23. KAPITEL

“Du wirst dich bei Tagesanbruch auf den Weg machen”, verkündet Krysia am gleichen Tag um zwei Uhr nachmittags.

Vier Stunden zuvor bin ich nach Hause gekommen – außer Atem, weil ich so gerannt bin – und habe ihr davon berichtet, dass der Kommandant von meiner Schwangerschaft weiß und uns alle nach Österreich schicken will. “Etwas in dieser Art habe ich bereits befürchtet”, sagte Krysia daraufhin. “Bleib hier und pass auf Łukasz auf.” Mit diesen Worten hatte sie sich schnell angezogen und war aus dem Haus gestürmt. Vor ein paar Minuten ist sie nun zurückgekehrt – genauso außer Atem wie zuvor ich – und hat mich wissen lassen, dass ich fortgehen werde.

In groben Zügen schildert sie mir den Plan. “Jemand wird herkommen und dich nach My´slenice begleiten.” Ich kenne diese Kleinstadt gut dreißig Kilometer südlich von Kraków. “Dort wird man dich bis morgen Abend verstecken, und sobald es dunkel ist, schleust man dich über die Grenze in die Tschechoslowakei und dort in ein sicheres Haus in den Bergen. Der Plan ist riskant und nicht annähernd so gut wie das, was in einem Monat möglich gewesen wäre, aber uns bleibt keine andere Wahl.”

“Es tut mir leid”, erwidere ich, folge ihr in die Küche und setze mich auf einen Stuhl.

Sie winkt ab. “Es führt zu nichts, sich über Dinge Gedanken zu machen, die man nicht ändern kann. Wichtig ist, dass wir dich von hier wegbringen.” Sie füllt Wasser in den leeren Teekessel. “Schläft Łukasz?”

“Ja. Was ist mit Jakub? Wird er mit mir gehen?”

Mit einem hilflosen Gesichtsausdruck sieht Krysia zu mir. “Emma, ich will ehrlich sein. Es sieht nicht so aus, als könnte das klappen. Ich habe nichts weiter über seinen Aufenthaltsort und seinen Zustand erfahren. Natürlich hatte ich gehofft, ihr könntet das Land gemeinsam verlassen, aber nachdem du so plötzlich in Sicherheit gebracht werden musst, ist es schlicht unmöglich, noch irgendetwas zu arrangieren. Vielleicht wird er in einigen Monaten in der Lage sein, dir zu folgen”, fügt sie leise hinzu.

Dann werde ich also ohne Jakub aufbrechen. Einen Moment lang überlege ich, einfach hierzubleiben. “Du musst fortgehen”, sagt Krysia, die meine Gedanken zu lesen scheint. Sie stellt den Kessel auf den Ofen, dann dreht sie sich wieder zu mir um. “Ich kenne meinen Neffen, und ich weiß, das Wichtigste ist für ihn, dass du mit deinem Kind in Sicherheit bist.”

Wenn das stimmt, warum ist er dann nicht bei mir? Wohl zum hundertsten Mal frage ich mich, warum er sich für die Bewegung engagiert, anstatt an meiner Seite zu sein. Wenn ich für ihn so wichtig wäre, dann wären wir jetzt zusammen. Dann wäre er nicht verletzt, und ich wüsste, es wäre sein Kind, das ich in mir trage. Doch so einfach ist das alles nicht. Wäre Jakub nicht in den Untergrund gegangen, hätte ich Menschen wie Krysia nie kennengelernt. Und vielleicht wäre ich dann längst in irgendeinem Lager, vielleicht sogar schon tot. Krysia hat natürlich recht: Jakub würde von mir erwarten, alles Notwendige zu tun, um zu überleben.

“Was ist mit dir und Łukasz?”, frage ich sie einige Minuten später, als sie die Teegläser auf den Tisch stellt.

Kopfschüttelnd setzt sie sich zu mir. “Wir können nicht alle gemeinsam von hier weggehen. Dass du jetzt aufbrechen musst, obwohl der Schnee in den Bergen noch sehr hoch liegt, macht es für dich schon gefährlich genug. Łukasz könnte diese Strecke nicht bewältigen und würde dich nur aufhalten. Ich habe mit dem Widerstand vereinbart, dass er aufs Land gebracht und dort versteckt wird, sobald du dich auf den Weg machst.”

“Warum denn das?” Ich ertrage die Vorstellung nicht, dass Łukasz diese vertraute Umgebung verlassen soll, um bei irgendwelchen Fremden untergebracht zu werden.

“Emma, sobald du fort bist, wird die Gestapo herkommen und nach dir suchen. Ich werde ihnen sagen, dass du Verwandte in Gdańsk besuchen wolltest. Aber es muss so aussehen, als würde Łukasz dich begleiten. Darum müssen wir ihn woanders unterbringen.”

