungen unterwegs ist und erst spät zurückkehren wird.

Im Vorzimmer finde ich Berge von Unterlagen auf meinem Schreibtisch. Auf jedem Stapel liegt eine Notiz des Kommandanten mit Anweisungen, wie mit den jeweiligen Papieren zu verfahren ist. Zuunterst liegt ein Umschlag mit vertraulichem Inhalt.

Normalerweise würde ich ihn zur Seite legen, wie es mir an meinem ersten Arbeitstag erklärt wurde, doch heute kümmert mich das nicht. Bestimmt sind es Telegramme aus Berlin, und ich will wissen, was darin über das Attentat geschrieben steht. Ich öffne den Umschlag und lese. Ich erfahre, dass das Café Warszawa von Deutschen besucht wurde, die dort Weihnachten feiern wollten. Sieben Deutsche sind tot, es gibt etliche Verletzte. Die Telegramme aus Berlin enthalten den Befehl, unverzüglich Vergeltungsmaßnahmen in die Wege zu leiten – sowohl unter den Juden im Ghetto als auch unter den nicht-jüdischen Polen. Das Blut gefriert mir in den Adern, da ich in diesem Moment an meine Eltern denke.

Ich lese weiter, bis ich beim letzten Telegramm angelangt bin, das nur aus einem knappen Satz besteht:

Alek Landsberg um 2:00 Uhr erschossen, als er bei der Festnahme in seiner Wohnung Widerstand leistete.

Das Blatt rutscht mir aus der Hand. Dieses Telegramm wurde heute Morgen nach Berlin geschickt. Unterzeichnet hat es … der Kommandant.