Ich erwidere nichts, wortlos trinken wir unseren Tee, nur begleitet vom Ticken der Standuhr im Flur. Nach einer Weile räuspere ich mich. “Krysia, da wäre noch etwas”, beginne ich. “Meine Eltern …”

“O ja.” Sie streicht ihren Rock glatt und weicht meinem Blick aus. “Ich habe mich nach ihnen erkundigt, als ich mich um deinen Fluchtplan gekümmert habe. Es geht ihnen den Umständen entsprechend gut, aber mehr konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Ich hatte gehofft, mehr Informationen zu bekommen, bevor ich dir gegenüber etwas erwähne.” In ihrer Stimme schwingt ein Unbehagen mit, das mich erkennen lässt, dass sie mir irgendetwas verschweigt.

“Ich muss sie noch einmal sehen, bevor ich fliehe.”

Entschieden schüttelt sie den Kopf. “Tut mir leid, das ist nicht möglich.”

“Bitte”, flehe ich sie an. “Ich kann nicht weggehen, ohne mich von ihnen zu verabschieden.”

“Emma, nun sei doch vernünftig”, erwidert sie ungehalten. “Podgorze ist zu gefährlich. Die Sicherheitsmaßnahmen wurden seit dem Attentat noch verschärft, überall gibt es Kontrollpunkte, vor allem rund um das Ghetto. Du würdest dein Leben riskieren, wenn du hingehst. Und selbst wenn du es bis zum Ghetto schaffst, was willst du machen? Etwa hineingehen?”

“I-ich weiß nicht”, gestehe ich nach kurzem Zögern. “Nein, natürlich will ich nicht hineingehen. Aber vielleicht entdecke ich ein Loch in der Mauer, so wie das, durch das ich damals fliehen konnte. Ich könnte mich mit ihnen an der Mauer unterhalten oder wenigstens eine Nachricht an sie übermitteln.”

“Das ist zu gefährlich”, widerspricht sie in einem sanfteren Tonfall. “Ich werde veranlassen, dass jemand von der Bewegung ein Auge auf deine Eltern hat, sobald du gegangen bist.”

Das kann mich nicht überzeugen. Ich habe zwar keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit ihrer Worte, doch ich begegne ihnen mit Misstrauen. Immerhin hat mir die Erfahrung mit der Bewegung gezeigt, dass man immer nur dann nach meinen Eltern sehen wollte, wenn es im eigenen Interesse geschah oder es mit keinerlei Mühen verbunden war. Meine Familie ist für den Widerstand nebensächlich gewesen. Einmal mehr verfluche ich, dass ich diesen Leuten vertraut und ich nicht schon vor Monaten versucht habe, meine Eltern auf anderen Wegen aus dem Ghetto zu holen.

Aber ich weiß, diese Diskussion würde Krysia in jedem Fall für sich entscheiden. “Und was ist mit dem Kommandanten?”, frage ich stattdessen.

“Was soll mit ihm sein?”

“Er wird dir sicher nicht glauben, dass ich ausgerechnet an dem Tag Verwandte besuche, an dem ich nach Österreich abreisen soll.”

“Lass den Kommandanten mal meine Sorge sein”, erwidert sie und kneift ein wenig die Augen zusammen.

“Sein Vorschlag schien dich gar nicht zu überraschen”, bemerke ich.

“Natürlich nicht. Schließlich liebt er dich.”

“Ja, ich weiß”, antworte ich und blicke zur Seite.

Überrascht von meinem Tonfall sieht sie hoch. “Was ist? Stimmt etwas nicht?”

“Nein, nein”, wehre ich ab. Ich weiß nicht, was ich eigentlich fühle. Vielleicht Mitleid oder Bedauern.

Krysia tätschelt meine Hand. “Das kann ich verstehen. Es ist keine leichte Sache, einem anderen Menschen das Herz zu brechen, nicht mal wenn es ein Mensch wie Richwalder ist.”

“Vermutlich nicht.” Ich räuspere mich. “Er hat mich gebeten, ihn heute Abend zu besuchen.”

Sie hält in ihrer Bewegung inne. “So? Und was hast du gesagt?”

“Ich habe mich einverstanden erklärt. Es ging nicht anders.” Mir entgeht nicht mein rechtfertigender Tonfall. “Ich konnte keine Ausrede vorbringen.”

“Das kann ich verstehen. Allerdings macht das alles noch etwas komplizierter, weil du am Morgen aufbrechen musst.”

“Das werde ich hinbekommen. Der Kommandant hat einen sehr tiefen Schlaf.” Ich merke, dass ich rot werde, als ich dieses intime Detail enthülle. “Ich bin schon oft aus dem Haus gegangen, als er noch schlief.”

“Trotzdem müssen wir absolute Gewissheit haben”, erklärt sie und geht aus der Küche, Augenblicke später kehrt sie zurück. “Hier.” Sie drückt mir ein Glasröhrchen mit einem weißen Pulver in die Hand. “Schlafpulver. Wenn du ein wenig davon in seinen Weinbrand mischst, wird er sehr fest schlafen, und du kannst garantiert unbemerkt seine Wohnung verlassen.”

“Woher …?”, frage ich verständnislos.

“Ich bekam es vor einer Weile von Pankiewicz. Normalerweise wird das von Ärzten benutzt, um Patienten bei kleineren Eingriffen ruhigzustellen. Ich bat ihn darum, weil … nun ja, man kann nie wissen.”

Ich muss daran denken, wie oft ich darauf gewartet habe, dass der Kommandant endlich einschläft, damit ich seine Unterlagen durchsuchen kann. “Warum hast du mir das nicht früher gegeben?”, frage ich sie.

“Mit dem Gedanken habe ich gespielt, aber es ist ein sehr starkes Pulver”, antwortet sie. “Selbst wenn du nur eine ganz geringe Menge davon nimmst, würde er sich am nächsten Morgen fühlen, als hätte er sich völlig betrunken. Ich hielt es für zu riskant, es jedes Mal zu benutzen, weil er vielleicht misstrauisch geworden wäre. Doch jetzt …”

“Ja, ich verstehe.” Die kommende Nacht ist die letzte, die ich mit ihm verbringen werde. Jetzt habe ich nichts mehr zu verlieren. Ich stehe auf und stecke das Röhrchen in meine Rocktasche. “Krysia, es ist doch unbedenklich, nicht wahr?”, frage ich, woraufhin sie mich rätselnd ansieht. “Für mein Kind, meine ich. Wenn ich heute Nacht beim Kommandanten bin …” Es ist mir zu peinlich, meine Frage zu Ende zu führen.

Aber Krysia hat mich auch so verstanden. “Natürlich, du warst nicht mehr bei ihm, seit du weißt, dass du schwanger bist, richtig?” Ich nicke. “Mach dir keine Sorgen. In dieser frühen Phase dürfte nichts passieren.”

Von oben höre ich Łukasz leise plappern. Er ist aus dem Mittagsschlaf erwacht. “Ich kümmere mich um ihn”, sage ich, heilfroh darüber, diese Unterhaltung beenden zu können.

“Ja, gut.” Sie begibt sich zur Treppe in den zweiten Stock. “Ich suche schon mal warme Kleidung für euch heraus.”

Den Rest des Tages verbringen Krysia und ich damit, die bevorstehende Abreise vorzubereiten. Wir packen kleine Taschen mit Kleidung und stellen die Lebensmittel zusammen, die sich gut transportieren lassen und stärkend sind. Dabei reden wir nur wenig. Am Abend klammert sich Łukasz fester an mich als sonst, als ich ihn zu Bett bringe. Er scheint zu wissen, dass es das letzte Mal ist.

Um kurz vor acht höre ich den Wagen des Kommandanten vorfahren. “Hast du das Pulver?”, fragt Krysia, die mir nach unten in die Diele folgt.

“Ja”, antworte ich und ziehe meinen Mantel an. “Ich werde vor Sonnenaufgang zurück sein.”

“Gut. Pass heute Nacht auf dich auf. Wir sind so dicht davor, dich in Sicherheit zu bringen, da darf einfach nichts mehr schiefgehen.” Sie gibt mir einen Kuss auf die Wange, ich spüre ihre papierenen Lippen auf meiner Haut. “Wir sehen uns morgen, bevor du fortgehst.”

Als der Wagen vor dem Haus des Kommandanten hält, stelle ich überrascht fest, dass er selbst unten an der Tür auf mich wartet. “Du strahlst förmlich”, sagt er liebevoll und nimmt meinen Arm, dann führt er mich nach oben. Dabei fällt mir auf, dass er sich rasiert hat. Die Wohnung wirkt wie verwandelt, als ich sie betrete. Die Tische sind freigeräumt, die Fenster geputzt.

Überrascht sehe ich ihn an. “Du hast aufgeräumt?”

“Ja”, bestätigt er und hilft mir aus dem Mantel. “Oder besser gesagt: Ich habe aufräumen lassen. Unordnung mag man einem Witwer wie mir zugestehen, aber in einer solchen Umgebung kann man kein Kind aufwachsen lassen.”

Ich möchte am liebsten erwidern, das Kind werde hier sowieso nicht aufwachsen, doch ich verkneife mir meinen Kommentar. Offenbar will er auf diese Weise zeigen, dass er ein guter Vater sein wird.

Als ich zum Sofa gehe, fällt mir noch eine Veränderung auf: Margots Foto steht nicht mehr auf dem Kaminsims, den Platz hat eine Vase mit frischen Schnittblumen eingenommen. “Georg …” Ich deute auf den Sims.

Er kommt zu mir und umfasst meine Hände. “Du bist jetzt mein Leben”, erklärt er. “Es ist Zeit, die Vergangenheit ruhen zu lassen.”

Ich suche in seinem Gesicht nach Anzeichen für Trauer oder Gewissensbisse, kann aber nichts finden. Zum ersten Mal macht er auf mich den Eindruck eines rundum glücklichen Mannes. Schuldgefühle überkommen mich. Morgen hat meine Maskerade ein Ende, und mit mir verschwindet auch Anna. Was wird dann aus ihm werden?

“Hast du Hunger?”, fragt er.

Ich will bereits den Kopf schütteln, da fällt mir das Schlafpulver ein. “Ein wenig schon”, lüge ich. “Vielleicht etwas Leichtes. Lass mich die Getränke einschenken, während du dich um das Essen kümmerst.”

Er zieht sich in die Küche zurück, ich gehe zur Anrichte, in der er die alkoholischen Getränke aufbewahrt, und nehme zwei Gläser heraus. Nach einem raschen Blick über die Schulter gebe ich etwas von dem Pulver in ein Glas, zögere dann aber, weil ich mir nicht sicher bin, wie viel die richtige Menge ist. Krysia hat mir dazu nichts gesagt, also lege ich sicherheitshalber noch eine Prise nach, dann schenke ich den Weinbrand ein. “Es ist angerichtet”, ruft der Kommandant mir zu, als er mit zwei Tellern aus der Küche kommt.

Schnell verstecke ich das Glasröhrchen in meiner Rocktasche und drehe mich zu ihm um, wobei ich hoffe, dass mir meine Panik nicht anzumerken ist. “Das sieht ja köstlich aus”, bringe ich heraus, während ich die Gläser zu dem niedrigen Wohnzimmertisch bringe.

Der Kommandant unterhält sich beim Essen so beiläufig mit mir, als wäre dies nicht mein letzter Abend in Kraków und als würde er mich nicht morgen früh nach Österreich schicken. Wachsam verfolge ich, wie er seinen Weinbrand trinkt, und hoffe darauf, dass sich das Pulver restlos aufgelöst hat und er keine verräterischen Spuren im Glas bemerkt. Nach ein paar Minuten betrachte ich seine Augen, doch sie sind völlig klar und lassen keine Spur von Müdigkeit erkennen. Wie lange das Pulver wohl braucht, bis es wirkt? Als wir gegessen und einen Tee getrunken haben, beugt der Kommandant sich zu mir herüber und legt einen Arm um mich.

“Lass uns ins Schlafzimmer gehen”, schlage ich vor.

“Einverstanden.” Im Schlafzimmer sehe ich, wie das Pulver zu wirken beginnt. Seine Pupillen sind geweitet, er küsst mich träge und bewegt unbeholfen seine Hände. Nur wenige Minuten später dreht er sich mit geschlossenen Augen zur Seite, sein Atem geht schwer. Es ist tatsächlich ein sehr starkes Pulver, und ich kann nur hoffen, dass ich ihm nicht zu viel davon gegeben habe. Mein Blick fällt auf die Uhr auf dem Nachttisch. Es ist nach elf. Mir war gar nicht bewusst, dass wir uns so lange unterhalten haben.

Ich sehe zur Decke und überlege, was ich nun machen soll. Am liebsten würde ich gehen, doch ich weiß nicht, wie lange die Wirkung anhält. Meine Befürchtung ist, er könnte zu früh aufwachen und feststellen, dass ich bereits gegangen bin. Nein, es ist wohl besser, wenn ich noch eine Weile bleibe. Auch wenn ich die meiste Zeit über nur so getan habe, als würde ich aus meinem Glas trinken, machen mich die wenigen Schlucke Weinbrand schläfrig, und ich muss mich wiederholt kneifen, damit ich nicht eindöse.

Während ich neben dem Kommandanten im Bett liege, muss ich an meine Eltern denken. Es ist so lange her, seit ich sie das letzte Mal sah, und jetzt soll ich sie für immer verlassen, ohne mich von ihnen zu verabschieden. Immer wieder geht mir mein Gespräch mit Krysia durch den Kopf. Ich weiß, sie hat recht. Wenn ich mich zum Ghetto begebe, riskiere ich mein Leben und bringe jeden in meiner Nähe in Gefahr. Es wäre verrückt, vor allem jetzt, da ich so kurz davor bin, in Sicherheit gebracht zu werden. Dennoch: ich muss es zumindest versuchen. In wenigen Stunden verlasse ich Kraków und kehre vielleicht nie wieder hierher zurück. Ich habe meine Eltern bereits in jener Nacht ohne Abschied verlassen, als ich aus dem Ghetto entkam, ein zweites Mal kann ich das nicht über mich bringen.

Ich sehe wieder zur Uhr, dann mustere ich den Kommandanten, der tief und fest schläft. Krysia sagte, ich müsse um vier Uhr am Morgen wieder zu Hause sein. Von der Wohnung des Kommandanten ist es nicht weit bis zur Brücke nach Podgorze. Ich habe also noch genug Zeit, zum Ghetto zu gehen, falls ich den Mut dazu finde. Mein Entschluss steht längst fest. Leise verlasse ich das Bett, der Kommandant schnarcht und dreht sich zur Seite. Erschrocken bleibe ich stehen, da ich fürchte, dass er aufwacht und ich nicht von hier wegkomme. Doch er atmet gleichmäßig weiter, seine Augen sind geschlossen. In aller Eile ziehe ich mich an und gehe zur Tür.

Dort angekommen, drehe ich mich um und schaue den Kommandanten an. Es ist das letzte Mal, dass ich ihn sehe. Auf Zehenspitzen schleiche ich zurück zum Bett und muss mich davon abhalten, mich wieder zu ihm zu legen und ihn noch einmal zu umarmen. Traurigkeit erfüllt mich. Es gibt so vieles, was ich ihm sagen möchte. Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich ihn getäuscht habe, dass ich für ihn nicht die Frau sein konnte, die er liebt, und dass ich wünschte, zwischen uns beiden hätte es anders sein können. Aber ich habe keine Zeit, um etwas zu bedauern. Ich beuge mich vor und hauche ihm zum Abschied einen Kuss auf die Stirn. Er regt sich nicht.

Im Wohnzimmer nehme ich meinen Mantel vom Stuhl. Als ich ihn anziehe, fällt mein Blick auf die Teller, auf denen noch Wurst und Käse liegen. Es wäre Verschwendung, dieses Essen einfach wegzuwerfen, also beschließe ich, es meinen Eltern mitzubringen. Aus der Küche hole ich einen Beutel, packe das Essen hinein und verlasse die Wohnung.

Die Straßen sind menschenleer, die Luft ist eisig kalt. Ich gehe zur Brücke, wobei ich mich immer im Schatten der Gebäude halte. Meine Nerven sind auf das Äußerste gespannt. Ich darf mich auf keinen Fall erwischen lassen. Schon bald bin ich am Ufer angelangt und überquere die Brücke.

In Podgorze ist kein Mensch unterwegs, doch ich weiß, dass die Gestapo überall lauern kann, um den festzunehmen, der sich im Dunkeln auf die Straße wagt. An der Ghettomauer angekommen, presse ich mich dagegen, um in der Finsternis mit ihr zu verschmelzen. Die Mauer scheint sich in beide Richtungen endlos weit zu erstrecken, und mit einem Mal will mich mein Mut verlassen. Vielleicht hatte Krysia doch recht, und es ist zu riskant.

Ich bewege mich langsam Schritt für Schritt an der Mauer entlang, bis ich einen Spalt ertaste, der nicht breiter ist als ein Brotlaib. Ich werfe einen Blick hindurch, doch auf der anderen Seite ist alles in Dunkelheit getaucht, die Straße ist verlassen. Ich erkenne, dass ich den Teil des Ghettos vor mir habe, in dem sich die leer stehenden Fabriken befinden. Hier werde ich mitten in der Nacht niemanden antreffen. Ich atme tief durch, um neuen Mut zu fassen, dann gehe ich weiter.

Nach einer Weile beschreibt die Mauer einen Knick, dort entdecke ich ein größeres Loch. Dahinter kann ich Wohnhäuser ausmachen, und ich erkenne, dass ich mich ganz in der Nähe des Hauses befinde, in dem meine Eltern leben. Doch auch diese Straße ist menschenleer. Das Ganze ist ein hoffnungsloses Unterfangen, überlege ich, während ich mich nervös umsehe, ob mich auch niemand bemerkt hat. Ich sollte besser gehen, bevor man mich erwischt. Aber das kann ich nicht tun, nachdem ich es schon bis hierher geschafft habe.

Einige Minuten später höre ich ein Kratzen von der anderen Seite der Mauer. Ich zwänge meinen Kopf durch das Loch und sehe nach links und rechts, so gut das geht, kann die Quelle für das Geräusch jedoch nicht ausmachen. Vermutlich war es eine Ratte, überlege ich enttäuscht. Doch dann ist es wieder zu hören, diesmal lauter und deutlicher. Ich schaue durch das Loch in der Mauer und entdecke einen alten Mann, der in meine Richtung über die Straße schlurft. Sein Rücken ist so krumm, dass man meint, er müsse bei jedem seiner winzigen Schritte vornüber fallen. Als er sich nähert, rufe ich ihn zu mir, weil ich ihn fragen will, ob er meinen Vater kennt. Dann halte ich mitten in meinen Rufen inne, kann den Mund aber nicht schließen. Der alte Mann … ist mein Vater.

“Tata!”, flüstere ich. Er hebt den Kopf, und eine schier endlose Zeit vergeht, bis ich ihm ansehen kann, dass er mich wiedererkannt hat. Langsam kommt er auf mich zu.

“Shana madela”, keucht er auf Jiddisch und streckt eine knochige Hand durch das Loch in der Mauer. “Hübsches Mädchen” hat er mich genannt. In all den Monaten, die ich ihn nicht gesehen habe, ist er um Jahre gealtert. Sein Kopf erinnert eher an einen Totenschädel, so sehr besteht er nur noch aus Haut und Knochen. Von seinem Bart sind ein paar Büschel übrig, und die wenigen Zähne, die ihm geblieben sind, ragen auf eine groteske Weise aus seinem eingefallen Mund hervor.

“Tata, was …?”, beginne ich und breche gleich wieder ab. So viele Fragen kommen mir in den Sinn, dass ich nicht weiß, wo ich anfangen soll.

“Ich gehe hier spazieren”, sagt er, als würde das alles erklären. Ich erinnere mich an den rasenden Hunger, der mich manchmal im Ghetto in der Nacht überkam und sich wie eine Klinge durch meinen Magen bohrte. Diese Schmerzen sind so entsetzlich, dass man keinen Schlaf finden kann.

“Hier.” Ich hole den Beutel aus der Tasche, in dem sich das Essen aus der Wohnung des Kommandanten befindet. “Es ist nicht koscher, aber …” Er nimmt den Beutel an sich und hält ihn, als sei ihm gar nicht bewusst, dass ich ihm etwas gegeben habe. Ich bekomme einen Schreck, etwas stimmt nicht. “Mama …?”, frage ich, obwohl ich seine Antwort eigentlich gar nicht hören will. Meine Mutter hätte ihn niemals nachts aus dem Haus gelassen. Und sie hätte auch nicht zugelassen, dass er in einem solchen Zustand auf die Straße geht, schießt es mir durch den Kopf.

“Vor zehn Tagen”, sagt er, wobei sich seine Augen in leere, finstere Höhlen zu verwandeln scheinen.

“Was?” Wieder will ich lieber keine Antwort auf meine Frage bekommen. Dann fällt mir auf, dass sein Hemd zerrissen ist, so wie nach dem jüdischen Trauerritual. “Nein …”

“Sie ist tot”, bringt er mit Mühe heraus, Tränen steigen ihm in die Augen.

“Nein!”, rufe ich laut aus, ohne daran zu denken, dass mich jemand hören könnte. Plötzlich bin ich wieder fünf Jahre alt und liege mit Grippe in meinem Bett in unserer Wohnung in Kazimierz. Wenn ich krank war, schlief meine Mutter immer bei mir. Sie rieb mir die Brust mit Salbe ein, kochte mir Suppe und sang mir Lieder vor. “Mama …”

Mein Vater sieht mich hilflos und mit gequälter Miene durch das Loch in der Mauer an. Er ertrug es nie, wenn ich als Kind zu weinen begann. Die Vorstellung, dass mir etwas fehlt und er nichts dagegen unternehmen kann, war für ihn stets unerträglich. Ich weiß, meine Trauer ist für ihn schlimmer auszuhalten als seine eigene. “Letzten Herbst wurde sie krank und hatte schreckliches Fieber.”

“Ich weiß”, erwidere ich schluchzend. “Ich habe versucht, ihr Hilfe zukommen zu lassen.” Ich bringe es nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass die Bewegung jede Hilfe verweigert hat. “Krysia wollte etwas unternehmen.”

“Sie schickte uns Pankiewicz, den Apotheker. Der gute Mann war ein Geschenk Gottes. Er versuchte alles, was in seiner Macht stand. Doch diese Krankheit hatte er noch nie gesehen. Sie war für uns alle ein Rätsel. Trotzdem ließ das Fieber nach und es ging ihr wieder besser. Aber dann kam der Winter und … nun, vor ein paar Wochen kehrte das Fieber zurück.”

Ich schlucke und bekomme mein Schluchzen ein wenig in den Griff. “Hatte sie ihren Frieden? Am Ende, meine ich.”

Mein Vater zögert. “Sie schlief friedlich ein”, antwortet er bedächtig, doch seine Miene verrät mir, dass sie sehr gelitten haben muss. “Sie war stark und tapfer. Und ich war die ganze Zeit bei ihr …”

“Ich hätte bei ihr sein sollen”, bringe ich hervor, dann versagt meine Stimme.

Er schüttelt den Kopf. “Sie hat es verstanden. Sie wollte nur die Gewissheit, dass du in Sicherheit bist.” Dennoch bin ich untröstlich. Ich muss an meine Mutter denken, wie ich sie in der Nacht zum letzten Mal sah, als ich aus dem Ghetto geholt wurde. Ich habe mich nicht von ihr verabschieden können, nicht mal auf jene beiläufige Art, wie ich es früher machte, wenn ich zur Bäckerei oder in die Bibliothek ging und wusste, dass ich bald wieder zurück bin. Nein, ich war mitten in der Nacht aus ihrem Leben verschwunden, und nun war sie aus meinem Leben gegangen.

“Es tut mir leid, dass ich euch verlassen habe.”

“Nein, nein!”, protestiert er sofort. “Natürlich waren wir in Sorge um dich, als wir am Morgen erwachten und dein Bett leer war. Aber wir erfuhren schon bald, dass Jakub und deine Freunde dich rausgeholt haben und es dir gut geht. Wir waren froh darüber. Deine Mutter verstand, warum du gehen musstest. Ich habe es auch verstanden.”

Wieder muss ich laut schluchzen, ohne mich darum zu kümmern, in welcher Gefahr ich eigentlich schwebe. Mein Vater sieht mich hilflos an und ringt mit seiner eigenen Trauer. “Yisgadal, v yiskadash shmay rabah …”, beginnt er das Kaddish des Trauernden auf Hebräisch zu singen. Mit den Tränen kämpfend stimme ich ein. Es ist das jüdische Gebet für die Toten, das den Tod nicht erwähnt, sondern Gott lobt. Ich frage mich, wie oft mein Vater dieses Gebet in den letzten Nächten aufgesagt hat.

Ich atme tief durch, um meine Fassung wiederzuerlangen. “Wir müssen dich hier rausholen”, sage ich aufgeregt. “Ich komme in einer Stunde mit Papieren wieder und …” Doch er schüttelt den Kopf. Wir wissen beide, dass das unmöglich ist. Niemand kommt in diesen Tagen aus dem Ghetto heraus. Außerdem würde mein Vater den Marsch durch die Wälder gar nicht überleben.

Nein, ich kann ihn nicht herausholen. Aber ich will ihm etwas geben, was bei ihm bleiben wird, wenn ich längst gegangen bin. “Tata, ich werde ein Kind bekommen.” Verwirrt sieht er mich an. “Jakub konnte uns im letzten Herbst einmal besuchen”, füge ich schnell hinzu. Natürlich erwähne ich nicht, dass es vielleicht nicht das Kind meines Ehemanns ist. In diesem Moment ist dieser Punkt unwichtig.

Er lächelt schwach. “Mazel tov, mein Schatz.” Doch sein Gesicht hat einen schmerzlichen Ausdruck, da er an das Enkelkind denkt, das er nie zu sehen bekommen wird. Dennoch weiß er nun, dass seine Familie weiter existieren wird. Meine Worte bereiten ihm Schmerz, zugleich aber sind sie ein wunderbares Geschenk.

“Wenn es ein Mädchen wird, bekommt es Mamas Namen”, füge ich hinzu.

“Emmala”, flüstert er. Ich bekomme eine Gänsehaut, weil es so lange her ist, dass ich ihn zum letzten Mal meinen Kosenamen sagen hörte. Es fühlt sich so gut an, als hätte mir in dieser eisigen Nacht jemand eine warme Decke um die Schultern gelegt. Dann fällt mir wieder sein hilfloser Blick auf. Es ist der Blick eines Vaters, der erkennt, was er seinem Kind nicht geben kann. Schuldgefühle, weil er mich nicht besser beschützen konnte. Doch plötzlich verändert sich dieser Ausdruck. “Warte hier”, sagt er. “Warte genau hier.”

Bevor ich etwas erwidern kann, ist er verschwunden. Ich drücke mich gegen die Mauer und warte. In der Dunkelheit sehe ich das Gesicht meiner Mutter vor mir. Hat Krysia es längst gewusst? Hat sie mich belogen und behauptet, meinen Eltern gehe es gut, weil ihr klar war, dass ich andernfalls nicht fortgehen würde? Einige Zeit vergeht, bis ich wieder die schlurfenden Schritte meines Vaters höre.

“Hier.” Er steckt die Hand durch die Maueröffnung und gibt mir drei Dinge: meinen Ehe- und meinen Verlobungsring, die ich beide vor langer Zeit unter meiner Matratze versteckt habe, und ein Stück Papier. Als ich es auseinanderfalte, stockt mir der Atem. Es ist meine Heiratsurkunde.

Ich zögere, diese drei Dinge anzunehmen. Früher einmal hätten sie mir alles bedeutet, doch jetzt sehe ich nur die mit ihnen verbundene Gefahr. Wenn man mich zu fassen bekommt, werden sie meine wahre Identität offenlegen. Aber ich schaue meinen Vater an und sehe, welches Leuchten in seinen Augen liegt. Mir bleibt nichts anderes übrig, als die Sachen anzunehmen.

“Danke.” Ich wickele die Ringe in das Papier ein und stecke das Päckchen in meine Tasche.

Mein Vater nickt zufrieden, weil er mir wenigstens dies geben konnte. “Und wenn du Jakub siehst, richte dem Jungen aus, dass dein Vater gesagt hat, er soll dich nie wieder allein lassen.”

“Das verspreche ich dir.”

Er nickt nachdrücklich. “Und sag Jakub, der politische Unsinn hat jetzt ein Ende. Er muss meinen Enkelsohn erziehen.” Voller Erstaunen fällt mir auf, dass mein Vater seine spröden Lippen zu einem flüchtigen Lächeln verzieht. Sogar jetzt, in unserer finstersten Stunde, hat er nicht seinen Humor verloren.

“Dein Enkelsohn”, wiederhole ich und versuche verzweifelt, ebenfalls zu lächeln. “Ich wusste, du wolltest immer einen Jungen haben.”

Als er daraufhin den Kopf schüttelt, ist er wieder ernst. “Ich wollte dich. Du bist mein Ein und Alles.”

Ich muss mit den Tränen kämpfen. “Und du meines”, erwidere ich. “Aber, Tata, das Ghetto …”

“Ja …” Er weiß, was ich sagen will. Auch er kennt die Gerüchte von der Auflösung des Ghettos. Nachdem er zwei schreckliche akcjas miterlebt hat, weiß er, was vor ihm liegt und welcher Schrecken ihn erwartet. Doch seine Augen lassen keine Angst erkennen. “Der Herr ist mein Hirte”, murmelt er nur. Von seinem schmalen, ausgemergelten Gesicht geht ein Strahlen aus, und mir wird bewusst, dass ich einen Mann vor mir sehe, der vom absoluten Glauben erfüllt ist. Ich muss an die Tage denken, die er in der winzigen Remuh-Synagoge in der ulica Szeroka verbrachte, um seine Gebete zu singen. Ich denke an die brennenden Kerzen und den gesegneten Wein. Ich weiß, selbst im Ghetto hat er in den langen Nächten immer wieder den dreiundzwanzigsten Psalm rezitiert. Und doch muss ich mich wundern, woher er diese Ruhe nimmt. Vielleicht ist er schon so lange auf Gottes Pfad gewandelt, dass er im Gegensatz zu vielen anderen Menschen keine Angst kennt. Oder aber er hat so viel verloren, dass es nichts mehr gibt, was man ihm noch nehmen könnte. Wahrscheinlich weiß er, dass meine Mutter am Ende dieses Pfads auf ihn wartet.

“Geh jetzt”, drängt er.

“Ich kann dich nicht noch einmal verlassen”, widerspreche ich. “Das werde ich nicht machen.”

Er schüttelt den Kopf. “Das musst du aber.”

Darauf kann ich nichts entgegnen. Ich weiß, er hat recht. Ich kann ihn nicht befreien, und je länger ich hierbleibe, umso eher bedeutet es für uns beide den Tod. Dennoch rühre ich mich nicht von der Stelle. Ich will mich an dieser letzten Seite des Buchs meiner Kindheit festhalten, ein Buch, das sich bald für immer schließen wird. Ich drücke meinen Kopf durch das Loch in der Mauer, die schroffen Kanten kratzen über Wangen und Stirn. Mein Vater versucht mich zurückzuhalten, weil er nicht riskieren möchte, dass ich oder mein ungeborenes Kind sich mit den Krankheiten infizieren, die im Ghetto grassieren. Dennoch strecke ich den Arm aus und ziehe meinen Vater zu mir. Nur mit Mühe kann ich mit den Lippen die papierne Haut seiner Wangen berühren.

“Ich habe dich lieb, Tata.”

“Möge Gott mit dir sein, mein Schatz.”

Für ein paar Sekunden kann ich seine Finger noch festhalten, dann zieht er sich zurück und zwingt sich dazu, sich von mir abzuwenden. Ich sehe ihm nach, wie er sich entfernt, und bin dankbar dafür, dass er als Erster gegangen ist. Ich weiß, ich hätte das nicht gekonnt. Reglos stehe ich da und schaue ihm hinterher, bis er in die Dunkelheit des Ghettos eintaucht und verschwunden ist. Schließlich greife ich ein letztes Mal durch die Öffnung in der Mauer, doch auf der anderen Seite ist nur noch Leere. Dann ertrage ich es nicht länger, wende mich von der Mauer ab und renne davon.